We, Switzerland

Free opinions of free people on topics they care about.

In collaboration with the digital business newspaper punkt4 by Café Europe in Winterthur.

Im Kern der Steuer- und Sozialpolitik steht die Fairness

30.09.2024

Die Ablehnung der BVG-Reform zeigt: Wir müssen über die Zukunft der Sozialwerke und Fairness diskutieren. Heike Scholten und Fabienne Hess plädieren dafür, der Schweizer Bevölkerung genau zuzuhören. Heike Scholten ist Initiatorin der Initiative „Wir, die Wirtschaft“, die sich genau das zum Ziel gesetzt hat.


Fairness: Ein Wert, viele Perspektiven – Fairness ist ein Begriff, der in der steuer- und sozialpolitischen Diskussion immer wieder auftaucht. Doch was gilt als fair? Und wie kann Fairness in einem komplexen Gesellschafts- und Politiksystem wie der Schweiz erreicht werden? Themen wie die demografische Entwicklung, die Einkommensunterschiede oder die Vorsorgemöglichkeiten gehen uns alle persönlich etwas an. Das Nein zur BVG-Reform rückt die Dringlichkeit und Brisanz der Diskussion um die Zukunft der Sozialwerke und die Motive hinter solchen sozialpolitischen Entscheiden in den Fokus.

Mit der Initiative „Wir, die Wirtschaft“ haben wir ein Experiment des Zuhörens gewagt. In 21 Gruppendiskussionen haben 70 die Schweiz repräsentierende Bürgerinnen und Bürger einen Tag lang mit uns über drängende wirtschaftspolitische Themen diskutiert – auch über die Steuer- und Sozialpolitik.

Fairness prägt die Sicht auf die Sozialpolitik

Unsere Analyse der Gespräche, publiziert in der Studie „Sorgengesellschaft Schweiz?“, zeigt auf, was die Bevölkerung bewegt, wenn es um Entscheidungen über Steuern oder die Mechanismen des sozialen Ausgleichs geht. Während das Vertrauen in das Steuersystem solide ist, besteht Skepsis gegenüber einem verlässlichen Sozialsystem. Vor allem der Wert Fairness steht im Zentrum der Einnahmen- und Verteilungsdiskussion – und erscheint als Schlüssel für ein funktionierendes Wirtschafts- und Sozialsystem.

Der Wert der Fairness wird von den Teilnehmenden überwiegend mit Sorge diskutiert, da sie unterschiedlich wahrgenommen wird: „Fair ist nicht gleich fair“. Was als fair oder unfair empfunden wird, variiert je nach Lebenssituation und persönlichem Empfinden. Die Diskussionen zeigen, dass das Steuersystem und die Mechanismen des sozialen Ausgleichs individuell wertgeladene und emotionale Themen sind. Häufig steht die persönliche Perspektive im Vordergrund, erst später die kollektive Sicht auf Chancen oder Risiken.

Diskriminierung als grösstes Problem für den sozialen Ausgleich

Drei Themen dominieren die Wahrnehmung der Mechanismen für den sozialen Ausgleich in der Bevölkerung: Einkommensunterschiede, begrenzte Vorsorgemöglichkeiten und die demografische Entwicklung. Angesichts einer alternden Bevölkerung und steigender Staatsausgaben für andere Politikfelder wie Klimaschutz oder Verteidigung stehen schwierige Umverteilungsfragen auf der Agenda. Die Bürgerinnen und Bürger sind besorgt, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander geht und die Mittelschicht schrumpft. Diese Entwicklungen lösen Zukunftsängste aus und stellen das Vertrauen in die soziale Sicherheit in Frage.

Zudem verstärken diese Themen die Wahrnehmung von Diskriminierung, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit Lohnungleichheit und Zuwanderung. Betroffen seien vor allem ältere Arbeitnehmende, die „Ü50“, die Schwierigkeiten hätten, Arbeit zu finden. Die Unternehmen hätten wenig Anreize, sie zu halten, und der Staat hätte noch keine geeigneten Rahmenbedingungen geschaffen – aus Sicht der Teilnehmenden eine Lose-Lose-Situation. Aber auch junge Menschen seien betroffen: Trotz Ausbildung fänden sie öfter keinen Job und stünden im Wettbewerb mit ausländischen Fachkräften, die zu niedrigeren Löhnen arbeiten. Zudem werde die Berufsausbildung in bestimmten Branchen abgewertet: „Alle wollen studieren, keiner will mehr in Branchen mit niedrigem Lohnniveau arbeiten.“

Arbeitsmarktthemen besorgen – Fairnessempfinden ist entscheidend

Es ist kein Zufall, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt die grössten Sorgen bereitet. Hier verbringen die Menschen viel Zeit, hier geht es um die persönliche Existenz. Dabei geht es den Teilnehmenden nicht nur um die Frage, ob die Löhne fair sind, sondern auch um Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und das daraus resultierende „finanzielle Fiasko“ für Betroffene, den Fachkräftemangel und die schlechten Aussichten für ältere Arbeitnehmende. Die eigene Lebenssituation und das Gefühl, (un)fair behandelt zu werden, stehen im Mittelpunkt. Für die Teilnehmenden ist Arbeit ein Geben und Nehmen, der Arbeitsmarkt sollte fair gestaltet sein.

Die Wahrnehmung des Arbeitsmarkts und die eigene Situation sind die Grundlage für das Vertrauen in die Unternehmen und die Bereitschaft, notwendige Reformen mitzutragen. Wenn Unternehmen und Politik diese Probleme nicht ausreichend angehen, wird es schwierig, Akzeptanz für Massnahmen wie die als notwendig erachtete Erhöhung des Rentenalters zu gewinnen. Denn ohne ein Gefühl von Fairness zu erfahren, besteht die Gefahr, dass die solidarische Haltung gegenüber den Mechanismen des sozialen Ausgleichs sinkt.

Partizipation als Chance für mehr Fairness in den Sozialwerken

Der Hebel zur Sicherung des eigenen Lebensstandards liegt in der Partizipation. Die Teilnehmenden wollen bei den Sozialwerken mitreden, sich mit den Themen auseinandersetzen und durch ihre Stimmabgabe das Sozialsystem mitgestalten. Reformen der AHV werden als „dringend“ und „Kompromisslösungen“ als „notwendig“ erachtet. Um faire Entscheidungen treffen zu können, spielt die Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger eine zentrale Rolle. Die Teilnahme am politischen Diskurs wird als „Bürgerpflicht" verstanden. Partizipation ist eine Errungenschaft, die moderne Staaten wie die Schweiz „auszeichnet“ und die Demokratie stärkt. Sie ermöglicht es ihnen, sich „aktiv für etwas einzusetzen“ oder zu „wehren“, statt sich nur zu „beschweren“.

Fairness in der Steuer- und Sozialpolitik: eine Gratwanderung

Die Daten aus den sieben Gruppendiskussionen zu Wirtschaft und Staat zeigen, dass der Wert der Fairness für die Perspektiven der Menschen auf sozial- und steuerpolitische Themen entscheidend ist. Es ist eine Gratwanderung zwischen individuellem Empfinden und Gemeinwohl. Jeder Mensch bewertet Situationen anders und was als fair oder unfair empfunden wird, variiert stark. Eine faire Steuer- und Sozialpolitik wird daher als grosse Herausforderung gesehen, da sie sozialen Ausgleich schaffen und direktdemokratisch legitimiert sein muss. Die Teilnehmenden sind sich bewusst, dass sich die Gesellschaft verändert und vielfältige Lebensformen das Zusammenleben prägen. Die Sozialwerke sollten sich den Lebensrealitäten anpassen. In der Mitbestimmung sehen sie die Chance, auf faire sozialpolitische Entscheidungen hinzuwirken und den eigenen Status quo halten zu können. Ob diese Entscheidungen dem Gesellschaftsvertrag zuträglich sind, ist eine andere Frage.

Heike Scholten ist Sozial- und Kommunikationswissenschafterin und war von 2001 bis 2010 Kampagnenverantwortliche bei Economiesuisse. Seit 2010 ist die Gründerin von Sensor Advice selbständig tätig. Die Studie „Sorgengesellschaft Schweiz? Perspektiven der Bevölkerung auf Wirtschaftspolitik und Verantwortung“ wurde hauptsächlich von der Gebert Rüf Stiftung finanziert.

Fabienne Hess, Sozial- und Kommunikationswissenschafterin, ist spezialisiert auf Strategie- und Wirkungsanalysen von Kommunikationsmassnahmen. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem Einfluss des gesellschaftlichen Wertewandels auf die strategische Kommunikation von Organisationen. Seit 2022 arbeitet sie als Junior Consultant bei Sensor Advice.

Zur Studie in Kürze: „Sorgengesellschaft Schweiz? Perspektiven der Bevölkerung auf Wirtschaftspolitik und Verantwortung

Die Wirtschaft, so hört man oft, sei für viele ein Feindbild. Unsere Ende Mai 2024 veröffentlichte Auswertung von 21 Bürgerdialogen zeigt, wie die Bevölkerung tatsächlich über die Wirtschaft denkt: Die Menschen sind nicht wirtschaftsfeindlich eingestellt, doch die wirtschaftliche Lage bereitet Sorge. Die Zustimmung zu offenen Märkten ist fragil. In der Steuer- und Sozialpolitik wird Fairness erwartet. Und: Nachhaltiges Wirtschaften gilt als Chance.

Über die Initiative: Wir, die Wirtschaft

Wir haben Wir, die Wirtschaft. initiiert, weil wir der Überzeugung sind, dass die Gesellschaft über die Zukunft der Wirtschaft reden muss. Grosse globale Umwälzungen sind im Gange und fordern uns heraus. Um die Basis für unseren künftigen Wohlstand zu legen, müssen wir unser Wirtschaftsmodell zukunftsfähig machen. Das müssen Wirtschaft, Bevölkerung und Politik gemeinsam schaffen. Daran wollen wir einen Beitrag leisten. Wir arbeiten interdisziplinär, dialogorientiert und hören zu. Das gesprochene Wort ist der Rohstoff für unsere Arbeit. Wir nutzen das Potenzial von Sprache, um Veränderungsprozesse anzustossen und konstruktiv zu gestalten. Möglich machen unsere Arbeit für „Wir, die Wirtschaft.“ unsere Förderpartner - allen voran die Gebert Rüf Stiftung sowie Wirtschaftsverbände und Unternehmen.

Nachricht zur Studie auf punkt4

Erfahrene Fachkräfte treiben den Wandel durch Chat GPT voran

Ulrike Clasen
02.09.2024

Bei der effizienten Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) in Unternehmen könnten erfahrene Fachkräfte eine Schlüsselrolle spielen, sagt Ulrike Clasen. Die Kader-Expertin und Unternehmerin bewertet Fachwissen und Urteilsvermögen als klare Vorteile. Dabei bietet sie nicht nur ein Argumentarium, sondern gibt auch Tipps für die Praxis.


KI-Tools wie ChatGPT bieten enorme Vorteile, wenn sie in den Arbeitsalltag integriert werden. Menschen, die schon lange im Berufsleben sind, haben oft ein tiefes und breites Wissensspektrum sowie reichhaltige Erfahrungen in ihren jeweiligen Fachgebieten. Diese Erfahrung und dieses Wissen ermöglichen es ihnen, effektiv mit KI- und LLM-Systemen wie ChatGPT und Claude2 oder anderen, sehr schnell und erfolgreich umzugehen.

Erfahrene Fachkräfte können präzise Fragen formulieren, die es ChatGPT ermöglichen, spezifische und relevante Antworten zu geben. Komplexe Fragen benötigen oft Kontextinformationen. Indem erfahrene Fachkräfte relevante Details bereitstellen, stellen sie sicher, dass die KI die Anfrage korrekt versteht und entsprechend antwortet.

Mit ihrem ausgeprägten Urteilsvermögen bewerten erfahrene Berufstätige die Antworten von ChatGPT und überprüfen deren Relevanz und Genauigkeit. Dies fördert fundierte Entscheidungsfindungen. Wenn eine Antwort nicht ausreicht, können sie gezielte Folge-Fragen stellen, um tiefere Einblicke und detailliertere Informationen zu erhalten. Erfahrene Fachkräfte sind in der Lage, die Antworten der KI effektiv in ihre Arbeitsprozesse zu integrieren.

Konstruktives Feedback zu den erhaltenen Antworten hilft, die Interaktionen mit der KI kontinuierlich zu verbessern und deren Genauigkeit zu erhöhen. Durch das Einbringen ihrer Fachkenntnisse können erfahrene Fachkräfte die Qualität der Interaktion mit der KI weiter steigern und die Ergebnisse verfeinern. Sie sind sich der Bedeutung von Datenschutz und ethischen Überlegungen bewusst und sorgen dafür, dass sensible Informationen verantwortungsvoll gehandhabt werden.

Die Kombination dieser Fähigkeiten und Strategien führt zu einer effektiveren Nutzung von ChatGPT und bietet Unternehmen zahlreiche Vorteile. Durch die Kombination von menschlichem Fachwissen und KI können Aufgaben schneller und präziser erledigt werden. Effizienz und Produktivität werden gesteigert. ChatGPT dient als wertvolles Werkzeug bei der Entscheidungsfindung, indem es schnell auf eine Vielzahl von Informationen zugreift und diese bereitstellt.

Die Nutzung von KI ermöglicht es erfahrenen Fachkräften, sich auf kreative und strategische Aufgaben zu konzentrieren, was die Innovationskraft des Unternehmens steigern kann. Die Interaktion mit KI-Systemen fördert kontinuierliches Lernen und die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden. Sie bleiben auf dem neuesten Stand technologischer Entwicklungen und erweitern ihr Wissen stetig.

Die unverzichtbare Rolle erfahrener Fachkräfte in der Nutzung von ChatGPT

Erfahrene Fachkräfte bringen ein tiefes Verständnis für ihren Fachbereich sowie umfangreiche Berufserfahrung mit, was sie zu idealen Nutzerinnen und Nutzern von KI-Tools wie ChatGPT macht. Ihre Fähigkeit, präzise und kontextreiche Fragen zu stellen, ermöglicht es der KI, spezifische und relevante Antworten zu liefern.

Die Anwendungsmöglichkeiten für ChatGPT in den Händen erfahrener Fachkräfte sind vielfältig und umfassen komplexe Datenanalysen, verbessertes Wissensmanagement, optimiertes Projektmanagement, automatisierten Kundensupport und die Erstellung von Berichten und Präsentationen. Darüber hinaus können sie Innovationsprozesse fördern, Marktforschung durchführen, Schulungsprogramme entwickeln, Compliance und Risikomanagement unterstützen sowie strategische Planungen vorantreiben.

Weitere entscheidende Einsatzgebiete umfassen das Personalmanagement, Finanzanalyse und Budgetierung, Lieferkettenmanagement, Marketingstrategien, Produktentwicklung, Qualitätsmanagement, Rechtsberatung, Wissensvermittlung und Umfragen.

Besonders hervorzuheben ist die Rolle von ChatGPT im Krisenmanagement und in der Notfallplanung, wo die KI hilft, schnell auf unerwartete Ereignisse zu reagieren und effektive Massnahmen zu entwickeln.

Erfahrene Fachkräfte können oft die besseren Prompts für ChatGPT schreiben

Tiefes Fachwissen und Kontextverständnis ermöglicht, spezifische und kontextreiche Fragen zu stellen, die die KI präzise beantworten kann. Die Kunst ist, klare Fragen zu stellen, die weniger Raum für Missverständnisse lassen und so relevantere Antworten zulassen.

Erfahrung im Problemlösen befähigt, komplexe Probleme in handhabbare Teile zu zerlegen und gezielte Fragen zu formulieren. Das Verständnis von Fachjargon und spezifischen Begriffen hilft ihnen, die Genauigkeit der Antworten von ChatGPT zu erhöhen.

Erfahrene Fachkräfte können die erhaltenen Antworten besser verifizieren und validieren, indem sie ihre Fragen präzise stellen, um die Richtigkeit und Relevanz der Antworten zu überprüfen. Ihre Anpassungsfähigkeit erlaubt es ihnen, ihre Prompts an verschiedene Szenarien und Anforderungen anzupassen, was zu präziseren Antworten führt.

Durch das Nutzen von Feedback zur Verbesserung kann die Qualität der Prompts kontinuierlich verbessert werden. Strategisches Denken ermöglicht es, Prompts zu formulieren, die nicht nur kurzfristige Antworten liefern, sondern auch langfristige strategische Erkenntnisse fördern.

Ein starkes Verständnis von Ethik und Datenschutz erlaubt es, sensibel mit vertraulichen Informationen umzugehen. Interdisziplinäres Wissen und Vernetzung erlaubt es, Prompts zu erstellen, die verschiedene Aspekte eines Problems berücksichtigen und so umfassendere Antworten von der KI zu erhalten. All diese Fähigkeiten machen erfahrene Fachkräfte zu besonders effektiven Nutzerinnen und Nutzern von ChatGPT.

Das beschriebene Erfahrungswissen setzen erfahrene Fachkräfte in der Nutzung von KI, zum Beispiel im Prompt Engineering ein. Prompts zu formulieren ist eine zunehmend wichtige Fähigkeit, die für eine effektive Konversation mit grossen Sprachmodellen (LLMs) wie ChatGPT erforderlich ist.

Studie zeigt: Studierende scheitern am KI-Prompt-Design

Die Studie von Zamfirescu-Pereira et al. deckt überraschende Schwächen selbst bei „Digital Natives“ auf. Entgegen gängiger Erwartungen kämpfen junge, technikaffine Menschen mit den Feinheiten der KI-Kommunikation.

Forschende der University of California, Berkeley, beobachteten zehn Teilnehmende ohne KI-Erfahrung bei der Interaktion mit einem Chatbot für Kochrezepte. Die Ergebnisse sind für Lehrende relevant und werfen wichtige Fragen auf.

Haupterkenntnisse der Studie:

  • Mangelnde Systematik:Die Teilnehmenden arbeiteten oft unstrukturiert und ohne klare Methode.
  • Vorschnelle Verallgemeinerungen:Einzelbeobachtungen wurden häufig zu unbegründeten allgemeinen Schlussfolgerungen gemacht.
  • Fehlannahmen in der Kommunikation:Die Interaktion mit der KI wurde fälschlicherweise wie eine zwischenmenschliche Kommunikation behandelt.
  • Resistenz gegen effektive Methoden:Selbst nach Hinweisen wurden bewährte Strategien nicht angewendet.

Daraus folgen einige Implikationen für die Lehre:

  • Strukturierte Ansätze für das Evaluierung von KI-Outputs, die das systematische Testen und Denken verstärken, sollten vermittelt werden, anstatt sich auf einzelne Erfolge oder Misserfolge zu verlassen.
  • Studierende sollten ermutigt werden, mutig mit verschiedenen Prompt-Stilen zu experimentieren und zu erkennen, dass prägnante Formulierungen oft effektiver sind.
  • Ein solides Verständnis von KI-Grundlagen, den Large Language Models (LLMs) und den Unterschieden zwischen Prompting und menschlicher Interaktion sollte unbedingt vermittelt werden.
  • Die Fähigkeit, vorsichtig mit Verallgemeinerungen umzugehen und KI-Outputs kritisch zu hinterfragen, sollte gestärkt werden. Kritisches Denken ist gefragt.

Erfahrene Fachkräfte sind weniger anfällig für die beschriebenen Fallen. Sie haben eher schon systematische Arbeitsweisen und bewährte Methoden verinnerlicht. Ihre Erfahrungen helfen, unstrukturierte Ansätze und vorschnelle Verallgemeinerungen zu vermeiden. Sie anerkennen eher die Unterschiede zwischen menschlicher und KI-Interaktion und können entsprechende Kommunikationsstrategien anwenden. Wir finden bei erfahrenen Mitarbeitenden eine Offenheit gegenüber bewährten Praktiken. Das ermöglicht es, Hinweise und Feedback schneller und effektiv umzusetzen.

Hier geht es zur Studie.

Motivation und Schulung: Strategien zur Maximierung des Potenzials von ChatGPT

Um die volle Potenzialentfaltung sicherzustellen, sollten Unternehmen umfassende Schulungsprogramme bereitstellen, den Nutzen der Technologie kommunizieren, technische Unterstützung bieten und eine offene Kommunikationskultur fördern. Führungskräfte dürfen als Vorbilder agieren und die strategische Bedeutung von KI für das Unternehmen betonen.

Dies ermöglicht es, die Effizienz und Innovationskraft zu steigern, fundierte Entscheidungen zu treffen und die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Erfahrene Fachkräfte können so optimal eingebunden werden, um die Vorteile dieser fortschrittlichen Technologie voll auszuschöpfen.

Wissen über KI schafft Vorteile

Viele unserer Klientinnen und Klienten des Netzwerks Kadertraining, die wir in ihren beruflichen Fragen in Laufbahn, Karriere und Führungsarbeit begleiten, haben sich durch das Wissen über KI einen grossen Vorteil verschafft. Wir stellen fest, dass viele ältere und erfahrene Mitarbeitende ein grosses Interesse daran haben, mit Künstlicher Intelligenz (KI) und ChatGPT zu arbeiten. Oft sind es jedoch nicht die Unternehmen selbst, die intern diese Möglichkeiten anbieten.

Wir fordern alle und gerade die erfahrene Fachkräfte dazu auf, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wer die ersten Schritte gemacht hat und gelernt hat, ChatGPT wie einen gut ausgebildeten und hilfsbereiten Kollegen zu nutzen, ist bereit und motiviert weiter zu gehen. Wie geht man mit einem guten Kollegen um, mit dem man zusammenarbeitet? Man gibt viele Informationen, regelmässig Feedback, dankt und bleibt im Gespräch.

Effektiv mit ChatGPT zusammenarbeiten, wie mit guten Kollegen

1. Präzise Fragen stellen

  • Klare Fragen: Je genauer Deine Frage, desto besser die Antwort.
  • Kontext geben: Erkläre den Hintergrund, wenn nötig.

2. Folge-Fragen stellen

  • Vertiefe das Thema: Frag weiter, wenn Du mehr Details brauchst.
  • Klarstellen: Bitte um Klarstellung, wenn etwas unklar ist.

3. Teile Dein Ziel mit

  • Erkläre Dein Ziel: Beschreiben, was Du erreichen möchtest.
  • Beschreibe den Zweck: Ob Entscheidungshilfe, Problemlösung oder Lernen – lass es ChatGPT wissen.

4. Gib Feedback

  • Positives Feedback: Informiere, wenn eine Antwort hilfreich war.
  • Konstruktives Feedback: Sag es, wenn etwas nicht hilfreich war, damit es verbessert werden kann.

5. Bleib geduldig und höflich

  • Geduld: Manchmal braucht es ein paar Versuche, um die richtige Antwort zu finden.
  • Freundlichkeit: Ein höflicher Umgang erleichtert die Kommunikation.

6. Nutzen aller Fähigkeiten

  • Vielseitige Fragen: Stelle Fragen zu verschiedenen Themen, von Technik bis Kreatives.
  • Werkzeuge nutzen: Die KI kann Diagramme erstellen, Daten analysieren und mehr. Nutze das.

7. Bleib offen für neue Ideen

  • Neue Ansätze: Sei bereit, verschiedene Perspektiven und kreative Lösungen zu erkunden.
  • Experimentiere: Probiere verschiedene Fragestellungen aus, um die besten Ergebnisse zu erzielen.

Wir glauben, dass gerade erfahrene und langjährige Mitarbeitende KI besonders effektiv nutzen können und so einen erheblichen Nutzen in der gesamten Organisation generieren.

Das Zusammenspiel von Technologie, Psychologie und Sprache ist faszinierend. Diese Kombination macht es möglich, dass ChatGPT effektive und gute Ergebnisse schaffen kann. ChatGPT ist in der Lage, menschliche Sprache zu verstehen und zu erzeugen. Die Technologie liefert die Rechenpower und Algorithmen, die Psychologie bringt das Verständnis für menschliche Kommunikation mit ein und die Sprachverarbeitung sorgt dafür, dass die Antworten meist sinnvoll sind. Dennoch bleibt die menschliche Urteilskraft die letzte und wichtige Prüfinstanz.

Wir wollen Mut machen, das Neue auszuprobieren, um sich so den strategischen Vorteil des Umganges mit der neue Technologie zu verschaffen.

Ulrike Clasenist Gründerin und Inhaberin von Netzwerk Kadertraining und Vorstandsmitglied bei Work Life Aargau (Public-Private-Partnership zur Wirtschafts- und Standortförderung) und Präsidentin der Vereinigung Christlicher Unternehmerinnen und Unternehmer der Schweiz.

Dieser Text ist zuerst erschienen als Beitrag im Blogvon Netzwerk Kadertraining.

Es braucht eine Kommunikations-Infrastruktur für die Schweizer Wirtschaft

Christian Häuselmann
17.06.2024

Erfolgreiche KMU kommen in den Schweizer Medien kaum noch vor, schreibt Christian Häuselmann. Das schadet der Wirtschaft ebenso wie der Gesellschaft. Es braucht eine neue Infrastruktur für die Kommunikation der Schweizer Wirtschaft.


Firmen und Haushalte sind auf eine stabile Grundversorgung angewiesen. Bei Ausfall von Strom, Wasser oder dem Telekomnetz wird sofort reagiert - weil nicht mehr produziert, gekocht, im Internet gesurft oder telefoniert werden kann. Betroffene melden sich bei der Gemeinde, beim Stromanbieter, Spezialistenteams rücken notfallmässig aus. Auch unterbrochene Bahngeleise und Strassenachsen werden innert Tagen bis Monaten repariert. Beim schweren Güterzugunfall im Gotthardtunnel dauert es etwas länger. Aber schnell war klar: “Wir investieren in die Wiederherstellung”.

Die Grundversorgung im Post- und Gesundheitswesen oder bei der SRG wird bereits kontroverser diskutiert. Gerade in finanziell herausfordernden Zeiten entstehen stark politisch geprägte Debatten. Entscheidungen und damit die Reparatur und Pflege dieser Systeme werden hinausgezögert.

Es erstaunt, dass die Grundversorgung der Schweizer Wirtschaft und Bevölkerung mit Nachrichten zu den Erfolgen von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in den letzten zwanzig Jahren richtiggehend weggebrochen ist – aber bisher nicht als Ausfall oder gar Katastrophe wahrgenommen wird.

Zwei Risiken sind heute klar erkennbar:

1. Das Grundrauschen und die Feinverteilung von Nachrichten zu den Erfolgen von KMU fehlen.

2. Die nachrichtliche Vernetzung zwischen der KMU-Welt und der Innovations-Welt fehlt.

Das Wort Katastrophe ist daher zwar hart, aber zutreffend. Diese Katastrophe kam nicht mit einem grossen Knall – ohne überschwemmte Strasse, ohne brennenden Strommast. Sie kündigte sich schleichend an: hier eine kleine Mitteilung zum Abbau der Qualität im Journalismus, da zu einer Fusion bei Medientiteln, dort zu einer weiteren Sparrunde. Die grossen Schweizer Medienhäuser stört dies nicht: Ihre Transformation in die digitalen Monopolmodelle kommt gut voran, die Aktionäre sind zufrieden.

Direktes Resultat aus diesem Abbau- und Umbauprozess ist, dass wir heute bei gefühlten 99% der Nachrichten zur Wirtschaft nur noch von Grossfirmen lesen. Dauerschlagzeilen betreffen abgehobene Löhne und Boni, unverständliche Rettungsschirme und Milliardenpakete, steile Aktienkurse und stolze Reichen-Ranglisten. Das prägt unser Bild der Wirtschaft.

Zu den eindrücklichen Leistungen und Erfolgen der KMU – dem Rückgrat der Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft – lesen wir bei den grossen Medienhäusern fast nichts mehr. Das ist eine Katastrophe mit Ansage. Warum? Weil in der heutigen Digitalwelt eine einfache Regel gilt: wer nicht sichtbar ist, ist nicht relevant.

Und weil damit 99% der Firmen in der Schweiz – das sind 600’000 Firmen mit 3 Millionen Mitarbeitenden – in der Medienwelt praktisch nicht mehr sichtbar sind. Auch die über 100’000 KMU, welche in den kommenden fünf Jahren einen Nachfolgeprozess zu lösen haben, sind nicht sichtbar.

Wie bei Bahnen, Strassen, Wasser und Strom ist deshalb eine Infrastruktur aufzubauen zur KMU-Kommunikation – privatwirtschaftlich, mit glaubwürdigen journalistischen Nachrichten, transparenten Quellen, dezentraler Feinverteilung und vernetzt in weltweiten Zielmärkten.

Persönlich bin ich überzeugt: Diese nachrichtliche Grundversorgung wird zum neuen Erfolgsfaktor für den stabilen, nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensstandort Schweiz.

Christian Häuselmann ist passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elekrobike (1993), Wirtschaftsverband swisscleantech (2007), der Nachrichtenagentur CaféEurope, die auch die Nachrichtenplattform punkt4.info herausgibt, und SHIFT Switzerland / Kreislaufwirtschaft (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative www.2291.ch lanciert, inspiriert vom Denken für 7 Generationen. #trylongterm

Das Paula-Prinzip aushebeln!

Judith Niederberger
04.06.2024

Es ist systematisch. Frauen stossen in der Forschung und Wirtschaft auf unsichtbare Hürden. Deren Prinzipien sind aber schon seit vielen Jahren erforscht. Das zeigt Kommunikationsexpertin Judith Niederberger auf und macht gleichzeitig Vorschläge, was es braucht, um diese Hürden zu überwinden.


„Vorläufig hübsch und wahrscheinlich auch begabt“ – so vermerkte eine eher höhnisch-beleidigende als wohlwollende Rezension 1931 über die schauspielerische Leistung Hedy Lamarrs (1914 – 2000). Neben ihrer bemerkenswerten Hollywood-Karriere war sie blitzgescheit, technisch begabt und innovationsgetrieben. Gemeinsam mit George Antheil erfand sie das Frequenzsprungverfahren – eine Technologie, ohne die es WLAN, GPS und Bluetooth so nicht gäbe. 2014, viele Jahre nach ihrem Tod, wurde sie in die National Inventors Hall of Fame aufgenommen. Zu Lebzeiten hatte sie keinen Cent an ihrer bahnbrechenden Erfindung verdient. Immerhin verlieh man ihr als 83-jähriger Frau den EFF Pioneer Award.

Matilda, Matthäus, Peter und Paula – ein verhängnisvolles Quartett

Hedy Lamarr ist ein Paradebeispiel für den Matilda-Effekt,benannt nach der Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage. Er beschreibt, wie die wissenschaftlichen Leistungen von Frauen systematisch übersehen, gegenüber jenen der Männer weniger anerkannt oder gar den männlichen Kollegen zugeschrieben werden. Diese systematische Ignoranz führt dazu, dass Frauen weniger Forschungsgelder erhalten, seltener Preise gewinnen und in der Wissenschaft weniger in führenden Positionen vertreten sind.

Paradoxerweise gibt es dazu den Matthäus-Effekt. Herkommend aus dem Matthäusevangelium: „Wer hat, dem wird gegeben“, beschreibt der Effekt, wie Erfolg und Anerkennung oft jenen zufallen, die bereits erfolgreich sind. In der Wissenschaft bedeutet dies, dass prominente – und eben: männliche (siehe Matilda-Effekt) – Forscher unverhältnismässig mehr Anerkennung und Ressourcen erhalten, unabhängig von der Qualität ihrer aktuellen Arbeit.

Diese Ungleichheiten sind nicht nur auf die Wissenschaft beschränkt. In der Wirtschafts- und Führungswelt treffen wir auf das Peter- und das Paula-Prinzip. Das Peter-Prinzip, benannt nach dem Pädagogen Laurence J. Peter, besagt, dass in einer Hierarchie Beschäftigte dazu neigen, bis zu ihrer Inkompetenz aufzusteigen. Gekoppelt mit der nachweislichen Zurückhaltung von Frauen, sich für die eigene Beförderung aktiv bemerkbar zu machen und ihre Kompetenzen selbstbewusst zu vertreten, werden insbesondere Männer so lange befördert, bis sie eine Position erreichen, in der sie überfordert sind.

Während gemäss dem Peter-Prinzip Männer befördert werden, weil man „glaubt“, dass sie auf der nächst höheren Führungsebene erfolgreich sein würden, beschreibt das Paula-Prinzip die Tendenz, dass Frauen nicht befördert werden, weil sie in der gegenwärtigen Position ihre Kompetenz vermeintlich noch nicht genügend bewiesen haben. Frauen bleiben damit auf ihrem Karriereweg auf einem Level stecken, noch lange bevor sie auch nur in die Nähe der gläsernen Decke kommen. Frauen nehmen dadurch öfters Positionen ein, die unter ihren Fähigkeiten und ihrem Wert sind und für die sie entsprechend weniger gut entlohnt werden.

Abbau von Bias dient der Wirtschaftlichkeit

Beide Prinzipien sind nicht nur ein Problem der Ungleichstellung der Geschlechter in der Arbeitswelt, sondern gleichzeitig ein wirtschaftliches Problem. Es führt zu Ineffizienz und Leistungsabfall in den Firmen und zu wirtschaftlichem Verlust.

Die genannten Effekte und Prinzipien sind nicht neu. Wissenschaftlich aufgearbeitet wurden sie 1968/69 (Matthäus-Effekt/Peter-Prinzip) und 1993/94 (Matilda-Effekt/Paula-Prinzip). Doch sind wir uns dieser Bias und Mechanismen im Schweizer Wirtschafts- und Wissenschaftsalltag bewusst? Tun wir genug, um die wirklich fähigen Personen für eine verantwortungsvolle Position zu bestimmen?

Ein Blick in die Wirtschaftswelt der letzten 10 bis 15 Jahre drängt die Antwort auf: „Nein.“ Zu zahlreich sind die negativen Schlagzeilen rund um männergemachte Misswirtschaft, finanzielle Zusammenbrüche, Kostenüberschreitungen, mangelndes Risikomanagement, strategische Fehlentscheide – ganz zu schweigen von den persönlichen Tragödien, wenn ranghohe Manager wegen Überforderung freiwillig aus dem Leben scheiden.

Jeder und jede kann zur Optimierung beitragen

Sowohl Managementpersonal wie Mitarbeitende sind daher aufgerufen,

  • Gender-Bias als existente Problematik immer wieder zu thematisieren und auszuhebeln,
  • transparente Bewertungs- und Beförderungssysteme mit objektiven Kriterien zu unterhalten
  • den Fokus auf tatsächliche Fähigkeiten und Leistungen auszurichten und nicht auf bisherige Positionen oder frühere Leistungen
  • Mentorship-Programme anzubieten respektive zu besuchen, um die individuell stimmige berufliche Entwicklung zu unterstützen,
  • Diversität in Teams, Projektgruppen und Entscheidungsgremien anzustreben,
  • eine angstfreie und auf Wertschätzung basierende konstruktive Feedbackkultur zu pflegen,
  • flexible Arbeitsmodelle und Unterstützungsstrukturen zu schaffen, um Karriere und Privatleben zu vereinbaren,
  • Downshifting als sinnvolle berufliche Weiterentwicklung anzuerkennen – für sich und/oder andere, und für mehr Lebensqualität.

Die heutigen Hedy Lamarrs müssen für ihre Fähigkeiten und Beiträge adäquat entlohnt, korrekt und wertschätzend beurteilt, zeitnah für herausragende Leistungen mit Preisen honoriert und als Wertschöpferinnen für unsere Wirtschafts- und Kulturwelt anerkannt werden.

Zweimal herzliche Gratulation

Das gelingt nicht immer. Doch hoffentlich immer öfter. Und wo es erfreulicherweise zur Beförderung einer kompetenten und handlungsstarken Frau kommt, soll das auch positiv vermerkt werden:

Ich gratuliere Susanne Wille herzlich für ihre Wahl zur SRG Generaldirektorin.

Ebenso herzlich gratuliere ich dem SRG Verwaltungsrat zu seiner hervorragend getroffenen Wahl – gut gemacht: Paula-Prinzip ausgehebelt!

Judith Niederbergerist Inhaberin der Kommunikations- und Kreativagentur Lakritza GmbH, Geschäftsleiterin derSchweizerischen Public Affairs Gesellschaft (SPAG), Vize-Präsidentin desVerbands Frauenunternehmen (VFU)sowie Initiatorin und Moderatorin des interaktiven Kulturprojekts1-Satz-Literaturclub.

Unternehmen profitieren von Diversität

Nicole Herzog
06.05.2024

Ihr Erfolg als Tech-Unternehmerin und Business Angel zeigt, dass das Geschlecht nicht entscheidend ist. Oder doch? Nicole Herzog ist eine Verfechterin von Diversität in Unternehmen. Gerade hat sie als Verwaltungsratspräsidentin der Zürcher Softwarefirma Sherpany deren vielbeachteten Exit begleitet.


Es macht unternehmerisch Sinn. Dieses Argument allein sollte in der Debatte um Frauen und Diversität in Unternehmen überzeugen. Nicht nur sind gemischte Teams nachweislich erfolgreicher. Je nach Branche ist auch die Kundschaft zu einem hohen Anteil divers und der Kaufentscheid wird oftmals zu mehr als 50 Prozent von Frauen getroffen. Welches Unternehmen würde in den asiatischen Markt einsteigen, ohne Experten beizuziehen? Keines. So sollten Unternehmen auch Diversität wie selbstverständlich bei der Rekrutierung von Fach- und Führungskräften berücksichtigen. Ich wünsche mir mehr Sachverstand in Diversitätsfragen – und insbesondere auch mehr Leichtigkeit.

Wird der Mehrwert gesehen, braucht es keine Quote.

Letztlich ist mehr Diversität primär eine Frage des Wollens. Wer den Mehrwert sieht, braucht keine Quote. Und vielleicht wirkt es so, als sei das Angebot etwa an geeigneten Frauen für einen Verwaltungsrat sehr klein. Doch effektiv sind mehr Frauen für Führungspositionen geeignet, als Frauen es sich selbst offiziell zuschreiben. Sie bringen sich nur seltener selbst hierfür ins Spiel. An diesem Punkt müssen sich Frauen an die eigene Nase packen: Manchmal geht es darum, die Dosis an Selbstkritik ein wenig runter- und die Dosis an Selbst- sowie Fremdvertrauen etwas hochzufahren.

Zugegeben – und das weiss ich aus eigener Erfahrung: Es ist nicht immer angenehm, die einzige Frau zu sein in einem teilweise sehr kompetitiven Umfeld. Das Rampenlicht und die damit einhergehende Kritik können unangenehm sein. Und gerade bei VR-Position ist oft der Fall, dass das entsprechende Unternehmen nicht im ureigenen wirtschaftlichen Fachgebiet tätig ist, was die eigene Unsicherheit noch verstärken kann. Dennoch und gerade deshalb kann eine Frau eine gute Verwaltungsrätin oder Verwaltungsratspräsidentin sein. In funktionierenden Boards werden Entscheidungen im Dialog getroffen, externe wie interne Fachmeinungen berücksichtigt und Egos bestenfalls vor der Tür gelassen.

Die Schweiz bietet einen grossen Pool von qualifizierten Frauen.

Bis zum Ende meiner Ausbildung hatte ich das Privileg, mit dem Selbstverständnis durch das Leben gehen zu können, dass mein Geschlecht keinen Unterschied macht. Erst als Gründerin habe ich gemerkt, dass die Wirtschaft anders tickt, aber mein Selbstverständnis nicht verloren. Das ist der Grund, weshalb ich mich heute für das Thema in meinem Netzwerk und auch sonst öffentlich engagiere, obwohl ich mich damit weit ausserhalb meiner Komfortzone bewege. Wir brauchen unbedingt mehr sichtbare Frauen.

Mittel- bis langfristig muss die Politik bei der Infrastruktur ansetzen. Themen wie bezahlbare Kindertagesbetreuung sind wichtig, sie schaffen Optionen; ein Blick in Nachbarländer wie Frankreich zeigt Wege auf. Doch meine Botschaft ist klar: Diversität macht unternehmerisch Sinn und qualifizierte Frauen gibt es in der Schweiz schon heute viele.

Nicole Herzog ist Tech-Entrepreneurin, Business-Angel und Verwaltungsrätin. Nach dem Studium gründete sie mit Partnern das später erfolgreich an Haufe verkaufte IT-Unternehmen umantis (heute Abacus Umantis), zudem ist sie Mitgründerin und Partnerin des Risikokapitalunternehmens B2Venture. Sie ist Verwaltungsrätin etwa von Firmen wie der Maestrani Schweizer Schokoladen AG und VIU Eyewear. Bis zu diesem Frühjahr war sie Verwaltungsratspräsidentin des Software-Unternehmens Sherpany, das im Februar von Datasite aus den USA erworben wurde. Seit 2020 ist sie Vorstandsmitglied des Swiss Venture Clubs und seit 2022 Teil des Innovationsrats von Innosuisse.

Geheimnisse über Frauen

Riccarda Mecklenburg
02.05.2024

Warum Frauen in fortschrittlichen Unternehmen nicht erfolgreich sind, liegt zuweilen an Frauen selbst, sagt Riccarda Mecklenburg. Die Präsidentin des Verbands Frauenunternehmen (VFU) stellt die These auf, dass Frauen vor Frauengruppen mehr Angst haben als vor Männern. Und sie zeigt auf, was bei einem Bienenköniginnensyndrom helfen kann.


Sie hat gekündigt. Schon wieder hat eine vielversprechende junge Frau ihre Stelle gekündigt. Und die Vorgesetzten verstehen die Welt nicht mehr. Es gibt Kitaplätze und diese sogar fast gratis. Die Mitarbeitenden dürfen Homeoffice machen. Vaterurlaub ist erwünscht. Teilzeit selbstverständlich. Coaching-Stunden inbegriffen. Diversität nicht nur auf dem Papier, sondern auch umgesetzt. Es hat also auf allen Stufen Kolleginnen. Lohngleichheit eingehalten. Sexismus? Fehl am Platz. Und doch kündigt wieder eine Kaderfrau.

Was ist da los? Vielleicht lächelt jetzt die eine oder andere Leserin über diese geschilderte Situation. Und vermutet wahrscheinlich schon die Lösung. Über was ich schreibe, ist keine Fiktion, sondern bitterer Alltag, den sehr viele Frauen sofort bestätigen. Es ist das Gegenteil von Sisterhood, Frauensolidarität und Emanzipation. Es ist die Super-Intrige. Die Gemeinheiten, die sich Frauen über Frauen ausdenken, herumerzählen, behaupten, lügen. Aus Neid, Eifersucht und zum Teil aus reiner Boshaftigkeit. Das Resultat ist fast immer das gleiche. Das Opfer geht. Still, manchmal gebrochen, manchmal ernsthaft krank. Die Intrigantin bleibt und triumphiert. Häufig bleibt sie unentdeckt, agiert unter dem Radar der Vorgesetzten. Manchmal sogar unter dem Schutz eines noch grösseren Intriganten.

Warum machen das Frauen? Warum helfen sie sich nicht gegenseitig? So wie das Männer machen: Du machst mir hier einen Gefallen, ich öffne dir im Gegenzug eine Türe.

Frauen kommen nicht auf die Idee, dass es nur ein Spiel ist.

Eine Theorie ist, dass Jungs ziemlich schnell kapieren, dass man elf Spieler braucht, um ein Fussballmatch auszutragen. Das funktioniert bei Frauen selten. Wenn es nicht die besten Freundinnen aller Freundinnen sind, und ich rede wirklich von den besten, allerliebsten, vertrautesten und langjährigsten, kommen die gar nicht in Frage. So – und welche Frau hat zehn Freundinnen, die diesen genannten Kriterien entsprechen? Fast keine. Frauen kommen nicht auf die Idee, dass es nur ein Spiel ist, dass man nach dem Bier etwas rumblödelt und dann jeder seines Weges geht.

Eher grenzt man eine Frau aus, weil sie einem nicht gefällt, nicht die richtigen Klamotten anhat, einem nicht geschmeichelt hat, oder sonst eine – für Männer (und ich schreibe explizit Männer) nicht erkennbare – harmlose Attitüde drauf hat. Frauen werden von anderen Frauen weggeekelt, weil sie zu erfolgreich, zu attraktiv, zu intelligent, zu sympathisch sind. Frauen haben vor Frauengruppen mehr Angst als vor Männern.

Suchen Sie die Bienenköniginnen und zeigen Sie Grenzen auf.

Wir könnten noch ein paar weitere Theorien erörtern, aber das würde den Rahmen sprengen. Viel wichtiger ist es, was insbesondere Führungspersonen unternehmen können, um solche toxischen Situationen zu verhindern.

  1. Bienenköniginnensyndrom: So nennt man Frauen, die explizit keine Frauen neben sich dulden, weiblichen Nachwuchs verhindern und hyperkritisch gegenüber Frauen sind. Sie wollen keine möglichen Konkurrentinnen neben sich. Suchen Sie nach Bienenköniginnen im Unternehmen. Fordern Sie das Gespräch ein, setzen Sie Grenzen, exekutieren Sie, wenn es so bleibt. Falls Sie das als zu brutal empfinden: Denken Sie daran, Sie haben es mit einer Königin zu tun und Sie beide spielen Schach.
  2. Wenn die eingangs geschilderte Situation eintritt: Beobachten Sie, wer sich am meisten freut und profitiert. Greifen Sie durch, wie unter erstens. Ansonsten geht es weiter und Sie können die ganze Arbeit und Bemühungen für Diversität und Frauenförderung kippen.
  3. Wenn es der x-te Abgang einer Frau ist: Suchen Sie den Kontakt zu der ehemaligen Mitarbeiterin und fragen Sie nach den wirklichen Gründen. Vielleicht erzählt sie es Ihnen.
  4. Fördern Sie weiter Frauen. Es gibt viele Frauen, die das Prinzip eines erfolgreichen Mannschaftssports schätzen und ihr Bestes geben.

Riccarda Mecklenburg ist Präsidentin des Verbands Frauenunternehmen (VFU) und Gründerin des Unternehmens CrowdConsul.ch, das Projekte im Crowdfunding und Crowdinvesting unterstützt. Zudem coacht sie Start-ups für die strategische Firmenentwicklung und ersten Finanzierungen.

Die Zukunft ist lokal: KMUs als Pioniere globaler Lösungen

René Ziswiler
24.04.2024

Vernetzte Lösungen sind der nächste Exportschlager der Schweiz, schreibt René Ziswiler. Diese Lösungen entstehen im starken Schweizer Ökosystem von KMUs, die miteinander und mit Start-ups und Wissenschaftlern zusammenarbeiten, um lokale und globale Märkte zum Besseren zu verändern.


Erscheinen Ihnen die Lösungen zu globalen Krisen wie Klimawandel oder sozialer Ungleichheit auch so fern und abstrakt? Gibt es angesichts der verbreiteten Ohnmachtsgefühle keine handfesten Alternativen? Die Antwort liegt näher, als wir denken: Sie beginnt lokal, mit unseren kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs).

Es ist an der Zeit, eine verbreitete Fehlannahme zu korrigieren: Grosskonzerne sind nicht die einzigen Träger von Innovation und nachhaltiger Entwicklung. Im Gegenteil, unsere lokalen KMUs sind oft die wahren Helden im Hintergrund, die mit ihren eng verknüpften lokalen Gemeinschaften und ihrer tiefen Marktkenntnis unentdeckte Möglichkeiten zur Lösung globaler Probleme bieten.

Die grosse Überraschung? Lokale Lösungen sind nicht nur effektiv, sondern können auch unabhängig von politischen Prozessen entwickelt werden. Dies widerlegt die zweite verbreitete Fehlannahme, dass allein die Politik die Mittel und Wege besitzt, um globale Herausforderungen zu meistern. KMUs beweisen, dass sie in der Lage sind, auf lokale Bedürfnisse zugeschnittene Lösungen zu entwickeln, die dann als Blaupause für andere Regionen und Märkte dienen können. Diese Fähigkeit macht sie zu einem unerschlossenen Potenzial für den Export innovativer, vernetzter Lösungen.

„Vernetzte Lösungen sind der nächste Exportschlager der Schweiz.“ Warum? Weil sie das Ergebnis echter Bedürfnisse und realer Herausforderungen sind. Sie entstehen in der lebendigen Dynamik von KMUs, die mit Start-ups und Wissenschaftlern zusammenarbeiten, um lokale und globale Märkte zum Besseren zu verändern.

Es ist höchste Zeit, dass diese Erkenntnisse ins Bewusstsein der Menschen dringen. Die Zukunft ist lokal, und die Agenten dieser Zukunft sind unsere KMUs. Lasst uns diesen Paradigmenwechsel anerkennen und fördern.

René Ziswiler ist Initiant und Präsident von Zukunftsgemeinde. Der 2022 gegründete Verein mit Sitz in Buttisholz LU steht für das Zusammenwirken von Menschen, Ideen und Bestrebungen, um eine nachhaltige und resiliente Zukunft zu gestalten. Er versteht Gemeinde nicht nur als politische Einheit, sondern auch als lebendige Gemeinschaft aus Individuen, Organisationen und Sektoren, die alle eine entscheidende Rolle im Prozess der nachhaltigen Entwicklung spielen.

Warum Frauen (so) nicht führen wollen

Diana Wick
27.03.2024

„Mehr Frauen ins Management“, setzen sich Unternehmen selbst zum Ziel. Trotzdem geht es nur langsam voran. Woran liegt’s? Die Unternehmerin und Tadah-Gründerin Diana Wick geht in ihrem Beitrag weiter und fragt: Wer tut sich schwerer mit weiblicher Führung? Die Unternehmen oder die Frauen?


Eines vorneweg: In den meisten Unternehmen sind Frauen gleichberechtigt unterwegs. Sie haben (hoffentlich) den gleichen Lohn wie ihre männlichen Berufskollegen. Sind in Talent-Pipelines, haben Mentorinnen und Mentoren sowie gute Karrierechancen, weil – ich erwähnte es bereits – Frauen im Management mehr als gerngesehen sind. Kurzum: Im 2024 steht uns Frauen eigentlich nichts im Berufswege – bis wir Mutter werden. Dann nimmt unser Career Lifecycle eine andere Abbiegung als der unserer Partner.

Es ist nämlich noch immer so, dass Frauen Mutterschaftsurlaub nehmen und Väter auch. Weil das Baby mit 3,5 Monaten, also nach den 14,5 Wochen Mutterschaftsurlaub doch aber noch sooo klein ist, verlängern viele Frauen. Soweit so gut. Viele Unternehmen geben ihren Angestellten hierfür auch unbezahlten Urlaub. Ist der vorbei, ist es mit der Vereinbarkeit oftmals ebenfalls vorbei: Der Mann arbeitet nach seinen zwei Wochen Vaterschaftsurlaub eh wieder Vollzeit. Und wir Frauen versuchen, das alles irgendwie zu schaukeln mit Familie und Beruf. Mit unseren Ambitionen, welche wir nicht im Gebärsaal gelassen haben und den Erwartungen der Gesellschaft, der Schwiegermutter, des Chefs.

Vollzeit und Präsenz – die Voraussetzungen einer typisch schweizerischen Karriere

Der Chef, respektive das Unternehmen fordert Vollzeit und physische Präsenz. Wer nicht mindestens 80 Prozent arbeitet, wird nicht befördert. Laut aktuellem Gender Intelligence Reportarbeiten lediglich 4 Prozent aller 2022 beförderten Frauen oder Männer unter 80 Prozent. Das bedeutet nichts anderes, als dass alle Teilzeit arbeitenden Mütter (also fast alle Mütter) nicht befördert werden. Eben weil sie Teilzeit arbeiten.

Teilzeitkarrieren-Förderung, kennsch?

Jetzt ist es aber so, dass wir einen Fachkräftemangel haben. Dem könnten wir entgegenwirken, würden wir das Augenmerk auf die Hälfte der Belegschaft richten, die in Teilzeit befördert und gefördert werden könnte. Also auf viele Frauen. Also auf viele Mütter. Würden Unternehmen keine 100-Prozent-Pensen als Voraussetzung für eine Karriere verlangen, hätte die Schweiz gar hunderttausende sogenannte Vollzeitäquivalente (FTEs) mehr zur Verfügung, als bis jetzt augeschöpft wird.

„Sie wollen halt nicht, die Frauen!“

Obschon die hiesigen Talent-Pipelines bestückt sind mit vielen Frauen, fallen diese in den Unternehmen weg, wenn sie Kinder bekommen. Oftmals ist ab da an ein Weiterkommen im Unternehmen nicht mehr zu denken. Positionen mit bizzeli Macht und Einfluss? Bleiben in Männerhand. Was auch bleibt: Der Ruf nach mehr Frauen im Management. „Sie wollen halt nicht!“, sagt man dann ganz oben. „An uns liegts nicht.“

Frauen wollen schon. Nur nicht so.

Es gibt einen Faktor, der sicherlich ein Game Changer ist: Mehr Offenheit in Sachen „neue Karrieren“. Sprich: Teilzeitkarrieren. Wir reden hier von wahrer Work Life Integration, von Lifecycle-Modellen, Trust-based-Leadership und natürlich auch von New Work.

Adieu, Don Draper.

Während sich der Arbeitsmarkt rasant verändert, stecken einige Unternehmen mit konservativen Werten und Strukturen in den 50ern fest. Sie wirken wie Don Draper, der sich 2024 zurechtzufinden versucht.

Jüngere Generationen (ja, auch Männer und nein, nicht nur Eltern) sind jedoch nicht mehr bereit, Vollzeit zu arbeiten. Ob wir das nun gut finden oder nicht. Sie wollen auch nicht mehr nach dem herkömmlichen Modell leben und arbeiten, sondern verlangen nach Egalität – nach gleichberechtigten Beziehungen, gleichberechtigten Strukturen am Arbeitsplatz. Für Unternehmen sind deshalb entsprechende Massnahmen echte Game Changer.

Diana Wickist Unternehmerin und Co-Gründerin vonTadah– dem ersten SchweizerCoworking Space mit Kinderbetreuungin Zürich, einer Unternehmens-Kita bei der Swiss Re, einemElternmagazin, einer Unternehmensberatungzum Thema Vereinbarkeit und Keynotes – dies alles zahlt ein in die Mission von Tadah, die Schweiz vereinbarkeitsfreundlicher zu machen.

Die Schweiz braucht eine bessere Stadtplanung

Balz Halter
15.03.2024

Die Schweiz wächst und verstädtert. Damit verbundene Herausforderungen wie Zersiedlung und Wohnungsknappheit seien aber primär Folgen einer verfehlten Raumplanung, so das Manifest von Urbanistica. Eine intelligentere Stadtplanung hilft, diese Probleme zu lösen, schreibt Balz Halter, einer der Initianten des Manifests. 


Zwei Drittel aller Gemeinden sind städtischen Charakters und müssten statt Orts- Stadtplanung betreiben. Stadtplanung ist Planung in urbanen Räumen, über Gemeinde- und Kantonsgrenzen hinaus. Ihr Horizont überspannt weit mehr als die nächste Nutzungsplanungsrevision von 15 Jahren. Sie ist die wichtigste Aufgabe einer Gemeindebehörde. Mit Stadtplanung wird die Entwicklung der Gemeinde in Bezug auf Wohnraumangebot, Arbeitsplätze, Durchmischung und Finanzkraft gesteuert. Insbesondere ist sie massgeblich für das Bild, die Identität und die Lebensqualität einer Gemeinde.

Stadtplanung und Architektur: Die Schweiz verfügt über ausgezeichnete Architekten. Trotzdem hören wir ständig die Klage über schlechte Baukultur. Die Aneinanderreihung autistischer Gebäude ist die Folge uniformer Bauzonen mit generell-abstrakten Regeln. Auch die beste Architektur ist nicht in der Lage, attraktive öffentliche Räume zu schaffen. Dies ist Aufgabe der Stadtplanung. Sie zu definieren, zu sichern und umzusetzen, liegt in der Verantwortung der Gemeinden. Gut geplante öffentliche Räume schaffen Strukturen, die auch mittelmässige Architektur ertragen.

Stadtplanung und Demokratie:Planungsvorlagen haben es vor dem Stimmvolk oft schwer. Dennoch ist die direkte Demokratie die beste Staatsform. Ihre Unmittelbarkeit auf Gemeindeebene ist die beste Partizipation in Planungsfragen. Leider wird keine öffentliche Diskussion über Stadtplanung geführt. Die Vorlagen beinhalten zweidimensionale, abstrakte Richtpläne, schwer fassbare Nutzungsordnungen oder isolierte, oft private Sondernutzungsplanungen. Notwendig wäre ein Vorgehen, das stufenweise öffentliche Diskussion und Mitwirkung bezüglich der langfristigen Entwicklung der Gemeinde und ihrer Region ermöglicht. Dies sollte über städtebauliche Leitbilder, Konkurrenzverfahren und Masterplanungen zur Richtplanung führen und zu deren konkreter Umsetzung in die grundeigentümerverbindliche Nutzungsordnung.

Stadtplanung und Föderalismus: Urbane Räume erstrecken sich über administrative Grenzen hinaus. Der Ordnungsraster sind funktionale Räume, die sich aus Topografie, Infrastrukturen und Morphologien ergeben. Stadtplanung setzt keine Gemeindefusionen voraus. Sinnvoll wäre, Planungsregionen zu schaffen, die sich an polyzentrischen Stadtstrukturen orientieren und in funktionalen Perimetern gesamtheitliche Stadt- und Quartiersplanungen ermöglichen.

Stadtplanung und Mobilität: Verkehr ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit. Stadtplanung hilft, strategisch relevant zu verdichten an Orten, die bereits gut erschlossen sind, und Zentren zu schaffen, die dank ihrer Dichte attraktive, vielfältige Angebote entstehen lassen. An peripheren Lagen kann auf eine Ausnützungserhöhung verzichtet werden, um nicht zusätzlichen Verkehr zu provozieren.

Stadtplanung und Heimatschutz: Bestehende Bauten repräsentieren die Geschichte ihres Ortes und stiften Identität. Sie zu beseitigen, will wohlüberlegt sein, auch aus Gründen der grauen Energie. Die Stadtplanung zwingt zur Güterabwägung und zur öffentlichen Diskussion, welche Strukturen und Gebäude zu schützen sind und wo Neues entstehen soll. Im schrittweisen Vorgehen der Stadtplanung können Verträglichkeiten mit Inventaren, zum Beispiel dem ISOS, geprüft und Interessenverbände einbezogen werden. Dadurch werden notwendige Güterabwägungen stufengerecht vorgenommen. Dem Entscheidfolgeprinzip gemäss muss die Legitimation für Rechtsmittel von bestimmten Interessengruppen in nachfolgenden Verfahrensschritten, insbesondere bei Nutzungsplanung und Baubewilligungen, verwirkt sein.

Stadtplanung und Wohnungsmarkt:In der sich abzeichnenden Wohnungsnot wird der Ruf nach Marktregulierungen laut. Wirkungsvoller sind Stadtplanungen, die über relevante Aufzonungen an zentralen Orten genügend Ausnützungsreserven schaffen. Damit kann die hohe Nachfrage in den Zentren befriedigt werden, was sich dämpfend auf die Wohnkosten auswirkt. Wo sich grosse Mehrnutzungen abzeichnen, steigen die Werte der Bauparzellen. Dies führt zu erhöhter Verkaufsbereitschaft und zur erwünschten Konsolidierung fragmentierter Eigentümerstrukturen. Für die Gemeinde resultieren erhebliche Einnahmen aus Mehrwertabgaben und Gewinnsteuern zur Finanzierung notwendiger Investitionen.

Der Beitrag ist zuerst in der Schweizer Gemeinde erschienen.

Balz Halter ist Unternehmer und Mitverfasser des Manifestes für Stadtplanung von Urbanistica, der Vereinigung für guten Städtebau.

Wer das Manifest ebenfalls unterzeichnen will, kann das hier tun.

Schweigen wir uns in ein dunkles Zeitalter?

Karin Landolt
26.02.2024

Im Moment belasten Konflikte und gesellschaftlicher Dissenz viele Menschen. Doch niemand steht dem machtlos gegenüber, sagt Kommunikationsexpertin Karin Landolt. Ein Plädoyer für unsere Verantwortung und die Macht der vielen kleinen, starken Dinge.


Die Zeiten sind konfliktbeladen. Reale und drohende Kriege belasten unsere Gedanken. Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass eine grosse Schweizer Zeitung im Jahr 2024 auf ihrer Titelseite darüber sinnieren wird, wie wahrscheinlich ein dritter Weltkrieg sei.

Unsere Informationskanäle sind durchseucht von Falschmeldungen – die Tatsache, dass sich jeder und jede des Programms ChatGPT und anderer künstlicher Intelligenzen bedienen kann, ohne über die Quellenlage nachzudenken, entschärft die Lage ganz und gar nicht. Extreme Meinungen werden salonfähig, Fronten verhärten sich. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass unsere demokratischen Errungenschaften im Jahr 2024 in Gefahr geraten?

Es scheint, dass immer mehr narzisstische, machtgierige, verrückte, unverfroren-rücksichtslose und eigennützige Figuren die Weltlage kontrollieren. Was für eine grauenhafte Welt kreieren wir da? Ja – Wir! Nicht die. Denn wir alle sind Teil dieses Weltgefüges. Wenn auch nur ein winziger.

Wir entscheiden uns für oder gegen Verantwortung. Wir wählen, wir konsumieren, wir stehen für Werte und Haltungen ein, oder eben nicht. Wir setzen uns auseinander, oder wir schweigen. Wir kämpfen, oder wir ducken uns – nicht nur, wenn es um grosse weltpolitische Dinge geht, sondern in ganz alltäglichen Dingen, in der Familie, in Freundschaften, am Arbeitsplatz. Indem wir schweigen, statten wir andere mit Macht aus und geben ihnen den Raum, ohne den sie ihre Macht nicht ausüben könnten. Dutzende von täglichen Entscheidungen führen letztlich dazu, dass sich diese oder jene behaupten. Wir können es beeinflussen.

Klingt idealistisch? Vielleicht. Aber ich glaube an die Wirkung des Kleinen, um nicht zu sagen, an die Macht der vielen kleinen starken Dinge, die täglich geschehen. Immerhin kümmert sich der wesentlich grössere Teil der Menschheit um seine Lieben, befürwortet Gerechtigkeit, setzt sich dafür ein, das Beste aus dem Leben zu machen und als Vorbild zu wirken. Das ist der Grund, weshalb wir optimistisch bleiben dürfen. Diese Menschen müssen wir ermutigen, für sie einmal das Wort ergreifen, anstatt zu schweigen, wenn andere sich vordrängen. Es steht ganz allein in unserer Macht, ob wir es tun oder nicht.

Ich schliesse mit den Worten des verstorbenen, früheren UNO-Generalsekretärs Kofi Annan, der einmal sagte: „Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“

Karin Landoltist Inhaberin der Kommunikationsagentur Gesprächskultur sowie Vorstands- und VR-Mitglied der Republik AG. In der Vergangenheit war sie sowohl Co-Geschäftsführerin einer NGO, als auch viele Jahre Redaktorin und Blattmacherin bei der Tageszeitung „Der Landbote". Sie hat die Live-Talk-Veranstaltung StadTalk gegründet. Heute moderiert und organisiert sie Tagungen und Workshops, auf Wunsch leitet sie auch OE-Projekte. Die Schnittmenge von Wirtschaft, Bildung und Nachhaltigkeit beschäftigen und prägen sie ihr ganzes Berufsleben lang. Karin Landolt lebt in Winterthur und hat zwei erwachsene Töchter.

Dieser Text ist zuerst erscheinen im Blog von Gesprächskultur.

Der Nussknacker-Effekt

Barbara Wülser
19.02.2024

Jahrelang gab es kaum Fortschritte darin, mehr Frauen ins Erwerbsleben und mehr Diversität in Führungsetagen zu bringen. Nun bewegt sich was, schreibt Barbara Wülser, Leiterin der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann Graubünden.


Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten sind Bemühungen aus Gleichstellungskreisen, mehr Frauen ins Erwerbsleben und mehr Diversität in Führungspositionen zu bringen, von bescheidenen Erfolgen gekrönt. Oft stossen diese Bemühungen ins Leere und Frauen an die gläserne Decke. Nun scheint sich plötzlich etwas zu bewegen: Unternehmen und Organisationen lancieren Förderprogramme, überdenken ihre Rekrutierungsstrategien, überarbeiten Inseratekonzepte, verbessern die Vereinbarkeit mit flexiblen Arbeitsmodellen und schaffen Strukturen zur Verankerung von Gleichstellung und Inklusion. So auch die Kantonale Verwaltung mit dem „Aktionsplan Gleichstellung – egual21“ oder die Mitglieder des Netzwerks Diversity-gr. Der Grund dafür: akuter Fach- und Arbeitskräftemangel, gepaart mit veränderten Ansprüchen jüngerer Generationen.

Der Leidensdruck ist gross, die Prognosen sind angesichts des demografischen Wandels düster. Mit diesem nötigen „Gegendruck“ könnten wir es schaffen, die „Nuss“ zu knacken und unsere Arbeitswelt für Männer, Frauen und unterschiedliche Lebensentwürfe attraktiver und fitter zu machen.

Dass Gleichstellungs- und Wirtschaftsvertretende vielleicht nicht dieselben Beweggründe haben, ist nebensächlich. Wichtig ist, gemeinsam zu handeln. Wir müssen sicherstellen, dass Gleichstellungsprozesse und -strukturen in zehn oder 20 Jahren, wenn der Druck nachlässt, ausreichend verankert sind. Ich bin überzeugt und kann aus eigener Erfahrung bezeugen: Haben wir erst erfahren, wie inspirierend gemischte Teams sein können, wollen wir nie mehr anders arbeiten. Von diesem Elan profitieren auch Arbeitgebende: Arbeitnehmende, die ihre Talente in einer egalitären, diskriminierungsfreien Arbeitskultur entfalten können, sind motivierter, gesünder, produktiver.

Doch die Hürden und Hemmfaktoren, welche die Entwicklung seit je erschweren, sind immer noch da. Es gilt, diese zu erkennen und zu überwinden. Zwar ist die Erwerbsquote von Frauen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Nach wie vor arbeiten Frauen aber viel öfter in Teilzeit als Männer – mit den entsprechenden Auswirkungen auf Karrierechancen, Weiterbildungsmöglichkeiten und Altersvorsorge. Der Grund: Sie betreuen unentgeltlich Kinder, Haushalt, Familienangehörige oder andere pflegebedürftige Personen.

Der Staat und Wirtschaftsunternehmen können und müssen die Vereinbarkeit von Beruf und weiteren Lebensbereichen mit Tagesstrukturen für Kinder oder unterstützenden Angeboten für pflegende Angehörige verbessern. Sind qualitativ gute Angebote vorhanden, sind Frauen auch eher bereit, ihre Kinder in andere Hände zu geben und ihre Erwerbsarbeit zu intensivieren. Auch die Männer müssen mitziehen und ihren Teil der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen. Sonst können wir noch lange um den heissen Brei herumreden.

Damit Männer wie Frauen ihre ausserberuflichen Verpflichtungen wahrnehmen können, müssen sie – zumindest in den „rush hours of life“ – teilzeit arbeiten können. Wenn in einem Team viele teilzeit arbeiten, müssen die Strukturen und die Kultur der Zusammenarbeit und der Führung angepasst werden, oder wie es so schön heisst „structure follows strategy“. Job- und Top-Sharing – also das Teilen von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung – sind vielversprechende Arbeitsmodelle, die geübt werden wollen. Flachere Hierarchien, Delegieren von Entscheidungskompetenzen, partizipative Entwicklungsprozesse: Das ist kein Neuland, aber für viele Menschen gewöhnungsbedürftig.

Das Wichtigste jedoch ist eine offene Haltung: Wir können grundsätzlich davon ausgehen, dass die meisten Menschen ihr Bestes geben wollen, dass sie gesehen, wertgeschätzt und gefördert werden wollen. Wenn die Motivation stirbt, ist das oft darauf zurückzuführen, dass sich im Laufe der Berufsjahre viel Frust angesammelt hat. Die Aufgabe von Führungspersonen ist es, Faktoren, welche die Eigenmotivation der Mitarbeitenden hemmen, zu beseitigen, und Faktoren, welche die Motivation begünstigen, zu fördern. Ich meine hier nicht nur das Drittel der Mitarbeitenden, die es mittels Talentmanagement zu entdecken und zu fördern gilt und die dann hoffentlich „durch die Decke gehen“. Wir müssen diese Haltung allen Menschen entgegenbringen, unabhängig ihres Bildungsstandes, ihres kulturellen und sozioökonomischen Hintergrunds oder ihres Geschlechts.

So, und wie verankern wir jetzt all das in den Strukturen einer Unternehmung oder Organisation? Hierfür gibt es verschiedene Modelle und Strategien. Sicher kein Patentrezept. Impulse lieferte die Veranstaltung „Diversity in Leadership & Tech: Vielfalt verankern“ am 12. Februar 2024 in Chur, weitere Termine werden folgen. Fangen wir doch einfach mal an und knacken die Nuss zusammen!

Barbara Wülser ist Leiterin der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann Graubünden und Mit-Initiantin von Diversity-gr.

Diversity-grbietet Unternehmen in der Technologiebranche und mit Berufsfeldern, die von der digitalten Transformation betroffen sind, eine Plattform. Das Netzwerk ermöglicht den Erfahrungsaustausch, sensibilisiert für Zusammenhänge und regt Veränderungsprozesse an. Es wird getragen von der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann, dem Innovationszentrum CSEM, der Academia Raetica, dem Netzwerk «Women in Tech Switzerland»,dem KMU-Zentrum Graubünden der Fachhochschule Graubünden und der Pädagogischen Hochschule Graubünden.

Follow the Values – ChatGPT als Fallbeispiel

Christian Häuselmann
27.03.2023

ChatGPT ist ein Trendthema. Christian Häuselmann weist in seinem Meinungsbeitrag darauf hin, dass die Technologie auf der Zerlegung von Problemen und der anschliessenden Zusammenlegung der Ergebnisse beruht - ein interessantes Anwendungsbeispiel zum Prinzip „Follow the Values“. 


GPT steht für „GUID Partition Table, a disk partitioning standard“, also eine GUID-Partitionstabelle, ein Festplattenpartitionierungsstandard. Wikipedia erklärt dies so: „Das Aufteilen einer Festplatte in Partitionen wird als Partitionieren bezeichnet. Bei einem Teile-und-herrsche-Ansatz wird das eigentliche – in seiner Gesamtheit – als zu schwierig erscheinende Problem so lange rekursiv in kleinere und einfachere Teilprobleme zerlegt, bis diese gelöst (beherrschbar) sind. Anschliessend wird aus diesen Teillösungen eine Lösung für das Gesamtproblem (re-)konstruiert.“ Das leuchtet ein.

Teilen und Herrschen erinnert auch direkt an frühere Geschichtestunden und die Leseweise etwa von Julius Cäsar, vor gut 2000 Jahren: „Divide et impera“. Seine Strategie war, über das Teilen von Macht eben dieselbe für sich auszubauen und zu erhalten. In der Poliitk und Soziologie wird dies beschrieben als Machtgewinn und Machterhalt durch Spaltung.

Zur Beurteilung der zukünftigen Wirkungen von ChatGPT ist auch eine Aussage von Roy Amara interessant. Der ehemalige Präsident des Institute for the Future in Palo Alto, Kalifornien prägte den Satz. „Wir neigen dazu, die kurzfristige Wirkung einer Technologie zu überschätzen und die langfristige zu unterschätzen“.

Jetzt kommen wir zu „Follow the Values“. Wir können uns folgende Fragen stellen: Was sind die Kulturen und Wertesysteme der Firmen und Menschen, die ChatGPT auf das bereits heute verblüffend hohe Niveau gebracht haben? Und wenn wir diese Werte beschreiben können - welche Annahmen lassen sich daraus ableiten zu den zu erwartenden Wirkungen dieser neuen Technologie in Bezug auf Nutzen oder Schaden für Dich und mich, unser tägliches Leben, unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen, die Menschheit insgesamt?

Meine persönliche Einschätzung, per Stand Frühling 2023, ist wie folgt: ChatGPT ist entwickelt mit den Werten der digitalen Super-Monopolfirmen im Silicon Valley wie etwa Google/Alphabet, Microsoft, Facebook/Meta und Amazon. In China wird diese Technologie entwickelt mit den Werten der umfassenden Digital-Diktatur, umgesetzt mit Firmen wie Tencent, und weiteren. Aus dem demokratischen Europa heraus ist bisher noch kein Anbieter bekannt.

Wird diese Technologie also eher zum Wohle und Nutzen der Mehrheit der Menschen eingesetzt werden? Oder wird dies primär Nutzen bringen für digitale Super-Monopole und umfassende Digital-Diktaturen? Wird diese Technologie beitragen zu einem neuen Gleichgeweicht oder zu einer weiteren Destabilisierung von bereits zünftig wackelnden weltweiten Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen?

Wir wissen es (noch) nicht. Was wissen jedoch, dass Partialisieren und Spaltung der Kern ist von ChatGPT. Wir wissen, dass die laufende Pflege des inneren Zusammenhalts der Kern ist der Demokratie.

Jeder Mensch muss für sich in den kommenden Jahren in unterschiedlichsten Lebensbereichen wohl so wichtige Fragen wie noch selten zuvor beantworten - oder den AI Kumpel fragen, was jetzt zu machen ist.

Als Idee: Wir können solche Fragen auch in gemütlicher Runde an der Aare bei einem guten Bier besprechen, in der Natur, mit einem schönen Feuerchen, und danach zufrieden nach Hause pedalen.

Christian Häuselmann ist ein passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elekrobike (1993), swisscleantech (2009) und SHIFT Switzerland (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative www.2291.ch lanciert, inspiriert vom Denken für 7 Generationen. #trylongterm

Follow the Values

Christian Häuselmann
22.03.2023

Pünktlich zur 175 Jahr-Feier der Schweizer Bundesverfassung bescheren zwei Firmen der Schweiz ein schönes Geschenk. In der Logik der praktischen Negativ-Zinsen haben es die Finanzfachleute kreativ verpackt als Negativ-Geschenk, immerhin in der Höhe von 209 Mrd. Franken – oder darfs es bitzeli meh si, fragt Christian Häuselmann. 


14 Jahre Notfallvorbereitung seit der letzten Finanzkrise sind in einer Wochenendsitzung verdampft. Wirtschaftselite, Bundesrat, Not(en)bank, Notrecht. Heisst: Regeln und Vertrauen werden gebrochen.

Wer die Bücher der beiden Welt-Banken analysiert, sieht Parallelen. Seit 2010 wurden für offensichtlich rechtswidrige Arbeiten rund 17 Milliarden Franken (Credit Suisse) und 12 Milliarden Franken (UBS) an Anwaltskosten und Bussgeldern produziert. Die zu einem Schnäppchenpreis fusionierte neue Firma dürfte in dieser Disziplin wohl gemeinsam bald die Marke von 30 Milliarden knacken. Das sind immerhin 30'000'000'000 Franken. Oder war es doch ein Tweet im Herbst 2022 und die Social Media, welche die stolze Credit Suisse ins Verderben stürzten?

Noch ein Gedankenspiel: Der von UBS bezahlte Kaufpreis von 3 Milliarden wird durch 209 Milliarden Notgelder abgesichert durch die Schweiz. Diese 209 Milliarden entsprechen rund einem Faktor 26 (26x) des Betrags, den die beiden Banken vor 20 Jahren der Swissair zur Rettung verwehrt haben. Als Folge wurde diese echte Schweizer Firma ins Ausland verkauft.

Im Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates vom 19. September 2002 liest sich dies so (Seite 5406): „Es zeigte sich, dass eine Sanierung der ganzen Gruppe mindestens 8 Milliarden Franken gekostet hätte und somit nicht finanzierbar war. ... Am 1. Oktober 2001 zeigte sich, dass die Grossbanken eine entsprechende Transaktion ohne den Bund planten. Diese waren jedoch nicht bereit, den Flugbetrieb der Swissair in der Überführungsphase zu finanzieren. Sie haben eine Stilllegung der Swissair-Flotte in Kauf genommen.“

Das muss man sich auf der Zunge vergehen lassen. In der normalen Unternehmerwelt sind dies ungeheuerliche Zahlen und Vorkommnisse. Was lernen wir daraus?

Wir lernen, dass die bisher zur Beurteilung unübersichtlicher Situationen recht präzise Methode des „Folge dem Geld – Follow the Money“ nicht mehr genügt. Eine Trendumkehr ist weder ersichtlich noch realistisch. Was ist also der neue Massstab, mit dem sich undurchsichtige Situationen beurteilen lassen? Was ist die Leitlinie, an der wir uns verlässlich orientieren können?

Es ist wohl einfacher als wir denken: „Folge den Werten - Follow the Values!“

Die Wertehaltung und Kultur einer Person, einer Organisation oder gar eines Landes ändern sich meistens nur langsam, im Verlauf von Jahrzehnten. These ist, dass Werte zum einzig zuverlässigen Massstab werden, zur neuen Leit-Währung. Heute und in Zukunft, gerade auch in einer sich extrem schnell wandelnden und damit unsicheren Welt.

Christian Häuselmann ist ein passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elektrobike (1993), swisscleantech (2007) und SHIFT Switzerland (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. #trylongterm.

Dringend benötigt: Ökologie-Schuldenbremse

Manuel Flury-Wahlen
01.02.2023

„Wir haben zu viel konsumiert, jetzt kommt der Kater“, sagt der abgetretene Finanzminister. Bundes- und Kantonsparlamente beschränken ihre Ausgabenfreude mit Schuldenbremsen. Der Verlust von Tier- und Pflanzenarten geht ungehindert weiter. Wir benötigen eine Bremse für ökologische Schulden, schreibt Manuel Flury-Wahlen.


„Ab wann stört die Menschen der Verlust der Artvielfalt?“, lautete kürzlich die Überschrift einer SRF-Meldung. Offenbar ging die Journalistin davon aus, dass wir Menschen über das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten zwar informiert sind, dass wir dies jedoch nicht als störend oder gar bedrohlich erleben. Ist dies der Grund, dass wir weiterhin Dinge konsumieren, die der Artenvielfalt schaden, und uns politisch gegen Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheiten, beispielsweise in Schutzgebieten, wehren? Liegt dies daran, dass wir dieses Verschwinden mit unseren Sinnen nicht direkt wahrnehmen?

Mir entgeht das Verschwinden von Insekten. Ich kann mich weiterhin an Bienen, Wespen und Vögel und an blühenden Wiesen erfreuen, ich bemerke die Veränderung der Natur nicht unmittelbar. Und dann gibt es ja noch die viele Naturschutzzonen, in denen Tiere und Pflanzen geschützt leben können. So geht es mir manchmal durch den Kopf. Dann kommen mir aber die Bilder aus dem Film „More than Honey“ von Markus Imhof über die Bienen in den Sinn, die chinesischen Landarbeiter und Landarbeiterinnen, die in Handarbeit auf Kirschbäumen sitzend mit Pinzetten die Blüten bestäuben. Es steht wirklich nicht gut um die Insekten und viele andere Tierarten. Auf der Webseite des Films steht ein aufrüttelndes Zitat: „Einstein soll gesagt haben, wenn die Bienen aussterben, sterben vier Jahre später auch die Menschen aus“.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBESschrieb 2016 in einer Studie: „Fast 90 Prozent aller blühenden Wildpflanzen und mehr als drei Viertel der Nahrungsmittelpflanzen sind zumindest teilweise auf die Bestäubung durch Insekten oder andere Tiere angewiesen. Bestäubte Pflanzen liefern Obst, Gemüse, Samen, Nüsse und Öle, die wiederum zu den Hauptlieferanten von Vitaminen und Mineralien gehören. Außerdem stellen viele von ihnen wichtige Einkommensquellen in Entwicklungsländern dar, zum Beispiel Kaffee und Kakao. In den vergangenen 50 Jahren stieg die von Bestäubern abhängige landwirtschaftliche Produktion um das Dreifache. Auch Nichtlebensmittelpflanzen sind auf Bestäuber angewiesen. Aus ihnen werden Biotreibstoff wie Raps- und Palmöl, Fasern wie Baumwolle und Kapok, Medizin und Holz.“

Die Wirtschaftswissenschaft versucht seit vielen Jahren den Geldwert der Artenvielfalt zu ermitteln. Absicht ist, die Kosten und den Nutzen einer artenmässig intakten Natur in unseren wirtschaftlichen Überlegungen zu berücksichtigen, als Konsumentinnen und Konsumentinnen, wenn wir einkaufen, als Bürgerinnen und Bürger und Politikerinnen und Politiker, wenn wir über Subventionen für die Landwirtschaft befinden oder wenn wir als Unternehmerinnen und Unternehmer das Business Modell gestalten und Banken zur Finanzierung vorschlagen. Neben dem Wissen um den Nutzen der Artenvielfalt geht es darum die Kosten für die Schädigung der Artenvielfalt zu ermitteln, damit sie von denjenigen getragen werden, die diese auch verursachen, dass die Preise also diese Kosten einschliessen, die Kostenwahrheit eben, wie wir sie aus der verkehrspolitischen Diskussion schon lange kennen.

Als Konsumierende befinden wir uns jedoch in einer paradoxen Situation. Nahrungsmittel aus einer schonenden, ökologischen Produktion kosten mehr als solche, die unter herkömmlichen Bedingungen angebaut werden. Klar, ökologische Produkte bedingen mehr Arbeit. Der ökologische Nutzen, den dieser Mehraufwand stiftet, bleibt jedoch nur ungenügend berücksichtigt. Er stellt eine Gratisleistung an die Gesellschaft und an die kommenden Generationen dar.

Ebenso wenig werden die ökologischen Kosten, welche herkömmlich angebaute Produkte verursachen, im Preis berücksichtigt. Im Wesentlichen bezahlt die Gesellschaft für den Verlust an Tier- und Pflanzenarten, für die Verarmung von Böden oder für die Belastung von Trinkwasserreserven, nicht heute, nein, sie hinterlässt diese ökologischen Schulden kommenden Generationen.

Wie oft mahnte der Finanzminister, dass Schulden dereinst von den Nachfahren zu tilgen sein werden? Gilt dies bei den ökologischen Schulden nicht? Während für den Finanzhaushalt eine Schuldenbremse gilt, fehlt eine solche für den ökologischen Haushalt!

Der Markt kümmert sich nicht um das Allgemeinwohl respektive das „öffentliche Gut“ Artenvielfalt, es sei denn, die Gesellschaft respektive der Staat setze dem Markt Grenzen, wonach beispielsweise eine gewisse Artenvielfalt garantiert bleiben müsse. Derartige Regeln kennt unsere Gesellschaft bislang nicht. Bemerkenswert ist, dass auf globaler Ebene die eben zu Ende gegangene internationale Biodiversitätskonferenz von den Ländern fordert, dass sie 30 Prozent ihrer Landes- und Meeresflächen unter Schutz stellen.

Soll die Artenvielfalt erhalten werden – und wir wissen, wie überlebensnotwendig eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt ist – dann benötigt unsere Gesellschaft dringend Regeln mit denen das ökologische Schuldenmachen, welche die kommenden Generationen zu tragen und zu tilgen haben endlich gebremst wird, eine ökologische Schuldenbremse!

Hinweis:

Das 2022 gegründete Netzwerk Agroecology works fordert in seinen politischen Empfehlungen unter anderem die Bewahrung der genetischen Vielfalt, einem Kernelement der Agrarökologie, als Grundlage eines nachhaltigen Ernährungssystems. Die Artenvielfalt müsse daher unbedingt erhalten und nachhaltig genutzt werden.

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert und ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Beitrag ist in längerer Form auch auf seinem privaten Blog publiziert.

Wird der bilaterale Weg zum unilateralen Trampelpfad?

06.12.2022

Der bilaterale Weg ist eine Antwort auf das EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 gewesen. Die EU hat vor anderthalb Jahrzehnten Bedingungen für seine Weiterführung gestellt. Die Schweiz hat diese vor anderthalb Jahren abgelehnt. Nun ist sie auf ihrem Trampelpfad allein unterwegs, schreibt Steffen Klatt.


Schweizer Politikerinnen und Politiker sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht müde geworden, den bilateralen Weg als den Königsweg der Schweizer EU-Politik zu preisen. In der Tat: Die beiden Pakete der bilateralen Abkommen stellten das Optimum zwischen Marktzugang und Selbstbestimmung dar. Die Schweizer Wirtschaft erhielt den Zugang zu einem grossen Teil des EU-Binnenmarkts, während die Schweiz nur einen klar umrissenen Teil des EU-Rechts übernehmen musste.

Der bilaterale Weg hatte seinen Preis: Die Schweiz musste die Personenfreizügigkeit akzeptieren, unbeschränkten Zugang für Lastwagen aus der EU, die automatische Übernahme von neuem EU-Recht als Teil des Schengensystems der offenen Binnengrenzen und manches mehr. Aber es hat sich gelohnt – die Schweizer Wirtschaft florierte in den vergangenen beiden Jahrzehnten wie nur wenige andere wohlhabende Volkswirtschaften in Europa.

Der bilaterale Weg war ein Erfolg der Schweizer Diplomatie: Sie hatte der EU diese helvetische Sonderlösung als Ersatz für den am 6. Dezember 1992 verworfenen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgehandelt. 2010 teilte die EU der Schweiz offiziell mit, dass sie diese Sonderlösung nicht mehr ohne Änderungen akzeptieren wolle. Sie wollte mehr Rechtssicherheit für ihre Unternehmen und eine automatische Übernahme von neuem EU-Recht durch die Schweiz in allen Bereichen, nicht nur bei Schengen, Dublin und der Luftfahrt. Elf Jahre haben beide Seiten miteinander gesprochen, ein paar Jahre intensiv verhandelt, dann brach der Bundesrat am 26. Mai 2021 die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen ab.

Das Verhältnis von Nutzen und Kosten des bilateralen Weges verschiebt sich derzeit zu Ungunsten der Schweiz: Die EU will weder neue Marktzugangsabkommen schliessen noch die bestehenden aktualisieren. Die Schweiz fällt damit sukzessive aus dem EU-Binnenmarkt. Die Medtech- und die Strom-Branchen sowie die Forschung sind schon draussen, der Maschinenbau dürfte folgen. Nur der Preis für die bilateralen Abkommen, der ist geblieben: Personenfreizügigkeit, Lastwagen aus der EU, automatische Übernahme von Schengenrecht.

Es gibt keine Aussicht auf rasche Besserung: 2023 wird in der Schweiz gewählt, da dürfte sich hier niemand bewegen wollen. 2024 wird in der EU gewählt, da dürfte dort niemand politisches Kapital für den kleinen Aussenseiter aufbringen wollen. Falls danach die beiden Seiten Lust auf Verhandlungen hätten und ganz schnell – zum Beispiel innerhalb eines Jahres – ein Abkommen fertigstellten, dann würde seine Ratifizierung in das Jahr 2027 fallen. Vielleicht wird dann gerade Marine Le Pen zur französischen Präsidentin gewählt. Wer in der Schweiz würde sich dann noch per Rahmenabkommen näher an die EU binden wollen?

Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU haben ihre besten Jahre womöglich bereits hinter sich. Der bilaterale Weg könnte immer mehr zu einem unilateralen Trampelpfad werden.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist von ihm im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen, im Oktober 2022 im gleichen Verlag „Mehr Schweiz wagen - mehr Europa tun. Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch“.

Alarmsignal Twitter

Steffen Klatt
03.11.2022

Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk ist ein Wendepunkt für soziale Medien, schreibt Steffen Klatt. Die digitalen Treffpunkte werden zu Instrumenten in der Hand von Superreichen (Twitter) oder Supermächten (Tiktok). Wer glaubwürdig kommunizieren will, muss sich nach Alternativen umsehen.


Typisch Musk, könnte man sagen: Der als extravagant geltende Unternehmer kauft mal schnell ein soziales Netzwerk. So wie er sich bei PayPal, Tesla, SpaceX und manchem anderen engagiert hat – meist erfolgreich.

So einfach ist es nicht. Die Übernahme von Twitter führt dazu, dass ein Kommunikationsinstrument hunderter Millionen Menschen in aller Welt durch die Launen eines einzelnen Mannes regiert wird. Das ist in einer offenen Gesellschaft ein Problem unabhängig davon, wie dieser Mann tickt. In diesem konkreten Fall ist es noch schlimmer: Musk zieht Twitter in die Grabenkämpfe der amerikanischen Politik hinein. Eine spannende Frage ist, ob Twitter das überlebt.

Es geht um mehr als Twitter. Es geht um die Zukunft der sozialen Medien. Als diese digitalen Treffpunkte vor inzwischen zwei Jahrzehnten aufkamen, waren sie offen für alle und kostenlos. Bald konnte eines von ihnen – Facebook – eine Monopolstellung aufbauen, auch um den Preis, lange nicht profitabel zu sein.

Inzwischen gibt es Dutzende soziale Netzwerke. Jede Altersgruppe hat sein eigenes, jede Interessengruppe auch. Die meisten kommen aus Amerika, Tiktok aus China – die Kommunistische Partei hört mit. Facebook versucht mit seinem Metaverse, ein neues Monopol aufzubauen – und verliert damit Geld.

Eines haben die sozialen Netzwerke nicht geschafft, trotz der Billionen Dollar, die in den zwei Jahrzehnen zu ihnen geflossen sind: Sie sind keine glaubwürdige Quelle verlässlicher Informationen geworden. Relevante Informationen ertrinken im Meer der Belanglosigkeiten, nachprüfbare Tatsachen müssen mühselig aus einer trüben Mischung aus Halbwahrheiten oder auch Lügen gefischt werden.

Belanglosigkeiten, Halbwahrheiten und Lügen sind keine Erfindung der sozialen Netzwerke: Zeitungsenten haben auch früher gelebt. Aber sie wurden her entweder in der nächsten Ausgabe korrigiert oder von der Konkurrenzzeitung genüsslich angeprangert. Die Wahrheit kam ans Licht, meist jedenfalls. In den heutigen sozialen Medien liegt alles durcheinander, Kraut und Rüben, Äpfel und Birnen, faule und gesunde. Die Nutzenden sehen nicht auf den ersten Blick, welche Informationen verlässlich sind.

Das ist nicht gut für diejenigen, die darauf angewiesen sind, glaubwürdig zu kommunizieren. In der demokratischen Diskussion hält sich der Schaden noch in Grenzen: Die politische Konkurrenz sorgt dafür, dass Halbwahrheiten und Lügen angeprangert werden.

In der Wirtschaft ist der Schaden bereits angerichtet: Kleine und mittlere Unternehmen, egal, wie innovativ sie sind, werden mit ihren Botschaften kaum noch wahrgenommen. Und werden sie nicht mehr wahrgenommen, dann finden sie keine neuen Kunden, Partner, Investoren. Diese innovativen kleinen und mittleren Unternehmen sind das Rückgrat der Wirtschaft gewesen. Werden sie es auch in der Zukunft sein?

Twitter war ein wichtiger Kanal für die Unternehmenskommunikation. Wenn es unter Musk im Morast der polarisierten amerikanischen Politik versinkt, wird für Unternehmen die Präsenz in diesem Netzwerk toxisch. Bleiben für Unternehmen noch LinkedIn und Xing. Beide aber sind in erster Linie als Karrierenetzwerke gegründet worden, als Ort, an dem sich die eigenen Mitarbeitenden nach ihrem nächsten Arbeitgeber umsehen – nicht als Ort, an dem Unternehmen über ihre neuen Erfolge, Produkte, Dienstleistungen informieren können.

Unternehmen haben nach dem Auslaufen des alten Medien- und Kommunikationsmodells mit seinen Wirtschaftsmedien, Fachmedien, Leitmessen keine glaubwürdigen und verlässlichen Kanäle für ihre Kommunikation mehr. Wer füllt die Marktlücke?

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist von ihm im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen, im Oktober 2022 im gleichen Verlag „Mehr Schweiz wagen - mehr Europa tun. Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch“.

Im Kreislauf zum Erfolg

Christian Häuselmann
20.09.2022

Die Wirtschaft muss in den Kreislauf, sonst geht sie unter. Aber wie kann der Umbau funktionieren, fragt Christian Häuselmann. Wie kann dieser Umbau finanziert werden? Die Instrumente dafür sind vorhanden, die ersten Pioniere sind mit ihren Produkten auf dem Markt.


Wir alle spüren es. Nach ein paar Jahrzehnten Anlauf wird die nachhaltige Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft unumkehrbar zu einem strategischen Erfolgsfaktor. Zentral ist dabei die Wachstumsfrage. Es ist so banal wie schwierig zu begreifen: Dauerndes Wachstum gibt es nicht. Punkt. Wir werden als Menschen ja auch nicht 500 Meter lang. In der Natur ist alles zyklisch organisiert, in Kreisläufen, mit systemischen Rückkoppelungseffekten, mit Ebbe und Flut, Vollmond und Neumond. Das ist das Erfolgsrezept.

De-Globalisierung, De-Karbonisierung, Digitalisierung und Demografie werden uns über die kommenden Jahrzehnte begleiten. Diese Schlagwörter zeigen sich in der täglichen Arbeit. Wer kennt nicht unterbrochene Lieferketten, Material- und Personalknappheiten, wetterbedingte Produktionsausfälle, rasch ändernde Kundenbedürfnisse oder knifflige Investitionsentscheide in unruhigen Zeiten?

In der Natur sind solche Umbau- und Regenerationszyklen normal. Seit Jahrtausenden wiederholen sie sich auch in der Geschichte der Menschheit. Vorteil ist: wir können uns an bewährten Eckpunkten orientieren. Das zeigt sich auf vier unterschiedlichen Ebenen.

1. Produktionseffizienz

Was unter Druck kommt, orientiert sich tendenziell gegen innen und das Zentrum hin. Bei einer Attacke durch Räuberfische formieren sich Kleinfische im dichten, wirbelnden Schwarm. In Krisen priorisieren Unternehmen geographisch angrenzende Wirtschaftsregionen und den überschaubaren Heimmarkt. Produktionsstandorte definieren sich nicht mehr primär über den Preis, sondern über stabile Qualität mit kontrollierbaren Strukturen und Prozessen.

Dies führt zu ineffizienteren Abläufen und steigenden Produktionskosten, zumindest in einer Übergangsphase. Zusätzlich verstärkend wirkt die Inflation – befeuert durch das seit über zehn Jahren unbeschränkte Gelddrucken und die Negativzinsen – mit auch kriegsbedingt steigenden Energie-, Nahrungsmittel- und Rohstoffkosten.

Systemische, tiefgreifende Innovation und neue Partnerschaften sind gefragt. Schein-Innovationen reichen nicht mehr aus. Wer die Produktions-Effizienz entlang von Wertschöpfungsketten konsequent steigert – wie etwa die Bühler Group aus Uzwil mit der Nutzung von Materialnebenströmen - wird sich in der laufenden Neugestaltung der Wirtschaft erfolgreich positionieren können.

2. Wirtschaftlicher Umbau

Es zeigt sich an allen Ecken und Enden: der aktuell laufende Strukturwandel greift tief. Die historisch einmalige Entwicklungsphase seit den 1950er Jahren ist zu Ende. Vor unseren Augen formen sich neue wirtschaftliche und geopolitische Realitäten. Es ist herausfordernd, die neuen Gewinner frühzeitig zu identifizieren - die meisten sind heute noch “Hidden Champions”.

ID Watch SA aus Genf etwa hat die erste kreislauffähige Uhr lanciert. Mit recyceltem Stahl, Armbändern aus Naturmaterialien und konsequent regionalen Qualitätsprozessen prägen sie das neue Circular Luxury Segment.

Die Vögeli AG in Langnau, ein Familienbetrieb in vierter Generation, hat weltweit führendes Knowhow bei natürlichen Cradle to Cradle-Druckereiprodukten aufgebaut. Ihre Verpackungslösungen werden in unterschiedlichsten Branchen eingesetzt: von der Unterwäsche zum Hipster-Drink bis zur feinen Schokolade.

Und wer hätte vor ein paar Jahren darauf gewettet, dass “Schlafen as a Service” ein Erfolgsmodell wird? Die 1895 gegründete Elite Beds SA aus Aubonne hat das Bettmatratzengeschäft revolutioniert. Warum? Die hohe Qualität und Langlebigkeit ihrer Produkte hat die Firma fast ruiniert. Heute verkaufen sie ihren Kunden nicht mehr Matratzen, sondern Liegeminuten – und schliessen nebenbei ihren Materialkreislauf.

3. Innerer Zusammenhalt

In Krisen werden die Stimmen lauter, die Argumente bissiger, die Informationsabsender intransparenter. Polarisierende Meinungen nehmen zu und führen bis zur physischen Gewalt mit Bürgerkrieg und Krieg zwischen Nationen. Es scheint, dass wir Menschen diesbezüglich nicht lernfähig sind.

Das hat direkte Konsequenzen für unternehmerische Entscheide. Die Pflege des inneren Zusammenhalts und der sozialen Integation wird für Firmen aus rein egoistischen Überlegungen heraus zu einer Kernaufgabe. Gewinnorientierte Ziele sind gleichwertig mit gemeinnützigen und sozialen Zielen zu ergänzen.

Erfolgreiches Unternehmertum definiert sich nicht mehr nur über finanzielle Kennzahlen. Unerwartete Türen öffnen sich - plötzlich bieten sinnorientierte Schrumpfstrategien die grössten Wachstumspotentiale.

4. Finanzierung der Transformation

Die Ausgangslage zur Finanzierung der kommenden Transformationsjahre ist gut: Die Schweiz verfügt über einzigartige Finanzkompetenzen, regional orientierte Strukturen und weltweite Firmen- und Netzwerkkontakte zum Benchmarking.

Die Frage ist: wo setzen wir an? Braucht die Schweiz – ähnlich zur Idee vor zwanzig Jahren mit dem 500 Millionen Franken-Startup Fund – die Vision eines 500 Millionen Franken-Circular Transformation Fund? Wie beschleunigen wir die Entwicklung neuer Finanzierungsinstrumente im Servitization Bereich – so wie es die Stiftung BASE aus Basel bereits erfolgreich im Ausland umsetzt? Und wie strukturieren wir das Co-Investment in einem Projekt, als Zusammenspiel von kurzfristig gewinnorientierten Privatinvestoren und langfristig gemeinnütziger Philanthropie?

Fazit ist: Wir wissen nie, was die Zukunft bringen wird. Gerade in herausfordernden Zeiten lohnt es sich zu überlegen, wie wir alle zu einem nachhaltig starken Wirtschafts- und Lebensstandort Schweiz beitragen können – mutig, kreativ, in neuen Partnerschaften.

Was ist Ihre Meinung dazu?

Christian Häuselmann ist ein passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elektrobike (1993), swisscleantech (2007) und SHIFT Switzerland (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. #trylongterm.

Kann die Schweiz noch vorausschauend denken?

Steffen Klatt
08.09.2022

Der drohende Energiemangel ist ein Debakel mit Ansage. Auch das Debakel in der Europapolitik hat sich zuvor ein Jahrzehnt lang angekündigt, ebenso davor der scheinbar plötzliche Fall des Bankgeheimnisses. Kann die Schweiz noch vorausschauend denken, fragt Steffen Klatt.


Gouverner, c’est prevoir, pflegten Bundesräte einst zu sagen – regieren, das ist vorausschauen. Heute scheint die Schweiz von einem Debakel mit langer Ansage zum nächsten zu stolpern.

So jetzt mit der drohenden Energiemangellage im einstigen Wasserschloss Schweiz: Noch vor gut einem Jahrzehnt haben Unternehmen wie die Axpo auf dem europäischen Markt Milliarden mit Strom aus Wasserkraft verdient; jetzt brauchen sie einen milliardenteuren Rettungsschirm des Bundes. Die Schweiz hat zwar vor einem Jahrzehnt die Energiewende eingeläutet. Aber noch heute trägt Strom aus Wind und Sonne nur marginal zur Stromproduktion in der Schweiz bei – anders als bei den Nachbarn. Und Gasspeicher gibt es in diesem Land praktisch nicht.

So ist es auch in der Schweizer Europapolitik gewesen: Die Schweiz genoss nach dem Inkrafttreten der bilateralen Abkommen 2002 ein überdurchschnittlich hohes Wachstum; die EU kündigte aber bereits 2006 inoffiziell und dann 2010 offiziell an, dass sie neuverhandeln möchte. Sie forderte eine Lösung, wie die statischen Abkommen an das sich stetig weiterentwickelnde EU-Recht angepasst werden können. Die erste Aussenministerin – Micheline Calmy Rey – ignorierte die Forderung. Der zweite – Didier Burkhalter – verhandelte mit Brüssel, scheiterte im eigenen Land und nahm den Hut. Der dritte – Ignazio Cassis – scheiterte und blieb. Im Mai 2021 brach der Bundesrat die Verhandlungen ab. Seither fällt die Schweiz Stück für Stück aus dem EU-Binnenmarkt: Erst die Medtech-Branche, dann die Forschung, als nächstes der Maschinenbau.

So war es auch mit dem Bankgeheimnis: Während Jahren verteidigte es der Bundesrat ohne Kompromisse, dann schaffte er es 2009 innert einer Woche ab. Der Schweizer Finanzplatz hat seither kontinuierlich an Gewicht verloren, im eigenen Land und global.

Alle drei Fälle betreffen Kernbranchen der Schweizer Wirtschaft, und in allen drei Fällen sind die Interessen von Wirtschaft und Politik eng miteinander verflochten.

So sind praktisch alle Energieunternehmen in öffentlicher Hand. Diese Energieunternehmen – von der Stadtzürcher ewz zur kantonseigenen Axpo – investieren auch in erneuerbare Energien, aber vor allem im Ausland. Es sind die öffentlichen Gasunternehmen, die zwar seit Jahrzehnten Gas importieren, aber keine Speicher gebaut haben.

Das Rahmenabkommen wiederum scheiterte nicht an den sogenannten fremden Richtern – dafür gäbe es eine Lösung in Form von Schweizer Richtern im EFTA-Gerichtshof. Es scheiterte letztlich an den Gewerkschaften, weil diese Angst haben, der Lohnschutz würde aufgeweicht. Der oberste Gewerkschaftschef sitzt für die SP im Bundesparlament und kann sich in Sachen EU-Politik immer auf die SVP verlassen.

Und die Banken waren einst so wichtige Steuerzahler, dass sich die Bundespolitik lange für ihre eigennützigen Interessen auch international ins Zeug gelegt hat.

Die Schweiz ist zu recht stolz auf ihre direkte Demokratie. Sie bildet einen wichtigen Grund für die hohe gesellschaftliche Stabilität des Landes. Aber diese direkte Demokratie hat Schwächen.

Die eine: Auf Bundesebene werden die eigentlichen Entscheidungen oft von wenigen sehr einflussreichen Leuten in Hinterzimmern gefällt. Falls es zur Volksabstimmung kommt, dann sorgt das Gewicht der beiden politischen Lager dafür, dass das Volk „richtig“ abstimmt; meist gelingt das.

Die andere Schwäche: Die direkte Demokratie bevorzugt immer diejenigen, die heute abstimmen können. Das gibt kleinen, aber lautstarken Minderheiten ein übergrosses Gewicht. Die Zukunft oder das Ausland dagegen nehmen nie an der Abstimmung teil.

Die dritte Schwäche: Der politische Prozess schaut immer überaufmerksam auf die nächste Abstimmung. Alle anderen Themen werden ausgeblendet, für langfristiges Denken bleibt wenig Platz.

Die Schweiz ist wohlhabend und kann viele Herausforderungen bewältigen. Aber jedes vermeidbare Debakel erodiert ihren einst so hohen Wohlstand ein bisschen mehr. Vielleicht braucht die Schweizer Demokratie mal eine Verjüngungskur?

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist von ihm im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen. Im Oktober folgt im gleichen Verlag „Mehr Schweiz wagen - mehr Europa tun. Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch“.

Die Politik kehrt zurück

Steffen Klatt
13.07.2022

Während drei Jahrzehnten hat die Wirtschaft der westlichen Welt der Politik gesagt, was sie tun soll, und die Politik hat die Wünsche der Wirtschaft umgesetzt. Nun übernimmt die Politik wieder das Steuerrad, schreibt Steffen Klatt. Aber sie steuert anders als vor den Zeiten des Neoliberalismus.


Der russische Überfall auf die Ukraine hat keine Zeitenwende ausgelöst. Aber er hat eine Zeitenwende sichtbar gemacht, die schon vorher begonnen hat, spätestens mit der Corona-Pandemie. Diese Zeitenwende markiert nicht nur das Ende der Globalisierung. Sie markiert auch das Ende des Neoliberalismus – oder was davon noch übrig geblieben ist.

Seit dem Fall der Berliner Mauer mussten sich die Politiker der westlichen Welt anhören, dass sie die Finger von der Wirtschaft lassen sollten. Der Markt werde es schon richten. Nicht alle Politiker haben sich über diese wohlgemeinten Ratschläge gefreut, aber klar war: Die Wirtschaft äussert ihre Wünsche, die Politik setzt sie nach Möglichkeit um, und das Wirtschaftswachstum löst alle Probleme.

Diese Zeiten sind vorbei. Gegen Panzer hilft kein Markt. Unter Artilleriebeschuss findet kein Wirtschaftswachstum statt. Sinkende Zinsen heizen in Zeiten ausbleibenden Erdgases keine Häuser. Impfstoffe schützen nicht gegen Viren, wenn sich die Betroffenen nicht impfen lassen wollen.

Die Politik hat schon immer das Steuer übernehmen müssen, wenn die Wirtschaft in eine Krise geraten war, auch in Hoch-Zeiten des Neoliberalismus: Der Bund hat aus der Asche der Swissair die Swiss gezogen, die UBS vor dem Zusammenbruch gerettet, allen Unternehmen Corona-Kredite zur Verfügung gestellt.

Nun steckt die Wirtschaft und mit ihr der Rest der Welt in einem Bündel aus Dauerkrisen. Der Krieg im Osten Europas dürfte sich ziehen, die Zeit der billigen fossilen Energieträger dauerhaft vorbei sein. Die Inflation dürfte noch auf Jahre hinaus anhalten – der Preis für die niedrige Teuerung der vergangenen drei Jahrzehnte. Der Klimawandel ist im Alltag angekommen. Der weltweite Verfall der Biodiversität bedroht die Lebensgrundlagen der Menschheit. Auf COVID dürften weitere Pandemien folgen.

Die Politik steht wieder am Steuerrad, so wie vor dem Fall der Mauer. Doch auch sie hat viele der gegenwärtigen Probleme nicht im Griff. So sind Klimawandel und Verfall der Biodiversität zwar menschengemacht, aber ihre Folgen lassen sich nicht mit simplen politischen Mitteln beseitigen. Und was, wenn die nächste Pandemie durch ein noch tödlicheres Virus ausgelöst wird?

Zudem hat sich die Politik seit dem Ende des Kalten Krieges verändert. Heute muss sie mehr tun, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen – Parteiparolen reichen dafür nicht mehr aus. Sie muss über Grenzen hinweg zusammenarbeiten – viele Probleme lassen sich nicht mehr kantonal oder national lösen. Sie ist schnelllebiger geworden – die Aufreger von heute sind die Langweiler von morgen und umgekehrt.

Kurz: Die Politik kann die Probleme von heute nicht mehr allein lösen, sondern braucht dafür die Menschen im Land. Die Bürgerinnen und Bürger müssen schon selbst Hand anlegen, wenn etwas sie stört; die Politik kann diese Selbsthilfe moderieren. Für Autokraten wie Wladimir Putin und Xi Jinpiing ist das eine schlechte Nachricht. Denn sie ziehen ihre Macht aus der Untätigkeit ihrer Untertanen.

Für eine lebendige Demokratie wie die Schweiz hingegen ist die Wandlung der Politik hin zu mehr Bürgerbeteiligung eine gute Nachricht: In der Schweiz wird diese Bürgerbeteiligung gelebt. Aber eine lebendige Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie will gepflegt werden.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist von ihm im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen. Im Herbst folgt im gleichen Verlag „Mehr Schweiz wagen - mehr Europa tun. Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch“.

Glauben Sie an sich selbst?

Karin Landolt
04.07.2022

Nur mit Solidarität sind wirkliche Innovationen möglich, finden sich sinnvolle und langfristige Lösungen in Krisen, sagt Kommunikationsexpertin Karin Landolt. Ein Aufruf, die Sicht und das Talent jedes Einzelnen wertzuschätzen.


Gerade habe ich eine Person begleitet, welcher überhaupt nicht bewusst war, was in ihr steckt. Was sie empfinde, sei nicht wichtig. Was sie zu sagen habe, irrelevant. Was sie interessiere, unwichtig für die Welt.

Wie kommt es, dass sich andere Leute solche Fragen niemals stellen, sondern ihre eigenen Interessen immer ganz zuoberst auf der Welt-Prioritätenliste sehen? Und die sich heute so darüber aufregen, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie mal war? Plötzlich werden so genannte Soft-Themen wie Rassismus, Genderanliegen, Bienensterben oder Kindertagesstätten in den öffentlichen Diskurs gebracht. Dabei gäbe es doch wichtigeres: Lieferketten, Energieversorgung, Krankenkassenprämien, Lohnerhöhung.

Auf den ersten Blick mag es stimmen, denn die Themen rütteln an unserem Existenzempfinden, Überleben, unserer Wirtschaftlichkeit. Aber vielleicht haben wir diese Probleme ja gerade deshalb, weil wir seit Jahrzehnten die Welt einseitig betrachten und damit Missstände erst produzieren? Ungleichheit in der Prioritätenliste führt zu Ungleichheit und damit zu vielen Problemen im realen Leben. Mit diesem Riesenbogen in die Weltpolitik habe ich bei meiner Bekannten an ihre wichtige Rolle appelliert.

Apropos Rolle: Es fällt auf, dass die deutsche Regierung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und ihrer Schlüsselrolle bewusst und strategisch der Begriff „gemeinsam" einsetzt. Keiner gewinnt, wenn er im Alleingang handelt. Probleme, die aus einer einzigen Perspektive heraus „gelöst" werden, bleiben Probleme und produzieren oft zahlreiche Verlierer/innen, da deren Perspektive ignoriert wurde. Deutschland wählt den gemeinsamen Weg (aus historischen Gründen, aber nicht nur), ein wichtiges und starkes Signal für ein positives Globalisierungsverständnis. Nur mit Solidarität können wir einem Aggressor Widerstand leisten, eine Versorgungslücke schliessen, eine Pandemie bekämpfen, die Demokratie stärken.

Für dieses „Gemeinsam" braucht es die Sicht, das Wissen, das Talent und die Meinung jedes/jeder Einzelnen: Die Sicht der Minderheiten, der Frauen, jeder Bürgerin und jedes Bürgers – auch bei der Überwindung von Wirtschaftskrisen. Denn davon betroffen sind die Lebenswelten von uns allen. Innovation ist nicht nur in Form von leistungsstarken Batterien für die Autoindustrie gefragt, sondern auch in personal- und patientenverträglichen Abläufen in den Spitälern, familientauglichen Betreuungskonzepten in den Kitas, der Beobachtung von Überlebensstrategien in den Bienenstöcken oder einer wegweisenden Umgangskultur am Arbeitsplatz. Nur gemeinsam finden sich sinnvolle und langfristige Lösungen, von deren Geist hoffentlich alle profitieren.

Ich habe also meiner Bekannten gesagt – und manchmal muss ich das auch mir selbst sagen – dass ihre Ideen, ihre Empfindungen, ihre Interessen von höchster Bedeutung sind, auch wenn sie im Moment nicht so wichtig erscheinen mögen. Und dass jene, die sich zuoberst auf der Prioritätenliste sehen, nicht selten – und buchstäblich – warme Luft produzieren, die die Welt nicht braucht.

Glauben Sie an sich selbst und an das, was Sie der Gesellschaft bieten können.

Karin Landoltist Inhaberin der Kommunikationsagentur Gesprächskultur sowie Co-Geschäftsführerin einer NGO. In den Jahren 1999-2020 arbeitete sie mehrheitlich als Redaktorin und Blattmacherin bei der Tageszeitung „Der Landbote", gründete die Live-Talk-Veranstaltung StadTalk und moderiert und organisiert heute Tagungen und Workshops, auf Wunsch leitet sie auch OE-Projekte. Die Schnittmenge von Wirtschaft, Bildung und Nachhaltigkeit beschäftigen und prägen sie ihr ganzes Berufsleben lang. Karin Landolt lebt in Winterthur und hat zwei erwachsene Töchter.

Bild: Delia Giandeini via Unsplash

Der Umbau hat begonnen

Steffen Klatt
29.06.2022

Steigende Preise, unsichere Energieversorgung, gebrochene Lieferketten – hinter den zunehmenden Anzeichen einer Krise versteckt sich ein Umbau der Weltwirtschaft, schreibt Steffen Klatt. Dieser Umbau bietet ebenso grosse Chancen wie der Start der Globalisierung vor drei Jahrzehnten.


Oberflächlich gesehen wirkt es wie ein perfekter Sturm: Die Preise steigen so rasch wie zuletzt in den 80er Jahren. Die Energieversorgung ist so gefährdet wie zuletzt in den 70er Jahren, als die arabischen Ölförderländer die Lieferungen drosselten. Die Lieferketten sind so unsicher wie nie seit dem Beginn der Globalisierung vor drei Jahrzehnten.

Naht eine neue Weltwirtschaftskrise? Wenn man nur auf die absoluten Wachstumszahlen schaut, vielleicht: Es ist möglich, dass nach der Corona-Rezession von 2020 eine „Ukraine-Rezession“ kommt, ausgelöst durch die ausbleibenden Energieimporte aus Russland.

Aber anders als in der Corona-Rezession wird nun die Wirtschaft nicht einfach ausgebremst. Sondern sie wird umgebaut. Jeder Umbau der Wirtschaft ist teuer. Aber wenn er richtig umgesetzt wird, bildet er die Grundlage für neues und vor allem gesünderes Wachstum.

Die Abnabelung von fossilen Energien war ohnehin nötig. Die selbstverschuldete Abhängigkeit von billigen Importen war kurzsichtig, seit mit Sonnen- und Windkraft Technologien für eine ausreichende Versorgung mit erneuerbaren Energien auf den Markt gekommen sind. Nun erzwingt Putin, was die Befürworter der Energiewende nicht geschafft haben.

Die globalen Lieferketten sind in den vergangenen drei Jahrzehnten auf der Suche nach immer mehr Kosteneinsparungen und Skaleneffekten immer länger und immer komplexer geworden. Irgendwann musste diese Kette brechen. Ob der Bruch der Kette vom Virus ausgelöst wird oder vom Containerstau vor den grossen Häfen oder Sanktionen gegen Russland oder überforderten Fluggesellschaften, das ist Nebensache.

Das bedeutet auch: Die Zeit der globalen Kosteneinsparungen und Skaleneffekte ist vorbei. Die Lieferketten müssen wieder kürzer und widerstandsfähiger werden. Widerstandsfähigkeit kostet – und addiert sich weltweit zu steigenden Preisen.

Die geringe Inflation der vergangenen drei Jahrzehnte war eine Ausnahme, ausgelöst durch die Globalisierung. Jeder Hersteller suchte die billigsten Zulieferer und die billigsten Produktionsstätten. Nun wirkt der Pendeleffekt: Das Ende der Globalisierung führt zumindest mittelfristig zu hoher Inflation. Langfristig führt es – hoffentlich – zu höherer Versorgungssicherheit.

Jeder Umbau bietet Chancen – für den, der sie ergreift. Umbau bedeutet Unsicherheit, also gewinnen die Agilen, die Flexiblen, die Innovativen. Das sind meist die kleinen und mittleren Unternehmen. Das sind die gut vernetzten Unternehmer, die das Gras wachsen hören – oder einfach nur gut informiert sind. Das sind die Manager, die auch mal bereit sind, auf Ideen ihrer Mitarbeitenden zu hören, von guten Erfahrungen anderer zu lernen und Strukturen zu ändern.

Die Schweiz ist eigentlich gut aufgestellt für den Umbau. Ihre Wirtschaft ist auf Wissen aufgebaut. Ihre Unternehmen sind im Weltmassstab bis auf wenige Ausnahmen klein, manchmal mittelgross. Ihre Manager und Beschäftigten sind bestens aus- und weitergebildet. Der dauernde Anpassungsdruck durch die Globalisierung, die offenen Märkte in Europa und den immer stärkeren Franken hat wie ein Fitnessprogramm auf die Wirtschaft gewirkt. Die Wettbewerbsfähigkeit ist entsprechend hoch.

Der Umbau der Wirtschaft kann nur dann zu neuem und gesünderem Wachstum führen, wenn die Wirtschaft nachhaltiger wird, und zwar in allen drei Dimensionen - ökologisch, sozial, wirtschaftlich.

Ökologisch: Die Wegwerfwirtschaft ist ein Sicherheitsrisiko, es führt kein Weg an der Kreislaufwirtschaft vorbei.

Sozial: Ausgelaugte Mitarbeitende sind eine Belastung der Unternehmen, unzufriedene Randgruppen eine Gefahr für die Gesellschaft; ein gesundes Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben und die Einbeziehung aller in der Gesellschaft sind die Grundlage jeder gesunden Wirtschaft.

Wirtschaftlich: Effizienz ist gut, aber es braucht auch echte Innovation – und die ist immer ineffizient, zumindest am Anfang.

Der Umbau der Wirtschaft hat begonnen. Jeder kann für sich selbst entscheiden, welche Rolle er oder sie dabei spielen will.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist von ihm im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen. Im Herbst folgt im gleichen Verlag „Mehr Schweiz wagen - mehr Europa tun. Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch“.

Landwirtschaftspolitik des Bundes führt tiefer in der Sackgasse

Alain Schilli
27.06.2022

Die Landwirtschaft sollte konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein, schreibt Alain Schilli. Diese Nachhaltigkeit sollte den Bauern auch vergütet und den Konsumierenden klar kommuniziert werden. Die Landwirtschaftspolitik des Bundes dagegen biete kein Zukunftsmodell.


Essen und Nachhaltigkeit liegt mir am Herzen. Es braucht verantwortungsvolles Bauchgefühl und Handeln von allen Akteuren. Ich sehe vier zukunftsorientierte Stossrichtungen:

1. Die Ökosystemleistungen und Mehrwerte (zum Beispiel Biodiversität, Landverbrauch) werden mit den richtigen finanziellen Vorzeichen in den Produktepreis integriert. Fehlanreize und Zielkonflikte durch Direktzahlung und Subventionen sind zu eliminieren.

2. Die Schweizer Grossverteiler vergüten diese Mehrwerte den Bauern (zum Beispiel CO2-Senkenleistungen, Verzicht auf Pestizide, Energieeffizienz, Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit und Nähstoffverfügbarkeiten). Diese finanziellen Mehrwerte werden gegenüber den Konsumenten transparent kommuniziert. Damit erkennt der Konsument, wie er einen finanziellen Anreiz für verantwortungsvolle Bauernbetriebe und Nahrungsmittelverarbeiter leistet. Vermeidung von intransparenter Margenoptimierung auf Kosten der Konsumenten.

3. Die Ernährungspyramide auf die menschliche Gesundheit und in Bezug auf Ressourcen zukunftsfähig ausrichten. Mehrheitlich pflanzenbasierte Ernährung ist die Basis. Mit positivem Effekt auf die Reduktion der Gesundheitskosten.

4. Der Bund, die Grossverteiler und Nahrungsmittelproduzenten klären auf und kommunizieren faktenbasiert gegenüber den Konsumenten. Auch die Branchenverbände können Verantwortung übernehmen. Es gilt die Zusammenhänge der Wertschöpfungsketten aufzuzeigen, was tiergerechte Haltung bedeutet oder den Einfluss auf menschliche Gesundheit. Die Milchwirtschaft alimentiert die Fleischwirtschaft. Die realitätsferne Werbung für Milchprodukte oder die «Jöö»-Werbung mit glücklichen Tieren auf Biobauernhöfe ist zu unterlassen. Das hilft auch den engagierten Bauern, den Ansprüchen der Konsumenten besser gerecht zu werden – oder anders ausgedrückt, keine falschen Erwartungen werden geschürt.

Alain Schilli, Umweltökonom und Biologe, ist Inhaber von Magnefico GmbH und Mitgründer von Shift Switzerland als Teil von Circular Economy Switzerland. Er ist als Unternehmer, Start-up-Mentor und Advisor tätig, mit Fokus auf internationale Unternehmensentwicklung, Impact Reporting, naturinspirierte Innovation, Sustainable und Carbon Finance, dies in Sektoren wie Energie, Chemie, Landwirtschaft und Rohstoffe.

Interessenspolitik … eher als Neutralitätspolitik

Manuel Flury-Wahlen
07.06.2022

Die Schweiz hat ihre Neutralität lange als ein Mittel benutzt, ihre primär wirtschaftlichen Interessen zu wahren, schreibt Manuel Flury-Wahlen. Doch die Schweiz ist auch Teil einer Werte- und Staatengemeinschaft, die diese Neutralität überhaupt erst ermöglicht.


Nach dem Nationalrat hat in der vergangenen Woche auch der Ständerat beschlossen, das Militärbudget schrittweise auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Damit könnte das Budget von heute jährlich 5,6 bis 2030 auf rund 7 Milliarden Franken steigen. Bereits wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wurde dieser Vorstoss lanciert. Wozu genau diese Mittel dienen sollen, bleibt auch nach der Ratsdebatte nicht klar, ebenso wie das, was eigentlich zuerst klar sein müsste: Wie schätzt die Regierung die aktuelle Bedrohungslage - allenfalls neu - ein und wie will sie die Sicherheit der Bevölkerung entsprechend - allenfalls anders als bisher - schützen. Die Antwort darf sich nicht alleine auf die militärische Verteidigung beziehen, sind es doch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungleichheiten und Benachteiligungen, die das friedliche Zusammenleben gefährden und zu Konflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen führen können. Es muss die Schweiz kümmern, dass unrechtmässige Gelder den Weg in die Schweiz finden und dass Oligarchen und andere Barone ihre speziell für ärmere Länder wirtschaftlich nachteiligen und menschenrechtsverachtenden Rohstoffhandelsgeschäfte geschützt tätigen können. Eine nicht nur militärisch ausgerichtete Sicherheitspolitik nützt sowohl der Schweizer Bevölkerung als auch der internationalen Gemeinschaft, so wie dies die Diplomatie mit den guten Diensten und das IKRK und Organisationen mit der humanitären Hilfe und dem Schutz der Menschenrechte tun. Es ist dringend, dass das Parlament seinen engen und einseitigen Blick auf das Militärbudget abwendet. Oder sollen die höheren Militärausgaben mit Einsparungen dereinst bei den guten Diensten und der internationalen Hilfe für sozial und wirtschaftlich Benachteiligten kompensiert werden müssen?

Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der Verantwortung der Schweiz steht die Neutralität und wie sie die Schweiz politisch gestaltet in der Kritik. So mahnte gar der Präsident der Mitte-Partei, die Neutralitätspolitik der Schweiz sei zu überdenken. Es ist - mit seinen Worten - unanständig, wenn die Schweiz Waffen nach Saudi-Arabien liefert (im Jahre 2020 für über CHF 10 Millionen) und gleichzeitig der Ukraine keine Munition schicken wolle oder dürfe. Der Bundespräsident hat anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos den neuen Begriff der kooperativen Neutralität ins Spiel gebracht. Die Verletzung des Völkerrechts sei im Falle der Ukraine derart massiv, dass auch die Kooperation grösser geworden sei, so seine Begründung.

Wir müssen fragen, wie angepasst auf den Angriffskrieg Russlands (oder anderer Kriegstreiber) zu reagieren ist, wie die Menschen hier wie dort in Sicherheit leben, und, welche Verantwortung und welche Möglichkeiten die Schweiz dabei hat:

- Friede muss fortwährend gestiftet werden, dies ist eine politische Aufgabe, wie der Philosoph Kant bereits vor Jahrhunderten feststellte. Bedeutet dies, dass gewaltsame, kriegerische Auseinandersetzungen den Normalzustand bedeuten? Bleiben gewaltfreie Bemühungen, eine friedliche Welt (heute: in Europa) zu gestalten ohne Aussichten, solange Krieg und Gewalt normal sind? Ist gewaltfreier Widerstand gar naiv, gefährlich, defätistisch angesichts des Normalen?

- Was bedeutet Verteidigungsbereitschaft militärisch? Ausschliesslich defensiv, wie wir dies für die Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten zu verstehen geglaubt haben? Was bedeuten offensiv-präventiv einsetzbare Waffen wie der mögliche neue Flieger F-35? Welchen Platz haben gewaltfreie Mittel, gewaltloser ziviler Widerstand, Diplomatie und internationale Zusammenarbeit? Und: Ist in jedem Fall Verteidigung bis zur vollständigen Zerstörung von Leben und (auch materiellen) Lebensgrundlagen geboten?

- Will die Schweiz wie in früheren Kriegen ihre Sicherheit damit verbinden, dass Personen und Staaten von der Schweiz aus wirtschaftlich tätig sein können auch wenn sie das Völkerrecht, internationale Vereinbarungen und nationale Gesetze missachten? Will die Schweiz ein Hort für auch zweifelhafte Geschäfte bleiben und davon fiskalisch und politisch profitieren? Warum wird dies ethisch und moralisch immer wieder als vertretbar betrachtet?

- Die Schweiz ist Teil der westlichen Wertegemeinschaft und ist damit de facto Partei auf der internationalen Bühne. Müsste sich die Schweiz nicht in Bündnissystemen der westlichen Welt einbringen und Verantwortung für die Sicherheit der Menschen in dieser Region mittragen? Wird damit eine derartige Mitverantwortung nicht zur Pflicht unseres Landes?

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine:

- Welche Verantwortung trägt die Schweiz in der Unterstützung und Befähigung der Ukraine zur Durchsetzung der Selbstverteidigung und Sicherung der Unabhängigkeit gegen den völkerrechtswidrig angreifenden russischen Aggressor?

- Ist die Weigerung respektive die mit der Neutralität rechtlich nicht vereinbare Lieferung von Kriegsmaterial an die Ukraine nicht indirekt eine Unterstützung Russlands? Zeigt uns der Angriffskrieg Russlands nicht die Grenzen des Neutralitätsrechts auf, wenn damit indirekt der völkerrechtswidrig handelnde Aggressor ein leichteres Spiel hat?

- Steht die Schweiz, als neutralitätspolitisch umstrittener Rohstoffhandelsplatz Russlands eventuell indirekt auf Seiten Russlands?

- Als UNO-Mitglied hat sich die Schweiz verpflichtet, die Beschlüsse der UNO – die Beschlüsse des Sicherheitsrats sind verbindlich – zu achten. Dies gilt ebenso für internationale Konventionen wie zum Beispiel die Menschenrechtskonventionen, welche die Schweiz ratifiziert hat. Damit kann und darf sie das völkerrechtswidrige Handeln Russlands nicht unterstützen. Wie weit darf sie dabei eigene Interessen wie beispielsweise den Verlust von Handelsmöglichkeiten, von Steuerausfällen oder Arbeitsplatzverluste abwägen?

Die Schweiz ist global und umfassend betrachtet nicht neutral.Sie ist Teil der westlichen, europäischen Werte- und Staatengemeinschaft, mit einer gemeinsamen kulturellen, politischen, sozialen Vergangenheit. Sie hat in dieser Gemeinschaft seit Jahrhunderten einen ihr eigenen Platz eingenommen, von den Mächten zugeordnet, aber auch selber erkämpft, erarbeitet und erreicht.

Wenn die Schweiz als neutral gelten kann, dann ausschliesslich im Zusammenhang mit der völkerrechtlich verankerten Verpflichtung, sich nicht militärisch an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten zu beteiligen.

Im Zusammenhang mit der rechtlich verankerten Neutralität muss sich die Schweiz fragen, ob sie (und andere vergleichbar neutrale Länder), angesichts der indirekten Begünstigung des militärisch Stärkeren, überhaupt neutral im auch rechtlichen Sinne sein kann. Dem Schwächeren nicht zur Seite zu stehen stärkt indirekt den Stärkeren, dies zeigt der Ukrainekrieg deutlich.

Die Schweiz «laviert» mit ihrer Neutralitätspolitik zwischen dem Hochhalten von Werten wie den Menschenrechten, der sozialen Gerechtigkeit und dem Erhalt einer lebenswerten Umwelt einerseits und den wirtschaftlichen Eigeninteressen, verknüpft mit der Unabhängigkeit des Landes, andererseits. Oftmals stehen Arbeitsplätze, Gewinnversprechen und Steuereinnahmen vor dem prononcierten Einstehen für die Menschenrechte oder die Lebensfähigkeit ärmerer und sozial benachteiligter Menschen.

Die Schweiz soll

- die Neutralität und die Bezeichnung Neutralitätspolitik nicht länger als Deckmantel zur Wahrung ihrer - primär wirtschaftlichen - Eigeninteressen nutzen. Sie soll entsprechend von (wirtschaftlicher) Interessenspolitik und nur noch dann von Neutralität sprechen, wenn der völkerrechtlich verankerte Begriff gemeint ist;

- sich angesichts ihrer Zugehörigkeit zur westlichen, primär europäischen Werte- und Staatengemeinschaft ausdrücklich dazu bekennen und sich für diese einsetzen;

- sich kompromisslos für die in internationalen Abkommen verankerten Prinzipien einer friedlichen, sozial- und menschengerechten sowie ökologisch ausgerichteten Welt einsetzen und selber leben;

- weiterhin, auch als Mitglied einer Staatengemeinschaft, gute Dienste anbieten, wie das beispielsweise auch Norwegen, notabene ein NATO-Mitglied, erfolgreich tut;

- zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit, Sicherheit, und Verteidigungsfähigkeit mit ihren Partnerstaaten – Westeuropas – Bündnisse und damit auch Beistandsverpflichtungen eingehen;

- ihre Sicherheitspolitik nicht einseitig auf die militärische Verteidigung des Landes, sondern auf die Beseitigung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ungleichheiten und Benachteiligungen im Land selber wie global ausrichten.

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert und ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Beitrag ist in leicht ergänzter Form auch auf seinem privaten Blog publiziert.

Meinungsbildung braucht Mut und Musse

Christian Häuselmann
28.04.2022

Der gesellschaftliche Diskurs braucht Meinungsvielfalt, und diese Meinungsvielfalt braucht Medieninnovation, schreibt Christian Häuselmann. Nach Jahren des Abbaus journalistischer Leistungen durch die Medienunternehmen wächst endlich wieder Neues, und zwar von unten.


Musse heisst nach Duden freie Zeit und (innere) Ruhe, in der man seinen eigenen Interessen nachgehen kann. Mut ist die (grundsätzliche) Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält. Und Meinungsbildung ist die Bildung einer Meinung (zu einer bestimmten Frage) im Einzelindividuum und in der Gesellschaft.

Was braucht es zur Meinungsbildung? Genau. Bunte, freie und idealerweise glaubwürdige Meinungen von anderen Menschen, damit wir diese besprechen, mit unseren eigenen Lebensbildern vergleichen und in Kontext setzen können. Vielleicht sind diese zu hinterfragen und anzupassen. Wir lernen im Leben bis zum Tod. Nachher vielleicht auch noch, aber das ist jetzt einfach eine Meinung, die wir diskutieren können.

Vielfalt ist anstrengend. Bunte Meinungen sind schwieriger zu verstehen und zu ertragen, und vor allem auch schwieriger zu kontrollieren. Demokratien sind entsprechend mühsam und aufwändig. Diktaturen sind vereinfachend und damit verlockend: Millionen Menschen können dem Willen von ein paar Wenigen folgen und gehorchen, dann haben sie ein gutes Leben.

Meinungen zu äussern braucht Mut. Gerade in einem Umfeld, wo Menschen zunehmend geneigt sind, andere Menschen aufgrund ihrer Meinungen möglichst schnell in eine Schublade zu stopfen. Am besten in eine schön schwarz-weisse Schublade. So wie es die in den letzten 20 Jahren perfid gut gewordenen, werbegeld-maximierenden Algorithmen der Social Media-Firmen vormachen, und uns Menschen in massgeschneiderten Informations-Bubbles schwelgen lassen.

Meinungsbildung braucht Zeit. Dummerweise immer mehr Zeit, in zunehmend dicht getakteten Arbeitstagen. Weil in der digitalen Welt - wo Lesende zu Schreibenden werden und umgekehrt - auch geschulte Fachleute nur noch mit viel Aufwand und Mühe beurteilen können, ob eine Information glaubwürdig ist oder fake. Das trifft gleichermassen auf Texte zu, Bilder, Videos oder Tonspuren. In einer leider extremen Form erleben wir dies gerade täglich mit dem Krieg in der Ukraine.

Sogar eindeutig falsche Nachrichten werden zum ernsthaften viralen Hit. Für den Piloten, der sein Flugzeug trotz abgebrochenem Flügel sicher landen konnte, forderten erstaunlich viele Lesende Helden-Auszeichnungen. Endlich eine positive Meldung in einer tragischen Welt! Was rein physisch 100% unmöglich ist, entpuppte sich als geschickte Werbekampagne einer Versicherungsfirma. Die Beurteilungskompetenz von Informationen scheint zu degenerieren. Was von anderen geliked wird, wird hurtig und unbedacht mit-geliked.

Alles andere als fake sind die ungefiltert veröffentlichten, kostenlos millionenfach verbreiteten Hass-Botschaften. Extremismus, Spaltung und Ausgrenzung bringt gute Klick- und Verweilraten, und damit gutes Werbegeld. Was die Gewinne der Social Media Anbieter sprudeln lässt, lässt in gleichem Mass den gesunden gesellschaftlichen Diskurs verrotten. Deshalb können die Beteuerungen der Plattform-Anbieter zur Verbesserung dieser Situation als fake oder zumindest äusserst unwahrscheinlich abgehakt werden. Die Medien- und Kommunikationsbranche ist gefordert, hier neue Lösungen zu entwickeln - als echte Alternative zu dieser Sorte von Plattformen.

Meinungsbildung braucht Mut zur Medieninnovation. Mit dem Aufstieg der Digitalisierung haben sich die grossen Medienhäuser erfolgreich auf die digitalen Plattformmodelle eingespielt. Aus reinen Rendite-Überlegungen heraus haben sie die sorgfältige Recherche und Produktion von journalistischen Nachrichten zu grossen Teilen aufgegeben. Der mittlerweile als dramatisch zu bezeichnende Abbau bei Medien-Qualität und Medien-Vielfalt ist die direkte Folge und Zeuge dieser Strategie. Diese Entscheide sind unternehmerisch absolut legitim. Für den gesellschaftlichen Diskurs, die freie Meinungsbildung und den Zusammenhalt der Schweiz zeigen sie jedoch zunehmend fatale Wirkungen.

Erfreulicherweise zeichnen sich jetzt erste ermutigende Entwicklungen ab: Nach 20 Jahren einseitigem Medien-Abbau scheint die Schmerzgrenze erreicht. Vereinzelte junge Medienprojekte sind schweizweit am Spriessen, bottom up und regional verankert. Das System beginnt zu reagieren, die Gegenbewegung setzt ein.

Ziel sollte sein, zumindest einen Teil der jährlich 2 Milliarden (!) Franken an Werbegeldern wieder in die Schweiz zu holen, die heute zu einer knappen Handvoll Firmen im Silicon Valley und in China fliessen. Notabene wird dieses Geld ausgegeben, um in der Schweiz von A nach B zu kommunizieren. Also etwa von Düdingen nach Flamatt, von Marin nach Renens, von Losone nach Landquart, oder von Butthisholz nach Bischofszell. Als Wirtschaft und Gesellschaft können wir uns eine solch verzerrte Welt schlicht nicht leisten.

Die Innovationskraft der Schweiz ist gefordert. Für einmal nicht bei Fragen zum Tourismus, Forschung, Export oder dem Fachkräftemangel. Sondern schlicht und einfach in Bezug auf die Neugestaltung der zukunftsorientierten Medienlandschaft. Mit der Entwicklung von privatwirtschaftlichen, nachhaltig finanzierten Geschäftsmodellen. Zum Nutzen eines langfristig stabilen, belastbaren und gesunden Wirtschafts- und Lebensstandorts Schweiz.

Wir bleiben dran.

Christian Häuselmann ist ein passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elektrobike (1993), swisscleantech (2007) und SHIFT Switzerland (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. #trylongterm.

Braucht es einen Christoph Blocher der Schweizer Medien?

Steffen Klatt
26.04.2022

Elon Musk und Twitter: Für die Schweiz, ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre mediale Unabhängigkeit ist diese Hyperkonzentration globaler Informationskanäle in der Hand weniger amerikanischer Milliardäre gefährlicher als die angeblich so koloniale EU, schreibt Steffen Klatt.


Wer die grossen Kanäle des Informationsflusses in der Hand hat, der entscheidet, was andere wissen. Denn unsere Aufmerksamkeit ist beschränkt, ebenso unsere Fähigkeit, aktiv alternative Kanäle zu suchen. Und selbst wenn wir persönlich alternative Kanäle finden – wenn nur wenige andere sie nutzen, werden dort kaum Informationen zu finden sein.

Künftig entscheidet Elon Musk darüber, welche Themen weltweit am lautesten in die Welt hinausgeplärrt werden. Ein kleiner Dreher am Algorithmus hier, ein provokativer Tweet da - und schon dreht sich die öffentliche Debatte nur noch um dieses Thema, jenen Skandal, diese Celebrity. Donald Trump ist mit Twitter ins Weisse Haus gekommen; weil er nun nicht mehr twittern darf, hat Elon Musk halt Twitter gekauft.

Schon heute dröhnen Twitter, Facebook & Co die gesamte (westliche) Welt zu. Wenig überraschend dominieren dabei Themen, die in der Heimat dieser Internetgiganten beschäftigen: in den USA, genauer, in Kalifornien, genauer, in einem Mikrokosmos von ein paar Quadratmeilen rund um San Francisco. Mit Musk am Twitter-Drücker wird diese Dröhnung nun auch noch gemäss dessen politischen – und vielleicht auch wirtschaftlichen – Interessen feingesteuert.

Die Schweiz kommt in dieser Dröhnung höchstens noch am Rande vor. Sie ist innerhalb von anderthalb Jahrzehnten von einer hochgradig wettbewerbsfähigen – und selbstbewussten – Volkswirtschaft mit einem stolzen Medienplatz zu einer intellektuellen Kolonie Silicon Valleys abgestiegen. Jede Mode, am Laufmeter in jener Digital-Agglo von San Francisco konfektioniert, wurde sofort in die Schweiz geholt, als Weisheit letzter Schluss ausgegeben und kopiert. Viele Manager, die etwas auf sich hielten, zogen für ein „Sabbatical“ – English is a must – ins Silicon Valley, um der Zukunft ins Auge zu schauen.

Woher sollten sie es auch besser wissen? Die heimischen Schweizer Medien haben ja weitgehend aufgehört, vertieft über Wirtschaft, Unternehmen und Innovation ausserhalb der gerade aktuellen Moden zu berichten. Unternehmen, die nicht börsenkotiert sind, kommen in den Schweizer Medien kaum noch vor. Ein paar Skandalgeschichten wie über die in dieser Hinsicht sehr produktive Credit Suisse oder wie der tiefe Fall des Ex-Raiffeisenchefs Pierin Vincenz verdecken die Leere in der Substanz.

Und wie sollen sich die Schweizer Medien auch noch gute Berichterstattung über Wirtschaft, Unternehmen und Innovation leisten? Sie haben sich ja die Butter vom Brot nehmen lassen und zugeschaut, wie die schönen Werbegelder nach Kalifornien abfliessen statt in ihre Kassen. Google, Facebook, LinkedIn & Co holen heute mehr Umsatz aus der Schweiz, als Tamedia, die NZZ Medien, CH Media und die kleineren Zeitungsverlage zusammen. Und als sei das nicht genug, haben Ringier und die Tamedia-Mutter TX Group die lukrativen Rubrikenportale in eine eigene, hochprofitable Firma ausgelagert – und amerikanische Investoren daran beteiligt. Wie soll da guter Journalismus in der Schweiz finanzierbar sein?

Braucht es einen Christoph Blocher, der wie einst gegen die achso-koloniale EU nun auch für die Unabhängigkeit der Schweizer Medien und Informationsflüsse eintritt? Vielleicht nicht gerade Christoph Blocher, der bei der kurzzeitigen Übernahme der „Basler Zeitung“ kein glückliches Händchen gehabt hat. Aber es braucht wieder innovative Medienunternehmer, die anderes können, als den Abfluss von Werbegeldern nach Kalifornien mit dem Abbau journalistischer Leistungen zu beantworten.

Die Twitter-Übernahme durch Musk ist ein Warnschuss auch an die Schweizer Medien. Wird er gehört?

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.

Vom Wachstum zum Rhythmus

Christian Häuselmann
20.04.2022

Die Zeiten des linearen Wachstums sind vorbei. Die Gesellschaft muss wieder lernen, in Kreisläufen zu leben – wie die Natur es vorlebt. Doch im Kreislauf braucht es auch den Schrumpf-Prozess, schreibt Christian Häuselmann. Schrumpfen bildet derzeit die grösste Wachstumschance.


Was verstehst Du unter Nachhaltigkeit? Diese Frage beantwortete ich in einem Interview im Oktober 2020 wie folgt: “Wegen meiner grünen Skijacke wurde ich letzten Winter gefragt, ob ich jetzt auch auf die grüne Welle aufgesprungen sei. Das stört mich nicht. Es zeigt, dass Nachhaltigkeit in der Breite angekommen ist. Bereits als Jugendlicher interessierten mich diese Fragen, darum habe ich 1993 mit zwei Kollegen das FLYER Elektrobike lanciert. Heute ist das Thema Nachhaltigkeit jedoch bewusst zu erweitern – hin zur Diskussion einer langfristig orientierten Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft.

Zentral ist dabei die Wachstumsfrage. Es ist so banal wie schwierig zu begreifen: dauerndes Wachstum gibt es nicht. Punkt. Wir werden als Menschen ja auch nicht 500 Meter lang. In der Natur ist alles zyklisch organisiert, in Kreisläufen, mit systemischen Rückkoppelungseffekten, mit Ebbe und Flut, Vollmond und Neumond, mit Wachstums- und Ruhephasen. Das ist das Erfolgsrezept.

Der tiefsitzende Fehler ist, dass Erfolg heute fast ausschliesslich mit finanziellem Wachstum verwechselt, entsprechend gemessen und auch gesellschaftlich honoriert wird. Von diesem Denken werden wir uns in den nächsten Jahrzehnten verabschieden. So paradox es tönt: ich bin überzeugt, dass regionale, langfristige und sinnorientierte Schrumpf-Strategien die grössten Wachstumschancen bieten.”

Das war die Antwort, vor anderthalb Jahren. Seither haben wir erlebt, wie sich die Welt nochmals markant verändert hat. Mit fast täglich neuen Überraschungen, mit zunehmend extremen Ereignissen, in zunehmend rascher Abfolge. Warum? Wir sind heute in den stark steigenden Bereichen der exponentiellen Kurven angekommen, von denen wir seit ziemlich genau 50 Jahren wissen: 1972 hat der Club of Rome seine erste Studie zu den Grenzen des Wachstums veröffentlicht. Walter Stahel aus Genf publizierte 1976 das wohl weltweit erste wissenschaftliche Paper zur Kreislaufwirtschaft, und 1982 war er Mitgründer des Instituts für Produktdauer-Forschung, “The Product Life Institute”.

Dummerweise und offensichtlich biologisch bedingt sind wir Menschen auf lineares Denken ausgerichtet. Systematisch unterschätzen wir exponentielle Entwicklungen. Wir begreifen Exponentialität nicht, blenden sie unbewusst und bewusst aus. Es ist menschlich, es ist verständlich und erklärbar. Aus einer kurzfristigen Perspektive heraus scheint es unser Leben einfacher zu machen. Direkte Folge ist, dass wir laufend einseitig informierte Entscheide treffen.

Die gute Nachricht ist, dass wir erstens ein ganzes Leben lang lernen können, und dass uns zweitens die Natur einmal mehr zeigt, was die Lösung ist. Eine Tomatenpflanze kann ja auch nicht über Monate immer mehr Tomaten produzieren. Der Wald braucht den regelmässigen Flächenbrand – in unseren Augen eine Katastrophe – damit sich das Waldsystem erneuern und langfristig gesund und belastbar entwickeln kann. Wenn zu viele Hasen die Wiesen und Felder abgrasen, wächst die Fuchs-Population. Wenn zu viele Füchse dann entsprechend zu wenig Hasen fressen können, vermindert sich die Meute wieder. Das ist stark vereinfacht, klar. Aber dieser ewige Rhythmus ist das Grundprinzip der Natur, das sich seit ein paar Millarden Jahren ganz gut bewährt.

Deshalb bin ich heute mehr denn je überzeugt, dass regionale, langfristige und sinnorientierte Schrumpf-Strategien die grössten Wachstumschancen bieten.

Wir sollten auch den Wert negativer Rückkopplungen wieder entdecken und schätzen lernen, und diese Balance-Mechanismen gezielt in unsere Strategien und Arbeiten einbauen. Also genau das Gegenteil, was etwa die Notenbanken weltweit vorleben: Als Antwort auf die letzte Finanzkrise von 2008 drucken sie seit fast zehn Jahren jeden Monat Geld in schwindelerregenden Millarden-Höhen und beglücken kurzfristig orientierte Hoch-Risiko-Investoren und Geschäfts-Akrobaten mit Negativzinsen. Ein solches Finanz-Experiment haben wir in unserer jahrtausendealten Menschheitsgeschichte noch nie gewagt. Die tatsächlichen Auswirkungen werden wir erst in 10-20 Jahren richtig bewerten und einordnen können.

Nebst allen Herausforderungen ist es deshalb ein Privileg unserer Zeit, dass wir diese Transformation vom Wachstum zum Rhythmus aktiv mitgestalten dürfen. Wo Erholung und Rückbau wieder zur überlebenswichtigen Chance werden, zum zentralen Kern von langfristig orientierten, zukunftsfähigen Lösungen.

Rhythmus als melodischer Fluss, als neuer Taktgeber und Wegweiser zur Gestaltung einer langfristig nachhaltigen Lebenswelt.

Da trommelt was im Gebüsch, hörst Du es auch?

Christian Häuselmann ist ein passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elektrobike (1993), swisscleantech (2007) und SHIFT Switzerland (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. #trylongterm.

Konnektivität: Verbindungen schaffen durch Kommunikation

Christian Huggenberg
19.04.2022

Die Welt steht an einer Zeitenwende, beschleunigt durch aktuelle Ereignisse. In solchen Zeiten rückt die Welt zusammen, verlässliche Partner sind gefragt, digitaler Austausch und Vernetzung sind überlebenswichtig geworden. Konnektivität ist das Wort der Stunde, schreibt Christian Huggenberg.


Unsere Welt befindet sich in einer Phase des radikalen Wandels. Die Treiber dieses Wandels sind die bekannten Megatrends: Globalisierung, Urbanisierung, Digitalisierung sowie Konnektivität. Jeder dieser Trends sorgt alleine schon für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Zusammengenommen verstärken sie sich gegenseitig, wodurch unser tägliches Handeln und Zusammenleben fundamental auf den Kopf gestellt wird.

Zeitgleich werden wir gerade übelst von der Geschichte eingeholt. Wie zurückversetzt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erleben wir Krieg, soziale und wirtschaftliche Verwerfungen und Krankheit. Diese Ereignisse verunsichern, während gleichzeitig die technologische Entwicklung rasant weiter fortschreitet.

In hoher Geschwindigkeit verabschiedet der digitale Wandel traditionelle Wirtschaftsmodelle und ruft neue soziale, kulturelle und ökonomische Muster hervor. Sharing-Plattformen disruptieren ganze Branchen, traditionelle Businessmodelle erodieren, neue Technologien halten Einzug in unsere Lebens- und Arbeitswelten. Die Welt sucht daher nach neuen Wegen, sich zu verbinden und zu vernetzen.

Dabei wird es für Individuen wie Unternehmen immer wichtiger, die Gesetzmässigkeiten der vernetzten Wirtschaft ganzheitlich zu begreifen. Voraussetzung dafür ist ein Interesse daran, wie diese Prozesse funktionieren und wie Menschen daran partizipieren können. Nein, das ist nicht Hochglanz auf Social Media, wie viele denken. Gefragt ist vielmehr Authentizität, die geschaffen wird durch Sachlichkeit und Fakten – also gute alte Nachrichtenwerte. Dafür braucht es ein Verstehen, wie wichtig es ist, sich selbst ins Bild zu bringen, Meinung zu äussern, sich zu Wort zu melden, um mit anderen in Kontakt treten zu können.

Erst Kommunikation schafft Verbindungen, macht verbindungsfähig = konnektiv. Wobei die sozialen Netzwerke dazu beitragen, trotz grosser Entfernungen in Kontakt zu treten oder zu bleiben und möglichst viele Informationen und Daten auszutauschen und zu teilen. So kommt es, wie auf Wikipedia nachzulesen ist, mit Hilfe von kommunikativer Konnektivität zu „grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen“. Durch das World Wide Web wird die Kommunikation in Echtzeit ermöglicht und diese kann als einer der bedeutendsten Bestandteile der Konnektivität gezählt werden. Diese Art der Kommunikation ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Folglich kann der Begriff der Konnektivität auch verwendet werden, um den „Wandel kultureller Räume und Orte“ zu bezeichnen.

Digitale Kommunikation ist in dieser Situation weltweit überlebenswichtig geworden. Die globale Verbreitung digitaler Medien und Technologien markiert eine neue menschheits-geschichtliche Epoche. Die Grundzüge dieser Netzwerkgesellschaft sind bereits heute gelegt. Je umfassender Unternehmen den Prozess der digitalen Transformation begreifen und je reflektierter sie ihn mitgestalten, umso mehr werden sie künftig davon profitieren. Das hat auch Elon Musk verstanden, der sich erst kürzlich beim Nachrichtendienst Twitter eingekauft hat.

Christian Huggenberg ist Journalist und Unternehmer. Er ist auch Verwaltungsratspräsident der Café Europe. Nachrichtenagentur AG, die unter anderem die Nachrichtenplattform punkt4.info herausgibt.

Die Schweiz muss ihre Freunde pflegen

Steffen Klatt
13.04.2022

Die Ukrainekrise und die Entglobalisierung haben Folgen für die Stellung der Schweiz in der Welt, besonders für ihre Europapolitik. Die Schweiz muss die Freunde pflegen, die sie hat, auch wenn sie nicht in allem mit ihnen einverstanden ist, schreibt Steffen Klatt. Der Isolationismus hat ausgedient.


Die Schweiz hat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit Sanktionen gegen den Aggressor reagiert, trotz ihrer Neutralität. Das ist auch richtig so: Das Konzept der Neutralität wurde geschaffen, um ein Gleichgewicht der Kräfte in Europa und der Welt zu ermöglichen, nicht, um es Aggressoren leicht zu machen, fremde Städte plattzuwalzen.

Selbst wenn die Schweiz nicht so klar Stellung bezogen hätte: Die schönen Jahre einer Welt scheinbar ohne Grenzen und mit freien Märkten fast überall sind vorbei. Noch lässt sich nicht absehen, in wie viele Lager die Welt zerfallen wird. Aber klar ist, in welchem Lager die Schweiz stehen wird – jedenfalls in der Wahrnehmung der Welt. Russland hat die Eidgenossenschaft auf die Liste der „unfreundlichen“ Länder gesetzt. China wird registriert haben, wie schnell die Schweiz die westlichen Sanktionen gegen Russland übernommen hat.

Die Schweiz ist Teil des Westens, und sie ist – die Geografie lässt sich nicht ändern – ein Teil Europas. Sie hat dabei noch Glück: Sie ist von Freunden umzingelt. Aber dieses Glück muss sie auch pflegen.

Die Schweiz hat in den „schönen Jahren“ der Globalisierung keine glückliche Hand im Umgang mit ihren Freunden gehabt. Die USA hat sie vor anderthalb Jahrzehnten vor den Kopf gestossen, als sie das Angebot eines Freihandelsabkommens ausschlug. Die Gespräche mit der EU über eine Modernisierung der bilateralen Beziehungen hat sie erst über anderthalb Jahrzehnte in die Länge gezogen und dann abrupt beendet. Dagegen hat sie ein Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen, von dem angesichts der chinesischen Selbstabschottung nicht mehr klar ist, was es noch wert ist.

Die Schweiz ist nicht allein verantwortlich für den nicht gerade perfekten Zustand ihrer Beziehungen zu den wichtigsten Freunden. Die amerikanische Aussenwirtschaftspolitik ist in den vergangenen Jahren sehr durch eigennützige Ziele geprägt gewesen. Die EU wiederum hat wenig Flexibilität gezeigt, wenn es um ihre Grunddogmen ging wie etwa die Personenfreizügigkeit.

Immerhin: Auch bei den Partnern der Schweiz bewegt sich einiges. Amerika engagiert sich unter Biden so stark in Europa wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die EU zeigt in der Ukrainekrise Geschlossenheit wie schon lange nicht mehr; selbst zwischen Brüssel und London fallen derzeit keine bösen Worte.

Die Schweiz kann dieses Fenster nutzen. Muss sie wirklich warten, bis eine Branche nach der anderen aus dem europäischen Binnenmarkt fällt, wie bisher Medtech und bald die Maschinenindustrie? Muss sie wirklich warten, bis die talentierten europäischen Forschenden lieber nach Deutschland als in die Schweiz gehen, weil diese nicht mehr dem europäischen Forschungsraum angehört?

Muss die Schweiz bis nach den Wahlen von 2023 warten, um auf Brüssel zuzugehen? Dann wartet sie vielleicht ewig, denn nach der Wahl ist vor der Abstimmung – die SVP wird schon rechtzeitig eine neue, angeblich gefährliche Initiative lancieren.

Der Schweizer Isolationismus à la SVP ist ein Schönwetterprodukt, entstanden nach dem Ende des Kalten Krieges: Wenn die ganze Welt in ewigem Frieden lebt, dann kann man auch seine eigenen kleinen Egoismen pflegen. Jetzt ist der ewige Frieden vorbei, der Isolationismus hat ausgedient.

Die Schweiz muss wieder das werden, was sie ihrer Lage und ihrem Charakter nach immer gewesen ist: ein aktiver Mitspieler im Konzert Europas.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.

Es braucht Debatte über bröckelnden Kitt der Gesellschaft

Manuel Flury-Wahlen
12.04.2022

Die Corona-Pandemie hat das Bild der Schweizer Gesellschaft von sich selbst geändert, schreibt Manuel Flury-Wahlen. Sowohl die Solidarität untereinander als auch der bröckelnde Kitt zwischen Gesellschaftsgruppen sind Teil einer neuen oder neu erkannten Wirklichkeit.


Der Bundesrat hat fast alle Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie für beendet erklärt. Der Sprecher von «10 vor 10» von SRF hat am selben Abend vom Weg zurück zur Normalität gesprochen. Niemand weiss, wann genau die Pandemie zu Ende sein wird und wann wir wieder von Normalität sprechen können. Wir wissen jedoch, dass die Pandemie unsere Gesellschaft durchgeschüttelt hat und dass das, was vor der Pandemie als normal galt, nach der Pandemie nicht mehr als normal gelten wird. Die Pandemie hält uns einen Spiegel vor, in dem wir sehen, was uns zusammenhält und was uns auseinandertreibt, wie wir miteinander und mit den sozialen und individuellen Gefährdungen unseres Lebens umgehen und wie wir als Gesellschaft zum Handeln kommen.

Was wir im Spiegel sehen:

- Die Einen, die wenigen, erfreuen sich über den Börsenboom und die Gewinne aus ihren Anlagen, während viele andere kaum mehr wissen, wie sie ihre Mieten und ihre Krankenkassenprämien bezahlen sollen oder gar auf Nahrungsmittelpakete von Caritas angewiesen sind.

- Die Einen, auch Leute in hoher gesellschaftlicher und politischer Stellung, reden von «Durchseuchung» und «Kollateralschäden», die es zu akzeptiere gelte, während die Anderen darauf aufmerksam machen, dass ältere Menschen oder Menschen mit gesundheitlichen Risiken eine genau gleiches Recht auf Leben haben wie alle anderen.

- Die Einen - viele Jungen - sind solidarisch, übernehmen Verantwortung und kaufen für gefährdete Nachbar:innen ein, vermitteln Haushalthilfen oder sammeln gar Gelder via «crowdfunding» für Menschen, die finanziell am Anschlag sind, während sich andere, in der Verantwortung für sich selber, wie es in der Bundesverfassung steht, über den Verlust ihrer Freiheiten, das zu tun, was ihnen beliebt beklagen und sich mit Trychlen und Glocken auf Plätzen tummeln und um Feuer tanzen.

- Die Einen wenden sich enttäuscht von den Behörden, der Politik und der Wissenschaft ab und flüchten in parallele Welten auf der Suche nach dem Hintergründigen, den alternativen Wahrheiten und neuen Gewissheiten, während die Anderen froh sind um die von der Wissenschaft gelieferten Erklärungen und Impfstoffe und sich etwa fragen, warum die verordneten Massnahmen hier zu Lande nicht strenger ausfallen.

- Die Einen - Skeptiker:innen, Massnahmegegner:innen, Verschwörungstheoretiker:innen - beklagen die Spaltung der Gesellschaft und wähnen sich als Opfer der Politik, der Behörden und der Mehrheit der Bevölkerung, gezwungen, sich testen zu lassen oder- ohne Zertifikat - vom öffentlichen Leben ausgeschlossen zu sein, während die anderen, die Mehrheit, die Einschränkungen als Schutz der Gesundheitsversorgung, aber auch der besonders Gefährdeten, der Risikopatient:innen, aber auch der Nichtgeimpften verstehen, ebenfalls ganz im Sinne der Bundesverfassung, die jede Person aufruft nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beizutragen.

Wir erinnern uns sehr gut. Kurz nach Beginn des ersten «lock down» tauchte die Frage auf, wie wohl das neue Normal aussehen würde. Würde die grosse Solidarität – vor allem vieler junger Leute mit den älteren und gefährdeteren Semestern – ein neues Markenzeichen unseres Zusammenlebens sein?

Über die verschiedenen Pandemiewellen hinweg ist vieles normal geworden, wir waschen uns selbstverständlich häufig die Hände, grüssen uns mit einer Faust oder mit dem Ellbogen. Inzwischen ist sogar das Maskentragen zu einer Routine geworden. Wir haben uns an die regelmässigen Demonstrationen der Massnahmegegner:innen und an das neue Image, das sich die Trychler – fast ausschliesslich Männer – gegeben haben, gewöhnt. Die Gelder von Bund und Kantonen inkl. Kurzarbeitsentschädigung fliessen fast unbemerkt und die Medieninformationen von BAG und Bundesrat gehören zum täglichen Ritual.

Mit der Lockerung der Massnahmen freuen wir uns selbstverständlich auf die wiedergewonnenen Möglichkeiten, uns ohne Beschränkungen treffen und miteinander Party machen zu dürfen. Wir beginnen zu erkennen, was neu oder was anders sein könnte:

- Wir haben erfahren, wie die Pandemie das Pflegepersonal – und nicht zu vergessen die vielen Putzfrauen und -männer – in den Spitälern an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gebracht hat und dass unsere Spitäler nicht ohne die Tausenden von Fachleuten aus den Nachbarländern auskommen. Auch dank der Pflegeinitiative werden Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal wichtiger.

- Wir haben gesehen, dass die Pandemie, so die Republik am 16.2.22, der Wissenschaft grosse Sprünge erlaubt hat, denken wir an das gesteigerte Tempo, «in welchem heute Wissenschaftler ihre Resultate öffentlich verfügbar machen, diskutieren, allenfalls verwerfen oder begutachten und publizieren lassen. Oder die mRNA-Impfungen, die bald gegen andere Krankheiten eingesetzt werden könnten. Sowie die gesteigerte Aufmerksamkeit für chronische Krankheiten.»

- Wir haben auch erfahren, wie verletzlich die weltweiten Warenströme und Lieferketten sind und dass die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern teilweise von wenigen Produktionsstätten in fernen Ländern abhängt. Die Absichten, Grundstoffe für Medikamente oder Computerchips in Europa herzustellen, sind Beispiele dafür, dass das Dezentrale verlässlicher und letztlich ökonomischer ist als das Zentrale und vermeintlich billigere. Die Ökonomen werden die sogenannten Skaleneffekte wohl neu ermitteln müssen. Grösser ist nicht (mehr) immer besser, weniger gross kann qualitative Vorteile bieten, eben zum Beispiel eine grössere Versorgungssicherheit.

- Wir haben gelernt, dass Viren keine Staatsgrenzen kennen, dass Mutationen überall geschehen können, vor allem dort, wo Mittel fehlen, rasch über den nötigen Impfstoff verfügen zu können. Und, wo Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weil sie vielerorts wegen der Einschränkungen ihre Erwerbsquellen verloren haben, sind sie gezwungen, anderswo ein Auskommen zu finden. Sie migrieren. Oder sie bedürfen humanitärer Hilfe «vor Ort». Die lobenswerten Bemühungen der WHO, mit dem CoVax-Programm allen Menschen Zugang zu Impfstoff zu verschaffen, ist an den nationalen, egoistischen Politiken und Interessen – Stichwort Patentschutz – gescheitert. Die einzelnen nationalen Politiken und Massnahmen greifen nur dann, wenn sie sich nach international vereinbarten Zielen richten und koordiniert sind. In Zeiten der Klimakrise ist dies eine der wichtigsten Einsichten.

Mit der Pandemie haben wir ein anderes Bild unserer Gesellschaft gewonnen. Sowohl die Solidarität untereinander als auch der bröckelnde Kitt zwischen Gesellschaftsgruppen sind Teil einer neuen oder neu erkannten Wirklichkeit.

Es gibt kein neues Vorher. Unsere Gesellschaft ist eine andere geworden, wir haben erkannt,

… dass wir als Menschen in der Schweiz Teil der globalen Gesellschaft sind und dass es uns nicht egal sein kann, wenn das Virus irgendwo auf der Welt, oder auch mitten unter uns, weitere Menschen infiziert, oder, um zum Klima zu kommen, die Erhitzung der Atmosphäre Millionen von Menschen auf die Flucht, auch zu uns, treibt;

… dass es, wenn der innere Kitt bröckelt, eine Debatte darüber braucht, wie denn der Kitt beschaffen sein soll, wie wichtig uns beispielsweise die Gesundheit aller für ein gutes Leben ist;

… dass Freiheiten nie absolut sind, sich die eigenen Freiheiten an denjenigen der anderen messen und wir entsprechend Verantwortung individuell und für die Gemeinschaft, das Gemeinsame tragen. Dies hat uns das Maskentragen gelehrt: Wir schützen primär den oder die Nächste und erst in zweiter Linie uns selber; und

… dass es keine Normalität ein für alle Mal gibt, dass sich das, was wir als normal bezeichnen, in einem steten Wandel befindet und immer wieder neu ausdiskutiert werden muss.

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert und ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Beitrag ist auch auf dem privaten Blog von Manuel Flury-Wahlen publiziert.

Auch die Entglobalisierung muss organisiert werden

Steffen Klatt
30.03.2022

Die Weltwirtschaft wird entglobalisiert. Die Vermeidung politischer Kollateralschäden und sichere Lieferketten werden wichtiger als neue Märkte und niedrige Produktionskosten. Diese Entglobalisierung muss organisiert werden, schreibt Steffen Klatt. Da sind auch die Schweizer Aussenhandelsförderer gefordert.


Die Globalisierung ist vorbei, vorerst zumindest. Zwar ist noch offen, wie der heisse Krieg in der Ukraine endet. Aber im besten Fall endet die Welt vermutlich in einem Kalten Krieg 2.0, mit dem immer noch wohlhabenden Westen auf der einen Seite, autoritären Staaten um Russland und vielleicht China auf der anderen Seite und einer „Dritten Welt“, die sich aus dem Streit herauszuhalten versucht.

Das hat Folgen für die Wirtschaft. Rohstoffe können nicht mehr dort bezogen werden, wo sie am billigsten sind, sondern nur noch dort, wo sie zu haben sind. Fertigprodukte können nur dort verkauft werden, wo keine Sanktionen drohen – und Dienstleistungen nur dorthin, wohin die eigenen Mitarbeitenden reisen können. Lieferketten werden um so sicherer sein, je kürzer sie sind. Die Inflation wird anziehen, weil die billigen Arbeitskräfte der globalisierten Welt nicht mehr zur Verfügung stehen und die Skaleneffekte der freien Weltmärkte rückgängig gemacht werden.

Das hat Folgen für jedes Unternehmen. „Geiz ist geil“ ist endgültig vorbei: Nicht mehr das Billigste ist das Beste, sondern das langfristig Lieferbare. Redundanz tritt im Namen der Versorgungssicherheit an die Stelle von „just in time“. Die Diversifizierung des eigenen Kundenstamms stärkt die eigene wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Dafür müssen die eigenen technologischen Kompetenzen womöglich in neue Produkte und Dienstleistungen übersetzt werden.

Die Entglobalisierung hat auch Folgen für die Aussenwirtschaftspolitik. Drei Jahrzehnte lang hat sie nur ein Ziel gehabt, die Vorteile der Globalisierung für die Schweiz nutzbar zu machen. Nun dreht sich der Wind. Heute brauchen Schweizer Unternehmen Hilfe bei der Neuorientierung in einer unruhigen Welt, bei der Neuknüpfung von Lieferketten und der Absicherung gegen die Unsicherheit der nicht mehr freien Märkte.

Die Schweizer Aussenhandelsförderer können dafür auf einem guten Fundament aufbauen. Der offizielle Aussenwirtschaftsförderer Switzerland Global Enterprise hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Netz aus über zwei Dutzend Swiss Business Hubs in aller Welt aufgebaut. Lange dienten sie vor allem der Förderung des Exports und von Ansiedlungen in der Schweiz – womöglich können sie nun auch bei der Sicherung der Lieferketten helfen.

Auf der Seite der privatwirtschaftlichen Organisationen kennen die bilateralen Handelskammern ihre Märkte oft bis ins Detail und pflegen enge Beziehungen zu ihren Mitgliedsfirmen. Swiss export wiederum ist zur grössten privaten Organisation der Exportwirtschaft in der Schweiz geworden. Andere wie Handel Schweiz haben sich schon seit langem mit der Sicherung der Lieferketten befasst.

Bereits in Corona-Zeiten haben die verschiedenen Akteure der Schweizer Aussenwirtschaft verstärkt auf Zusammenarbeit umgestellt. Dazu gehören informelle Stakeholder-Dialoge, Runde Tische Exportwirtschaft bei Wirtschaftsminister Guy Parmelin oder gemeinsame Veranstaltungsreihen wie diejenige der Handelskammern in Süd- und Ostasien.

Noch basiert diese Zusammenarbeit stark auf informellen Netzwerken und Kontakten. Noch hapert es beim verlässlichen Fluss der Informationen, sowohl untereinander als auch von den Organisationen zu den Unternehmen und zurück. Aber wenn die Schweiz ihre starke innere Vernetzung in einen Standortvorteil ummünzen kann, dann wird sie auch in Zeiten der Entglobalisierung zu den Gewinnern gehören.

Die Schweiz hat sich immer wieder an wechselnde Rahmenbedingungen anpassen können. Sie muss es nur wollen.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.

Schweizer KMU brauchen Antwort auf geopolitischen Umbruch

16.03.2022

Die Doppelkrise von Pandemie und Ukrainekrieg führt zu einem radikalen Umbau der Weltwirtschaft. Alte Märkte verschwinden, neue Märkte kommen hinzu, Lieferketten werden neu geknüpft. Der Umbau schafft Chancen – für diejenigen Unternehmen, die sichtbar sind, schreibt Steffen Klatt.


Die Welt erlebt einen epochalen Umbruch wie zuletzt am Ende des Kalten Krieges. Die doppelte Herausforderung von Corona-Pandemie und Ukrainekrieg beendet die Zeit der weltweit freien Märkte und der Globalisierung. Unabhängig vom Ausgang des Ukrainekrieges: Die Welt kehrt nicht zur Zeit vor dem März 2020 zurück, als ein Land nach dem anderen seine Wirtschaft in den sogenannten Lockdown geschickt hat.

Dieser Umbruch trifft die Schweizer Wirtschaft besonders hart, ist sie doch wie kaum eine andere exportorientiert und global ausgerichtet. Der Notfallmodus, in den die Schweizer KMU vor zwei Jahren gewechselt sind, wird zum Dauerzustand.

Schweizer KMU werden schon heute von stockenden oder gar unterbrochenen Lieferketten betroffen: Auf den Weltmeeren herrscht Stau, die Hersteller von Chips können die Nachfrage nicht befriedigen.

Jetzt brechen ganze Märkte weg: Russland existiert als Markt nicht mehr und wird so schnell nicht in die Weltwirtschaft zurückkehren. Die Ukraine fällt als verlängerte Werkbank Europas und als IT-Hub aus. China hat sich in den Corona-Jahren abgeschottet. Wird der einstige Zukunftsmarkt seinen Glanz wiedergewinnen?

Die Doppelkrise stellt Selbstverständlichkeiten in Frage: Wird es künftig noch genügend Energie für alle und für das ganze Jahr geben? Kommt das täglich Brot auch ohne den Weizen aus Russland und der Ukraine auf den Tisch?

Jedes Unternehmen muss auf den nun beginnenden Umbau der Weltwirtschaft reagieren. Dieser bietet aber auch Chancen. Die wichtigste: Der Umbau betrifft alle. Jedes Unternehmen muss sich umschauen, ob es neue Zulieferer braucht, neue Märkte oder sogar neue Produkte und Dienstleistungen. Damit werden völlig neue Beziehungen zwischen Unternehmen selbst unterschiedlicher Branchen möglich. Völlig neue Wertschöpfungsketten werden geknüpft.

Damit ein Unternehmen an dieser Neuordnung der Märkte und Lieferketten teilnehmen kann, muss es sichtbar sein, weit über seine bisherigen Kunden und Partner hinaus. Es muss proaktiv zeigen, was es kann und was es macht, damit andere Unternehmen sie in ihre Planungen einbeziehen können. Nur wenn Schweizer KMU die Phantasie der anderen anregen, haben sie eine Chance in der Wirtschaft der Zukunft.

Viele Schweizer Unternehmen stecken in einem strukturellen Schlummerzustand. Sie funktionieren hierarchisch, bürokratisch, auf Absicherung des Erreichten geeicht. Viele Unternehmen haben im Dauererfolg der Vergangenheit auf Autopilot gestellt.

Das gilt auch für die Unternehmenskommunikation: Viele Unternehmen schicken Medienmitteilungen in eine Welt, in der es kaum noch klassische Medien gibt, die sich für KMU interessieren. Sie geben viel Geld für Werbung in Social Media-Kanälen aus, die irgendwo bei den hunderten Millionen Nutzern von LinkedIn bis TikTok versickert.

Wer jetzt nicht auf strategische Führung umschaltet, hat verloren. Strategische Führung beginnt mit Kommunikation: Wenn Ihr Unternehmen draussen in der Welt nicht sichtbar ist, dann nimmt es an der Neuordnung der Lieferketten nicht teil.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info und zusammen mit dem Verband swiss export die englischsprachige Plattform swisstrade.com betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.

Energieeffizienz innovativ finanzieren

Alain Schilli
02.03.2022

Die Energiewende ist nur mit einer Steigerung der Energieeffizienz zu schaffen. Doch die nötigen Investitionen sind hoch, der Ertrag fällt erst in der Zukunft an. Das Finanzierungsmodell von BASE bietet auch für KMUs eine Lösung, schreibt Alain Schilli.


Wer kennt nicht diese Herausforderung: Als KMU-Inhaber stehen Sie vor Erneuerungsinvestitionen der Klimaanlage oder des Druckluftsystems. Die Investition in eine Best-in-Class Technologie ist jedoch teurer als eine konventionelle Anlage. Das Leistungsversprechen des Technologielieferanten und die zu erzielenden Kosteneinsparungen stehen im Raum. Fehlende Garantiezusagen oder mangelndes Vertrauen in die Technologie stellen Barrieren dar.

So stellt die Kühlung eine der grossen Herausforderungen bei der Energiewende dar. Weltweit gehen 10 Prozent des Stromverbrauchs auf Kühlgeräte und AC-Systeme zurück. Ein Grund für den hohen Energiebedarf liegt im Einsatz von veralteten, wenig effizienten Technologien. Modernste Kühltechnologien sind deutlich klima- und ozonfreundlicher, jedoch sind die Anfangsinvestitionskosten höher.

Um die Finanzierung solcher Best-in-Class Anlagen zu mobilisieren und gleichzeitig deren wirtschaftliche Risiken zu reduzieren, hat die Stiftung BASE mit der Unterstützung von internationalen Partnern die Initiative Cooling-as-a-Service (CaaS) ins Leben gerufen.

Ein Vorteil für die Kunden ist das Geschäftsmodell von CaaS: Sie bezahlen nur die genutzte Kühlleistung. Der AC-Technologieanbieter oder ein eigens dafür gegründetes Unternehmen ist Eigentümer der Anlage und nimmt den gesamten Betrieb und Unterhalt wahr. Bei Bedarf werden Finanzinstitute eingebunden und bieten Finanzkapazitäten etwa mit einer Sale-Lease-Back-Lösung an.

Ein weiterer Vorteil entsteht beim Anlagenbesitzer und CaaS-Anbieter: Dank dem ökonomischen Anreiz zur Kreislaufwirtschaft benötigen diese Anlagen beispielsweise weniger Material pro Nutzeneinheit, sind langlebiger und haben keine Schadstoffe, das heisst sie setzen das Cradle-to-Cradle-Prinzip um.

Ein Beispiel dafür ist das Elpro Business Center mit Schule in Pune, für welches der Industriepartner Kaer die Kühlung als Serviceleistung liefert. Er übernimmt die gesamte Finanzierung und Betrieb der Anlage.

Ein anderes Beispiel sind sogenannte Cold-Hubs, dezentrale Off-Grid-Kühlräume für Nahrungsmittel oder Lagerung von Vakzinen. Solche Cold-Hubs werden zurzeit in Nigeria eingeführt, Kleinbauern erhalten über eine App Zugang zu diesen Kühleinrichtungen.

Mittlerweile hat sich Caas für AC- und Kühlsysteme für Infrastrukturanlagen zu einer globalen Allianz aus 65 Firmen und Organisationen auf vier Kontinenten gemausert. Darunter sind Industriepartner wie Kaer, ABB, JohnsonControls oder Belimo. 18 Firmen nutzen CaaS in ihrem Betrieb.

Solche adaptierten Finanzmechanismen bieten sowohl für die Privatwirtschaft als auch für die öffentliche Hand Chancen. Kerngeschäfte der Finanzinstitute lassen sich unternehmerisch mit ihren Ambitionen für Net-Zero und Grünen Anlagen kombinieren. KMUs, Privathaushalte wie auch Gemeinden können als Kunde vermehrt solche Lösungen bei Technologieanbietern oder Stadtwerken nachfragen.

Alain Schilli, Umweltökonom und Biologe, ist Inhaber von Magnefico GmbH und Mitgründer von Shift Switzerland als Teil von Circular Economy Switzerland. Er ist als Unternehmer, Start-up-Mentor und Advisor tätig, mit Fokus auf internationale Unternehmensentwicklung, Impact Reporting, naturinspirierte Innovation, Sustainable und Carbon Finance, dies in Sektoren wie Energie, Chemie, Landwirtschaft und Rohstoffe. Mit der Stiftung BASE arbeitet er seit der Gründung vor 20 Jahren.

Stadt oder Land – wer lebt das schweizerisch richtige Leben?

Manuel Flury
07.10.2021

Wer den Stadt-Land-Graben bewirtschafte, unterschlage die Mechanismen einer äusserst bewährten föderalen, demokratischen Praxis, kommentiert Manuel Flury. Einzig gemeinschaftlich zu denken und zu handeln, komme einem Schweizer Ideal nahe.


Vor einiger Zeit hat der Präsident der wählerinnen- und wählerstärksten Partei der Schweiz mit einer Polemik zu den „linksgrün-wählenden Schmarotzern“ in den Städten hat nicht nur die Medienöffentlichkeit mobilisiert. Auf der SVP Webseite findet sich die Polemik in schriftlicher Form. Wer hat sich seither nicht schon in privaten Kreisen über den sogenannten Stadt-Land Graben echauffiert? Meinungen wie „Ja, genau, endlich spricht dies jemand aus!“ oder „Was soll dieser Versuch, die Menschen in der Schweiz gegeneinander aufzuhetzen?“ werden an den virtuellen und hölzernen Stammtischen geäussert. Und in der meistgelesenen (Gratis-)Tageszeitung der Schweiz brüstete sich jüngst ein junger St.Galler Autofan: „Ein Subaru passt nicht zu einem Stadtzürcher!“ Ist er froh darüber?

Die Polemik über den Stadt-Land-Graben bewirtschaftet die fast mythischen Vorstellungen darüber, was ländliches von städtischem Leben unterscheidet und damit Gräben für Kämpfe in der politischen Auseinandersetzung öffnet: „Warum sollen die Stadtbernerinnen und -berner mit einer Tramlinie noch bequemer nach Bümpliz fahren können, wo wir doch in unserem Tal nur alle Stunden und nur tagsüber mit einem Bus nach Interlaken fahren können?“ „Warum sollen wir Städterinnen und Städter den Bauernbetrieben mit Millionen Steuergeldern unter die Arme greifen, wenn sie doch mit ihren Pestiziden unser Trinkwasser vergiften?“

Aber: „Sind denn die so?“ fragt sich wohl manch eine auf dem Land, „meine Schwester lebt doch auch in der Stadt“? Und manch ein anderer denkt: „Eben haben wir doch unsere besten Freunde auf dem Land besucht!“

Sicher, in vielen Abstimmungen stimmen die Städte anders als die Landgemeinden und die Kantone, die sich als ländliche verstehen und in Vorlagen mit dem Ständemehr etwa mal die Oberhand behalten, trotz eines Volksmehrs. Klar, der Alltag auf dem Land unterscheidet sich vom Alltag in der Stadt. Die Bäuerin im Eriz ist auf gute Strassen und einen Privatwagen angewiesen, will sie sich mit dem Lebensnotwendigen in Thun oder in Bern versorgen. Und wir benötigen, ohne auf einen Privatwagen angewiesen zu sein, einen sicheren öffentlichen Verkehr, um dasselbe in stadtnaher Umgebung zu tun. Wir sind froh, dass die Bäuerin eine Theateraufführung in Bern besuchen kann, ohne dass sie dabei den kostendeckenden Preis bezahlen muss. Neben den kantonalen Beiträgen macht dies auch die Stadt möglich. Ebenso froh ist die Bäuerin wohl, wenn wir auf unserer Wanderung im Gasthof ihrer Schwägerin eine Meringue oder ein Bier konsumieren. Wir schätzen es, wenn der Wanderweg quer über ihre Weiden gegen die Kühe eingezäunt ist und wir die schönen Buchen- und Nussbaumhaine geniessen dürfen. Neben den Subventionen und dem Finanzausgleich von Bund und Kantonen ermöglicht uns dies die Bäuerin.

Warum unterschlägt der Parteipräsident bewusst diese Mechanismen einer äusserst bewährten föderalen, demokratischen Praxis und die gegenseitige Achtung und den Goodwill? Ausgerechnet am Nationalfeiertag traten er und seine Partei die Polemik los. Für sie sei klar, wer in diesem Land auf Kosten anderer lebe und wo diese lebten, mit der irren und vielfach widerlegten Behauptung, das Land finanziere die Städte. Auf die Frage, warum denn „auf dem Land“ Kindertagesstätten rar sind und der fehlende, gut ausgebaute öffentliche Verkehr schuld daran ist, dass die Pendlerinnen und Pendler auf ein Privatfahrzeug angewiesen sind, bleibt die Partei die Antwort schuldig – sie, die in so vielen Gegenden die Politik bestimmt.

Es ist eine Binsenwahrheit: Wo kein „Land“ ist, gibt es keine „Stadt“ und wo es keine „Stadt“ gibt, ist auch kein „Land“. Und dort, wo Siedlungen einen „städtischen“ Charakter annehmen, dort wo die „Stadt“ auf das „Land“ hinauswächst, entstehen die Vorstädte, die Agglomerationen. Interessanterweise sind es gerade die Gemeinden auf dem „Land“, welche die Siedlungsentwicklung „in Richtung Stadt“ mit überdimensionierten Bauzonen fördern. Macht die Landluft nun frei oder sucht das „Land“ den Anschluss an die „Stadt“? So oder so, die Schweiz wird zu einem Agglo-Land, einem Land der (Vor-)Städte! Ist es diese Perspektive, vor der sich der Präsident mit seiner Partei fürchtet?

Als Präsident einer Volkspartei wähnt er im Namen des Volkes zu sprechen und lässt keine Zweifel darüber aufkommen, wer in der Schweiz zum Volk, zu seinem Volk gehört: die Menschen, die „auf dem Land“ wohnen, wobei er gleich die Menschen der Vororte, der Agglomerationen mit einschliesst. Es wird klar: Ihm geht es in keiner Art und Weise um eine sachliche Auseinandersetzung, wie sich denn „Land“ und „Stadt“ beziehungsweise wie sich eine „ländliche“ und ein „städtische“ Lebensweise in der Schweiz unterscheiden und was dies für eine Politik bedeuten würde, die auf die jeweiligen Lebensweisen zu antworten weiss. Ihm und seiner Partei geht es nicht um das Gemeinsame und den dabei nötigen Ausgleich, beispielsweise zwischen der autofahrenden Bäuerin aus dem Eriz und uns, die wir mit dem öV mobil sind. Wir fragen uns: Kann nur eine Bewohnerin oder ein Bewohner auf dem Land die richtige schweizerische Identität leben? Kann eine städtische Identität keine schweizerische sein? Was und wem nützt es, einen Keil zwischen schweizerisch richtigem Leben auf dem Land und unschweizerischem, nicht richtigem Leben in den Städten zu treiben?

Auf Velofahrten „über das Land“ begegnen wir in letzter Zeit häufig einem kleinen Plakat bäuerlicher Kreise. Unter dem Titel „Stadt und Land, Hand in Hand“ fordert uns das Plakat auf, Rücksicht zu nehmen auf die Tiere und die Kulturen, keinen Abfall zurückzulassen, uns von den Obstbäumen nicht selbst zu bedienen und die Feldwege frei zu halten. Von den Menschen, die auf dem Land wohnen, wünschen wir uns eben solche Rücksicht: bei Grossveranstaltungen und Partys, bei Autofahrten in Quartierstrassen – die teuer erstellten Park and Ride Anlagen bleiben oft leer – oder bei den vielen Demos – speziell in Coronazeiten – während denen wir in den blockierten Bussen stecken bleiben.

Wir wünschen uns eine Politik, die „Alten, Ausgesteuerten und Asylsuchenden“ (AAA) – typische Stadtbewohnerinnen und -bewohnern – auch auf dem Land ein gutes Leben ermöglicht.

„Stadt und Land, Hand in Hand“ – Keine Zauberformel, schlicht schweizerisch angemessen und richtig!

Manuel Flury ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert und ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Schuldzuweisungen verhindern Innovation

Manuel Flury
03.05.2021

Wer aktiv nach Problemlösungen sucht und dabei neue Wege geht, riskiert Fehler zu begehen. Und das dürfe nicht mit Schuld belegt werden, sagt Manuel Flury. Er schlägt dabei eine Brücke von der fehlerbehafteten Pandemie-Bewältigung zu einer Fehlerkultur, die auch in der Wirtschaft gefragt ist.


Wer mag sich nicht an Szenen in der Kindheit erinnern, als wir uns bei den Eltern für ein Fehlverhalten entschuldigen mussten, oft noch mit einem „Schäme Dich“ als Nachsatz, um deutlich zu machen, dass wir etwas wirklich Verwerfliches getan hatten? Waren wir uns immer einer Schuld bewusst? Wem schuldeten wir etwas? Den Regeln, die uns die Eltern auferlegt hatten?

In der Diskussionssendung „Club“ von SRF am 30. März 2021 verlangte die Moderatorin von der anwesenden Direktorin des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), dass sie sich für die Fehler, die in der Bewältigung der Pandemie passiert sind, entschuldigen solle. Die Moderatorin liess es nicht bei einer Erklärung der Anstrengungen bewenden, sie forderte eine öffentliche Entschuldigung, während der laufenden Sendung.

Was hat sich das BAG zu Schulden kommen lassen? Gegen welche Regeln hat das Amt verstossen? Hat das Amt in seinen Aktivitäten das Wohl der Bevölkerung aus den Augen verloren und ist anderen Prioritäten als der Gewährleistung der öffentlichen Gesundheit gefolgt? Und wenn ja: Wer kann und darf ein Schuldeingeständnis einfordern? Allenfalls Volksvertreterinnen und Volksvertreter oder eine SRF-Moderatorin?

Offenbar ging die Moderatorin, wie früher die Eltern bei uns Kindern, von einer Schuld, von einem verwerflichen respektive nicht-regelkonformen Handeln seitens des BAG aus, welches im Bestreben die Pandemie zu bewältigen, Fehler begangen hatte. Worin hatte sich das BAG schuldig gemacht? Gegen welche Regeln hatte es verstossen und wo hatte das Amt nicht mit bestem Wissen und Gewissen gehandelt, in einer Situation, in der niemand über umfassendes Wissen verfügte, wie genau die Menschen vor der Ansteckung mit dem Virus SARS CoV II und das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen sind?

Wenn Menschen in derartiger Unsicherheit handeln müssen, das wissen wir, können, ja müssen Fehler gemacht werden. Es sind die Fehler, die den Weg zu wirkungsvolleren Massnahmen mit weniger „Kollateralschäden“ weisen. Der ebenfalls am Gespräch teilnehmende Gesundheitsdirektor des Kantons Bern bemerkte „cool“, dass jedes IT-Projekt – und darum ging es unter anderem in der Diskussion – riskiere, Fehler zu machen. Dies liege in der Natur der Sache.

Die Diskussion, dies wurde rasch klar, kreiste rund um Fehler, die das BAG in den vergangenen Monaten begangen hätte, von den altertümlichen Datenübertragungen zu Beginn der Pandemie über die verpasste Beteiligung einer Moderna-Produktionslinie bei Lonza im Wallis bis zur Unterstützung der problematischen Plattform MeineImpfungen.ch. Die Moderatorin vermutete offenbar hinter den Fehlern ein schuldhaftes und widerrechtliches, nicht regelkonformes Vorgehen. Sie unterliess es jedoch, ihre „Anschuldigungen“ zu begründen. Die Schuldfrage blieb „im Leeren hängen“.

Wenn das Begehen von Fehlern mit Schuld behaftet ist, dann wird das Machen von Fehlern zu einem Verbot, dann ist einzig der Erfolg gefragt und Fehler müssen bestraft werden, Köpfe müssen rollen, Strafuntersuchungen müssen eingeleitet werden. Das Lernen aus Fehlern, das bessere Tun, bleibt auf der Strecke. Keinen Unterschied zu machen zwischen Fehler und Verschulden, ist die Grundlage einer Fehler-Unkultur!

Dabei wissen wir: „Von Fehlern lernen“ lautet ein Grundsatz nicht nur in der Unternehmenslehre. Dies haben wir bereits in einem früheren Meinungsbeitrag festgehalten.

Auch die Politik und mit ihr die öffentliche Verwaltung sind gut beraten, Fehler als Gelegenheit für Anpassungen oder Neuorientierungen zu nutzen. Fehler passieren nur, wenn etwas getan wird. Wer nichts tut, macht auch keine Fehler, dies ist eine Binsenwahrheit. Wer aktiv nach Problemlösungen sucht und dabei neue Wege geht, riskiert Fehler zu begehen. Der Berner Gesundheitsdirektor hat dies klar gemacht. Wer will denn noch aktiv, innovativ sein, wenn Fehler nicht passieren dürfen?

Die Diskussion im SRF-Club ist eine politische. Sie will Geschehenes vertieft beurteilen und Perspektiven aufzeigen. Ebenso politisch ist eine Club-Diskussion, wenn sie die Mängel – hier des BAG – in den Fokus nimmt. Was bewegt SRF, sich auf der Mängelseite zu positionieren und – politisch – die Schuldfrage, also die Frage nach widerrechtlichem und moralisch verwerflichem zu stellen?

Uns fehlte in dieser Diskussion der Blick auf das Erreichte, auf die verbesserten Lösungen, auf das aus den Fehlern Gelernte! Auch dies ist eine politische Haltung.

Übrigens

Zum Ersten:

Die Post-it-Zettel – respektive der Klebestoff – sind ein nicht-beabsichtigtes Forschungsergebnis von 3M. Anstatt eines Superklebers wurde eine „klebrige Masse“ erfunden, „die sich zwar auf allen Flächen auftragen liess, jedoch auch genauso leicht wieder abzulösen war“. Auch die Metaplan (Moderations-)Kärtchen, die sich damit auf eine Pinnwand kleben und wieder ablösen liessen, wurden, damals, nicht zu einem Geschäftsmodell. Erst das Mitglied eines Kirchenchors brachte den Durchbruch für den Post-it-Zettel: Aus einer „fehlerhaften Forschung“ ist er als Lesezeichen auf Notenblätter entstanden.

Dies ist übrigens nichts Einmaliges. Auch die Entdeckung Amerikas 1492 durch Christoph Kolumbus, die Entdeckung des Penizillins oder auch des Klettverschlusses folgen einem oft gehörten Satz: „Der Zufall begünstigt nur einen vorbereiteten Geist“. Eine Entdeckung kommt – so steht es bei Wikipedia unter dem Stichwort „Serendipity“ („eine zufällige Entdeckung“) – wenn jemand ungezwungen gearbeitet hat.

Der zufälligen Entdeckung den nötigen Raum zu gewähren, dies ist ein wichtiges Prinzip von Wissen und Lernen.

Zum Zweiten:

Vor wenigen Tagen lese ich auf einem Bildschirm in einem Postauto, dass gemäss einer Stanford-Studie positive Gedanken zu mehr Leistungsfähigkeit führen und die Gesundheit fördern. In der auf dem Internet veröffentlichten Meldung Mitteilung von Nau.ch steht weiter: „Unser Gehirn wurde über die Jahre von uns darauf hintrainiert, immer zuerst den Mangel zu erkennen, statt der Fülle, die uns bereits umgibt.“

Kritisch zu sein, das bedeutet nicht, einzig das Mangelhafte zu betrachten. Kritisch zu sein, bedeutet, auch die andere Seite der Medaille anzuschauen, den Nutzen, den eine Tätigkeit stiftet, den Erfolg des Tuns. In der Betriebswirtschaft ist von Kosten- UND Nutzenrechnung die Rede!

Manuel Flury-Wahlenist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Meinungsbeitrag ist auch auf dem persönlichen Blog von Regula und Manuel Flury-Wahlen erschienen.

Adieu Work-Life-Balance, hallo Work-Life-Integration

Sarah Steiner
21.04.2021

Leben und Arbeit verschmelzen untrennbar miteinander, ein perfektes Gleichgewicht wird unmöglich. Eine Work-Life-Integration hingegen bietet Perspektiven, so die Gründerinnen des Coworking-Space mit Kinderbetreuung Tadah in Zürich. Aber sie fordern auch hier die Unterstützung der Wirtschaft.


Jahrelang haben wir von Work-Life-Balance gesprochen. Und dabei gemeint, Kind und Karriere oder eben Arbeit und Leben ausbalancieren zu müssen. Und jahrelang lagen wir nicht falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Denn ist nicht unsere Arbeit auch unser Leben – oder zumindest ein grosser Teil davon? Wir haben uns also nach einer neuen Definition umgeschaut. Und sind fündig geworden: Work-Life-Integration.

Wir setzen uns gerade intensiv mit dem Thema Vereinbarkeit auseinander. Denn wir interviewen für unsere White Paper Vereinbarkeit ganz viele HR-Verantwortliche aus verschiedenen Unternehmen und befragen sie zum Thema. Dabei fällt logischerweise immer wieder der Begriff Work-Life-Balance.

Ein Begriff, mit dem auch wir uns herumschlagen. Wir versuchen seit jeher herauszufinden, wie wir das perfekte Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben finden können. Und ganz egal, was wir machen, wir schaffen es nicht, dass die Waage nicht auf die eine oder andere Seite kippt. Das ist nicht nur lästig, sondern extrem frustrierend.

Wort Work-Life-Integration – ja, bitte?

Warum wir es nicht schaffen, den Balance-Akt zu machen? Weil es vielleicht schlicht nicht geht. Unser Leben umfasst verschiedene Bereiche. Wir arbeiten und haben eine Karriere, wir haben ein Zuhause und eine Familie, wir haben einen Freundeskreis und das Bedürfnis, uns sozial zu engagieren, und wir haben zudem unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Das alles gilt es, irgendwie unter einen Hut zu bringen. Schwierig? Manchmal. Aber machbar, wenn wir nicht nach Perfektion streben.

Neben diesen verschiedenen Bereichen leben wir zudem in verschiedenen Phasen. Ja, wir sagen es doch schon seit jeher: Es ist alles nur eine Phase. Und zwar sowohl beruflich als auch privat. Es gilt diese so zu kombinieren, dass wir glücklich sind. Dass dies nicht heissen muss, dass alles gleich stark gewichtet wird, liegt auf der Hand. Es gibt Phasen in unserem Berufsleben, da werden wir mehr gebraucht, mehr eingespannt, müssen und wollen mehr leisten. Und dann gibt es Phasen in unserem Privatleben – egal in welchem Bereich – , die fordern uns mehr als andere. Das ist richtig. Und das ist gut so.

Studien zeigen: Work-Life-Integration ist etwas, das fordern immer mehr Menschen aktiv ein.

88 Prozent der Millennials wünschen sich Work-Life-Integration, was nicht dasselbe ist wie Work-Life-Balance, da Arbeit und Leben heute untrennbar miteinander verschmelzen (zum ganzen Forbes-Artikel hier).

Die Frage aller Fragen: Wie schaffen wir also eine für uns optimale und somit auch individuelle Work-Life-Integration? Ohne die Unterstützung der Wirtschaft ist es fast nicht möglich. Denn in den Unternehmen müssen nicht nur Rahmenbedingungen geschaffen, es muss auch Hand geboten werden. Und es braucht eine firmenkulturelle Veränderung.

Die Corona-Pandemie hat geholfen. Denn Dinge wie Home Office und Remote Work, die in einigen Unternehmen vor dem Frühling 2020 noch nicht möglich waren, sind zur Normalität geworden. Doch nun gilt es langfristig zu denken, Ziele zu definieren und Strategien zu entwickeln. Damit Vereinbarkeit kein Nice-to-Have mehr ist, sondern Realität. Im Übrigen nicht nur für Mütter und Väter, sondern für alle Mitarbeitenden. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

Wir bleiben dran.

Sarah Steinerist Co-Gründerin und CEO von Tadah. Die gelernte Journalistin hat gemeinsam mit drei anderen Müttern im Oktober 2019 in Zürich Albisrieden den ersten Coworking Space mit Kinderbetreuung der Schweiz eröffnet. Die Gründerinnen erarbeiten gerade ein White Paper von Tadah zum Thema Vereinbarkeit.

Dieser Text ist zuerst erscheinen auf der Seite von Tadah.

Scharfer Schnitt

Riccarda Mecklenburg
14.04.2021

Eine an Schwachsinn grenzende Erste-Welt-Verschwendung prangert Riccarda Mecklenburg an. Die Präsidentin des Verbands Frauenunternehmen (VFU) und Crowdfunding-Beraterin ist Einweg-Materialien aus Spitälern auf der Spur.


Operation Senegal“ heisst das Projekt, das ich seit ein paar Wochen begleite. Die engagierte Frau, die ich bei ihrem Crowdfunding-Projekt berate, möchte am Stadtrand von Dakar in einem Armenspital einen OP-Saal für die Maternité einrichten. Jedes Jahr sterben dutzende von Müttern, weil es Geburtskomplikationen gibt. Die Crowdfunderin, eine Pflegefachfrau, kennt die Rahmenbedingungen vor Ort.

Ich mag engagierte Menschen. Es ist nicht nur für meine Kunden ein kleines Abenteuer, ein Crowdfunding zu machen, sondern auch ich lerne jedes Mal etwas Neues hinzu. Diesmal war es eine an Schwachsinn grenzende Erste-Welt-Verschwendung:

Als sich abzeichnete, dass wir die benötigte Summe nicht zusammen bekommen, haben wir Kontakt mit der Organisation Hiob aufgenommen. Bei Hiob landen die ausgemusterten Spitalausstattungen der Schweiz. Alle Geräte, Materialien, Ausrüstungen, die Spitäler nicht mehr benutzen, findet man dort. Zum Beispiel: Ein Regal voll mit Sterilisationsapparaten. Denn, so lautete die Begründung auf mein Nachfragen hin, das Sterilisieren lohne sich nicht, da die Personalkosten in der Schweiz dafür zu hoch seien. Deswegen werden inzwischen nur noch Einweg-Scheren, -Pinzetten, -Zangen, -Spachtel etc. benutzt. Und nach einmaligem Gebrauch entsorgt.

Ergo waren in den Lagerhallen der Organisation wäschekörbeweise ausgemusterte Scheren, Pinzetten, Zangen in allen Grössen und Formen zu finden.

Beeindruckt von dieser Menge, fragte ich bei meiner Hausärztin nach, wie sie es mit dem Sterilisieren und Wiederverwenden bei sich in der Praxis halte. Die Antwort war ernüchternd: Ja, sie sterilisieren noch alles. Aber die Arbeit des Sterilisierens wird nicht vergütet. Würde sie hingegen eine Einwegschere benutzen, könnte sie das als Aufwand bei der Krankenkasse als Taxpunkt abrechnen. Sie zeigte mir ein Muster von einer Wegwerfschere, die sie von einem Vertreter bekommen hatte. Ein hochwertiges Produkt, rostfreier Stahl, steril verpackt. Made in Pakistan, war auf dem Etikett zu lesen. Diese Schere hat einiges an Energie und Stahl gekostet, wurde steril verpackt in die Schweiz transportiert, um dann nach ein paar Schnitten im Müll zu landen. Einfach weil man es abrechnen kann. Weil unser System so ist. Falls Sie sich wundern, warum die Krankenkassenprämien steigen, schauen Sie mal bei Hiob vorbei.

Riccarda Mecklenburgist seit dem 13. April 2021 Präsidentin des Verbands Frauenunternehmen VFU. Zudem ist sie Inhaberin von CrowdConsul, Founder von What the Hack und Stiftungsrätin des Zürcher Journalistenpreises. Riccarda Mecklenburg wohnt in Weiningen bei Zürich.

Dieser Text ist zuerst erscheinen in der Handelszeitung und in Riccarda Mecklenburgs Blog.

Gefühltes Risiko – warum Emotionen statt Fakten unser Handeln bestimmen

Jörn Basel
25.03.2021

Der Corona-Diskurs hat häufig eine aggressive Grundstimmung. Das hängt laut Jörn Basel damit zusammen, dass Menschen der Umgang mit abstrakten Statistiken schwerfällt. Der Wirtschaftspsychologe von der Hochschule Luzern untersucht, wie Risikokommunikation in diesen Zeiten gelingen kann.


Ignorieren, leugnen, Aggressivität oder in Panik verfallen: Das menschliche Verhaltensspektrum, mit der Covid19-Pandemie umzugehen, ist immens. Aber warum reagieren wir dermassen unterschiedlich auf ein uns alle betreffendes Risiko?

Natürlich lässt sich argumentieren, dass die Konsequenzen einer Corona-Infektion auch nicht für alle Menschen gleich sind. Eine betagte Person hat schliesslich gute Gründe, die Gefahren einer Erkrankung als schwerwiegender einzuschätzen. Aber so einfach ist dies nicht, denn selbst Personen, welche nicht zur Risikogruppe gehören, zeigen eine bedeutsame Bandbreite, mit der neuen Masken-Normalität umzugehen. Folglich wirken PolitikerInnen oder ExpertInnen, wie etwa die Genfer Virologin Isabelle Eckerle, überrascht angesichts der grassierenden Irrationalität mancher Bevölkerungsgruppen und beklagen – vollkommen zu Recht – eine damit verbundene aggressive Grundstimmung des öffentlichen Diskurses.

Der psychometrische Ansatz der Risikowahrnehmung

Aus Sicht der psychologischen Forschung gilt allerdings: Das Covid19-Virus mag neu sein, unsere – teilweise irrational anmutenden – Reaktionen im Umgang mit den damit verbundenen Risiken sind es nicht. Denn die Verhaltensweisen, welche wir aktuell im Umgang mit der Pandemie beobachten, lassen sich verblüffend gut durch einen klassischen Ansatz der psychologischen Risikowahrnehmung erklären. Der sogenannte psychometrische Ansatz der Risikowahrnehmung wurde bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts von Forschenden wie Paul Slovic, Baruch Fischhoff und Sarah Lichtenstein entwickelt und liefert eine überzeugende Erklärung, weshalb unser subjektives Risikogefühl oftmals handlungsrelevanter ist als wissenschaftliche Fakten. Angesichts einer Forschungshistorie von rund 50 Jahren, könnte man fast sagen, die Ausrufung eines postfaktischen Zeitalters ist aus Sicht der Psychologie ein alter Hut.

Slovic und seine Arbeitsgruppe hatten festgestellt, dass die Meinungen von Laien und ExpertInnen in verschiedenen Risikodomänen systematisch auseinander liegen. Während ExpertInnen gerne quantifizierte Risikoabschätzungen tätigen, setzen Laien auf ihre persönlichen, emotional gefärbten Erfahrungen. Dieser Unterschied dürfte zunächst die wenigsten verwundern. Experten und Expertinnen werden ja genau deshalb als solche tituliert, weil sie bestimmte Dinge detaillierter wissen oder einschätzen können als die Allgemeinbevölkerung.

Es geht aber nicht darum, dass Laien anders urteilen, sondern um ein Verständnis, warum sie dies tun. Die Forschungsleistung von der Arbeitsgruppe um Slovic besteht daher darin, dass sie mittels statistischer Analysen zwei zentrale Faktoren identifizieren konnten, welche eine Vorhersage erlauben, ob Laien ein Risiko als hoch oder marginal einschätzen.

Schrecklichkeit und Unbekanntheit eines Risikos

Der erste Faktor ist die Schrecklichkeit (engl. Dread)eines Risikos. Wie tödlich sind die Konsequenzen? Aber auch wie stark entzieht sich ein bestimmtes Risiko unserer Kontrolle?

Der zweite Faktor ist die Unbekanntheiteines Risikos. Wie erforscht ist es? Aber auch wie neuartig? Die oftmals festgestellt Corona-Müdigkeit lässt sich beispielsweise gut damit erklären, dass dieses Risiko nun nicht mehr als neu angesehen wird und/oder man glaubt, durch den entwickelten Impfstoff den Virus unter Kontrolle zu haben.

Nun könnte man aber anmerken, dass die grosse Zahl der weltweit an Corona Verstorbenen uns gemäss diesem Modell doch in Alarmbereitschaft versetzen müsste. Die Gefahr ist – rein faktenbasiert – doch eklatant. Leider reagieren wir jedoch auf prominente Einzelschicksale deutlich empfindsamer als auf grosszahlige Todesmeldungen. Unserer handlungsweisenden Wahrnehmung fehlt schlicht eine verhältnismässige Abbildung menschlichen Leids. Der Schrecklichkeitsfaktor eines Risikos ist folglich nicht als absolute Grösse zu verstehen, sondern ebenfalls als hochgradig subjektive Einschätzung.

Mahnende Expertinnen wie Isabelle Eckerle raufen sich angesichts dieser Tatsache natürlich die Haare, aber die menschliche Natur hat uns zwar zu sozialen Wesen gemacht, allerdings ohne besondere Fähigkeiten im Umgang mit abstrakten Statistiken oder Wahrscheinlichkeiten. Unser sozialer Tellerrand ist zusätzlich auch verhältnismässig überschaubar. Sprich, den Schutz eines nahen Verwandten können wir noch erfassen, das Altersheim drei Strassen weiter ist für viele Menschen schon zu unpersönlich und emotional zu weit entfernt. Und damit nicht genug; denn, wenn wir einmal doch den Schrecken hinter den Zahlen erkennen, besteht laut Slovic zusätzlich die Gefahr, dass wir notwendige Handlungen trotzdem unterlassen – überwältigt von den grossen Zahlen.

Dieses Phänomen wird in der Fachsprache Psychic Numbing, also psychische Betäubung genannt. Damit ist gemeint, dass bei uns ein Übermass an Leid, eben nicht zu übermässiger Hilfsbereitschaft führt, sondern wir oftmals in einer wahrgenommenen (Schein-) Hilfslosigkeit verharren. Zynisch nennt Paul Slovic seinen Aufsatz zu diesem Thema daher auch the more who die, the less wecare(je mehr sterben, desto weniger kümmert uns dies). Der Eindruck, dass manche Personen angesichts der grassierenden Unsicherheit resignieren und das Gefühl haben, bestimmte Massnahmen bringen als Einzelperson nichts, ist zum Teil auch durch diesen Befund erklärbar.

Isabelle Eckerle fragt in ihrem Tweet, was es für ein besseres Verständnis bestimmter wissenschaftlicher Fakten braucht. Ein psychologisches Allheilmittel gibt es natürlich nicht. Aber es gibt die Erkenntnis, dass der Mensch zwar angesichts eines Risikos oft irrational agiert, aber immerhin vorhersagbar irrational. Und auf diese Vorhersagbarkeit lässt sich aufbauen: WissenschaftlerInnen können bewusst etwa thematisieren, dass das Corona-Virus zwar mittlerweile intensiv erforscht wird, jedoch immer noch ein verhältnismässig neues Risiko darstellt. In der Kommunikation der Risiken kann die Gefährdung verständlicher dargestellt werden und die Wirksamkeit von individuellen Verhaltensweisen stärker in den Vordergrund rücken.

Eine emotionale Risikobewertung ist menschlich. Dies entschuldigt aber natürlich in keinster Weise Hasskommentare und öffentliche Anfeindungen. Drohungen und Beleidigungen sind auch nicht irrational, sondern schlicht eine nicht tolerierbare Unsitte, welcher entschieden begegnet werden muss.

Prof. Dr. Jörn Baselist Professor für Wirtschaftspsychologie an der HSLU. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der angewandten Entscheidungsforschung mit den Schwerpunkten Vertrauen, Risikowahrnehmung und neue Technologien. Privat hat er allerdings keinerlei Risikotoleranz, wenn es um guten Espresso geht. Das Risikomanagement erfolgt daher über eine detaillierte Kaffeehausauswahl mittels der App Beanhunter.

Dieser Text ist zuerst erschienen im Blog der HSLU erschienen.

Referenzen

  • Slovic, P., Fischhoff, B., & Lichtenstein, S. (1986). The psychometric study of risk perception. In: V.T. Covello, J. Menkes, & J. Mumpower (Eds.), Risk evaluation and measurement. 3-24. New York: Plenum.
  • Slovic, P. and Västfjäll, D. (2013). The more who die, the less we care: Psychic numbing and genocide. Behavioural public policy. 94-114.

Gefühltes Risiko – warum Emotionen statt Fakten unser Handeln bestimmen

Jörn Basel
25.03.2021

Der Corona-Diskurs hat häufig eine aggressive Grundstimmung. Das hängt laut Jörn Basel damit zusammen, dass Menschen der Umgang mit abstrakten Statistiken schwerfällt. Der Wirtschaftspsychologe von der Hochschule Luzern untersucht, wie Risikokommunikation in diesen Zeiten gelingen kann.


Ignorieren, leugnen, Aggressivität oder in Panik verfallen: Das menschliche Verhaltensspektrum, mit der Covid19-Pandemie umzugehen, ist immens. Aber warum reagieren wir dermassen unterschiedlich auf ein uns alle betreffendes Risiko?

Natürlich lässt sich argumentieren, dass die Konsequenzen einer Corona-Infektion auch nicht für alle Menschen gleich sind. Eine betagte Person hat schliesslich gute Gründe, die Gefahren einer Erkrankung als schwerwiegender einzuschätzen. Aber so einfach ist dies nicht, denn selbst Personen, welche nicht zur Risikogruppe gehören, zeigen eine bedeutsame Bandbreite, mit der neuen Masken-Normalität umzugehen. Folglich wirken PolitikerInnen oder ExpertInnen, wie etwa die Genfer Virologin Isabelle Eckerle, überrascht angesichts der grassierenden Irrationalität mancher Bevölkerungsgruppen und beklagen – vollkommen zu Recht – eine damit verbundene aggressive Grundstimmung des öffentlichen Diskurses.

Der psychometrische Ansatz der Risikowahrnehmung

Aus Sicht der psychologischen Forschung gilt allerdings: Das Covid19-Virus mag neu sein, unsere – teilweise irrational anmutenden – Reaktionen im Umgang mit den damit verbundenen Risiken sind es nicht. Denn die Verhaltensweisen, welche wir aktuell im Umgang mit der Pandemie beobachten, lassen sich verblüffend gut durch einen klassischen Ansatz der psychologischen Risikowahrnehmung erklären. Der sogenannte psychometrische Ansatz der Risikowahrnehmung wurde bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts von Forschenden wie Paul Slovic, Baruch Fischhoff und Sarah Lichtenstein entwickelt und liefert eine überzeugende Erklärung, weshalb unser subjektives Risikogefühl oftmals handlungsrelevanter ist als wissenschaftliche Fakten. Angesichts einer Forschungshistorie von rund 50 Jahren, könnte man fast sagen, die Ausrufung eines postfaktischen Zeitalters ist aus Sicht der Psychologie ein alter Hut.

Slovic und seine Arbeitsgruppe hatten festgestellt, dass die Meinungen von Laien und ExpertInnen in verschiedenen Risikodomänen systematisch auseinander liegen. Während ExpertInnen gerne quantifizierte Risikoabschätzungen tätigen, setzen Laien auf ihre persönlichen, emotional gefärbten Erfahrungen. Dieser Unterschied dürfte zunächst die wenigsten verwundern. Experten und Expertinnen werden ja genau deshalb als solche tituliert, weil sie bestimmte Dinge detaillierter wissen oder einschätzen können als die Allgemeinbevölkerung.

Es geht aber nicht darum, dass Laien anders urteilen, sondern um ein Verständnis, warum sie dies tun. Die Forschungsleistung von der Arbeitsgruppe um Slovic besteht daher darin, dass sie mittels statistischer Analysen zwei zentrale Faktoren identifizieren konnten, welche eine Vorhersage erlauben, ob Laien ein Risiko als hoch oder marginal einschätzen.

Schrecklichkeit und Unbekanntheit eines Risikos

Der erste Faktor ist die Schrecklichkeit (engl. Dread)eines Risikos. Wie tödlich sind die Konsequenzen? Aber auch wie stark entzieht sich ein bestimmtes Risiko unserer Kontrolle?

Der zweite Faktor ist die Unbekanntheiteines Risikos. Wie erforscht ist es? Aber auch wie neuartig? Die oftmals festgestellt Corona-Müdigkeit lässt sich beispielsweise gut damit erklären, dass dieses Risiko nun nicht mehr als neu angesehen wird und/oder man glaubt, durch den entwickelten Impfstoff den Virus unter Kontrolle zu haben.

Nun könnte man aber anmerken, dass die grosse Zahl der weltweit an Corona Verstorbenen uns gemäss diesem Modell doch in Alarmbereitschaft versetzen müsste. Die Gefahr ist – rein faktenbasiert – doch eklatant. Leider reagieren wir jedoch auf prominente Einzelschicksale deutlich empfindsamer als auf grosszahlige Todesmeldungen. Unserer handlungsweisenden Wahrnehmung fehlt schlicht eine verhältnismässige Abbildung menschlichen Leids. Der Schrecklichkeitsfaktor eines Risikos ist folglich nicht als absolute Grösse zu verstehen, sondern ebenfalls als hochgradig subjektive Einschätzung.

Mahnende Expertinnen wie Isabelle Eckerle raufen sich angesichts dieser Tatsache natürlich die Haare, aber die menschliche Natur hat uns zwar zu sozialen Wesen gemacht, allerdings ohne besondere Fähigkeiten im Umgang mit abstrakten Statistiken oder Wahrscheinlichkeiten. Unser sozialer Tellerrand ist zusätzlich auch verhältnismässig überschaubar. Sprich, den Schutz eines nahen Verwandten können wir noch erfassen, das Altersheim drei Strassen weiter ist für viele Menschen schon zu unpersönlich und emotional zu weit entfernt. Und damit nicht genug; denn, wenn wir einmal doch den Schrecken hinter den Zahlen erkennen, besteht laut Slovic zusätzlich die Gefahr, dass wir notwendige Handlungen trotzdem unterlassen – überwältigt von den grossen Zahlen.

Dieses Phänomen wird in der Fachsprache Psychic Numbing, also psychische Betäubung genannt. Damit ist gemeint, dass bei uns ein Übermass an Leid, eben nicht zu übermässiger Hilfsbereitschaft führt, sondern wir oftmals in einer wahrgenommenen (Schein-) Hilfslosigkeit verharren. Zynisch nennt Paul Slovic seinen Aufsatz zu diesem Thema daher auch the more who die, the less wecare(je mehr sterben, desto weniger kümmert uns dies). Der Eindruck, dass manche Personen angesichts der grassierenden Unsicherheit resignieren und das Gefühl haben, bestimmte Massnahmen bringen als Einzelperson nichts, ist zum Teil auch durch diesen Befund erklärbar.

Isabelle Eckerle fragt in ihrem Tweet, was es für ein besseres Verständnis bestimmter wissenschaftlicher Fakten braucht. Ein psychologisches Allheilmittel gibt es natürlich nicht. Aber es gibt die Erkenntnis, dass der Mensch zwar angesichts eines Risikos oft irrational agiert, aber immerhin vorhersagbar irrational. Und auf diese Vorhersagbarkeit lässt sich aufbauen: WissenschaftlerInnen können bewusst etwa thematisieren, dass das Corona-Virus zwar mittlerweile intensiv erforscht wird, jedoch immer noch ein verhältnismässig neues Risiko darstellt. In der Kommunikation der Risiken kann die Gefährdung verständlicher dargestellt werden und die Wirksamkeit von individuellen Verhaltensweisen stärker in den Vordergrund rücken.

Eine emotionale Risikobewertung ist menschlich. Dies entschuldigt aber natürlich in keinster Weise Hasskommentare und öffentliche Anfeindungen. Drohungen und Beleidigungen sind auch nicht irrational, sondern schlicht eine nicht tolerierbare Unsitte, welcher entschieden begegnet werden muss.

Prof. Dr. Jörn Baselist Professor für Wirtschaftspsychologie an der HSLU. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der angewandten Entscheidungsforschung mit den Schwerpunkten Vertrauen, Risikowahrnehmung und neue Technologien. Privat hat er allerdings keinerlei Risikotoleranz, wenn es um guten Espresso geht. Das Risikomanagement erfolgt daher über eine detaillierte Kaffeehausauswahl mittels der App Beanhunter.

Dieser Text ist zuerst erschienen im Blog der HSLU erschienen.

Referenzen

  • Slovic, P., Fischhoff, B., & Lichtenstein, S. (1986). The psychometric study of risk perception. In: V.T. Covello, J. Menkes, & J. Mumpower (Eds.), Risk evaluation and measurement. 3-24. New York: Plenum.
  • Slovic, P. and Västfjäll, D. (2013). The more who die, the less we care: Psychic numbing and genocide. Behavioural public policy. 94-114.

Durch Innovation das gesellschaftliche Immunsystem stärken

Joël Luc Cachelin
15.03.2021

Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich immunisieren gegen Infekte. Dazu braucht es laut Zukunftsforscher und Autor Joël Luc Cachelin insbesondere zirkuläre Innovation. So könnten die Folgewirkungen des Neuen schon beim Erfinden antizipiert werden, denn jede Innovation werde irgendwann zum Problem.


Durch das Virus erleben wir, wie anfällig unsere Zivilisation für Infekte unserer Körper, Medien, Unternehmen und Computer ist. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das auch eine Chance. Denn die Stärkung des gesellschaftlichen Immunsystems schafft attraktive Märkte. Hygiene-Innovationen dürften noch lange relevant bleiben. Nachhaltiger wirkt der Animal-Turn. Er verlangt, die Rechte und Fähigkeiten der Tiere ernst zu nehmen. Ein veganerer Planet scheint langfristig unvermeidlich – um die Schäden des Klimawandels zu mindern und neue Zoonosen zu unterdrücken. Der Vegan-Trend ist auch für die symbolkräftigen Schoggi- und Käse-Exporte wichtig. Es geht um Megamärkte. Der Wert des Haferdrinks Oatly wird schon jetzt auf 10 Milliarden Dollar geschätzt.

Zirkularität ist die zu den Clusterfucks des 21. Jahrhunderts passende Innovationsmaxime. Sie umfasst mehr als die Kreislaufwirtschaft, die Abfälle als Ressourcen versteht und das Verbrennen von Biomaterial (Verpackungen, Knochen, Plastik aller Art) um jeden Preis verhindern will. Zirkuläre Innovation verknüpft zudem Mensch, Tier und Maschine (zum Beispiel durch den Respekt der Biodiversität oder das Nutzen spezifischer Stärken von Mensch, Tier und Maschine). Sie vernetzt Datenquellen und wissenschaftliche Disziplinen. Vor allem aber verbindet sie Vergangenheit und Zukunft. Zirkuläre Innovation verlangt, die Geschichte von Innovationen aufzuarbeiten und die Folgewirkungen des Neuen schon im Moment des Erfindens zu antizipieren.

Nicht Lockdowns sind das ökonomische Problem, sondern fehlende Agilität. Es gibt wenige Angebote, die nicht pandemiekonform verkauft werden könnten – und diese wenigen Ausnahmen sollten staatlich entschädigt werden. Angebote, die neu erfunden werden könnten, sind Shopping (in eLäden), Vorträge (als Online Konferenz), Restaurantbesuche (als Delivery Service), die Psychotherapie (als Zoom-Meeting) und das Museum (als Online-Besichtigung). Natürlich ist das Erlebnis nicht dasselbe, aber darum geht es nicht. Es geht darum, Bedürfnisse neu zu befriedigen, die Geschäftsmodelle zu flexibilisieren beziehungsweise anzupassen – und vor allem darum, mit bestehenden Netzwerken, Ressourcen, Fähigkeiten und Daten neue Erträge zu generieren. Die Pandemie stärkt Innovatorinnen und Innovatoren sowie Unternehmen, die sich seit Jahren an hoher Qualität orientieren.

Jede Innovation wird irgendwann zum Problem. Das erste Gefahrenpotenzial besteht darin, dass Innovationen zu Nebenwirkungen führen, die nicht oder nur ungenügend berücksichtigt wurden. Vielleicht wurden sie auch bewusst verdrängt oder konnten im Moment der Einführung nicht vollständig antizipiert werden (wie Superbugs in Folge zu häufig auch in der Tiermedizin eingesetzten Antibiotika). Das zweite Gefahrenpotenzial ist unauffälliger aber vielleicht gefährlicher. Es besteht darin, dass das Festhalten an alter Innovation („Neue Technologien“ wie Fax und Auto, Ertragsmodelle, Menschenbilder) das Neue behindert. Auch das, was wir jetzt als innovativ feiern, wird irgendwann zum Problem. Das Dümmste was Unternehmen also jetzt tun können, ist abzuwarten. Denn früher oder später werden ihre heutigen Produkte, Prozesse und Weltbilder zu Stolpersteinen.

Joël Luc Cachelin berät, begleitet und inspiriert Unternehmen auf dem Weg in die Zukunft. Er hat promoviert an der HSG zur Zukunft des Managements, gegenwärtig studiert er Geschichte an der Universität Luzern. Soeben bei Stämpfli erschienen ist sein neues Buch Antikörper – Innovation neu denken.

Durch Innovation das gesellschaftliche Immunsystem stärken

Joël Luc Cachelin
15.03.2021

Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich immunisieren gegen Infekte. Dazu braucht es laut Zukunftsforscher und Autor Joël Luc Cachelin insbesondere zirkuläre Innovation. So könnten die Folgewirkungen des Neuen schon beim Erfinden antizipiert werden, denn jede Innovation werde irgendwann zum Problem.


Durch das Virus erleben wir, wie anfällig unsere Zivilisation für Infekte unserer Körper, Medien, Unternehmen und Computer ist. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das auch eine Chance. Denn die Stärkung des gesellschaftlichen Immunsystems schafft attraktive Märkte. Hygiene-Innovationen dürften noch lange relevant bleiben. Nachhaltiger wirkt der Animal-Turn. Er verlangt, die Rechte und Fähigkeiten der Tiere ernst zu nehmen. Ein veganerer Planet scheint langfristig unvermeidlich – um die Schäden des Klimawandels zu mindern und neue Zoonosen zu unterdrücken. Der Vegan-Trend ist auch für die symbolkräftigen Schoggi- und Käse-Exporte wichtig. Es geht um Megamärkte. Der Wert des Haferdrinks Oatly wird schon jetzt auf 10 Milliarden Dollar geschätzt.

Zirkularität ist die zu den Clusterfucks des 21. Jahrhunderts passende Innovationsmaxime. Sie umfasst mehr als die Kreislaufwirtschaft, die Abfälle als Ressourcen versteht und das Verbrennen von Biomaterial (Verpackungen, Knochen, Plastik aller Art) um jeden Preis verhindern will. Zirkuläre Innovation verknüpft zudem Mensch, Tier und Maschine (zum Beispiel durch den Respekt der Biodiversität oder das Nutzen spezifischer Stärken von Mensch, Tier und Maschine). Sie vernetzt Datenquellen und wissenschaftliche Disziplinen. Vor allem aber verbindet sie Vergangenheit und Zukunft. Zirkuläre Innovation verlangt, die Geschichte von Innovationen aufzuarbeiten und die Folgewirkungen des Neuen schon im Moment des Erfindens zu antizipieren.

Nicht Lockdowns sind das ökonomische Problem, sondern fehlende Agilität. Es gibt wenige Angebote, die nicht pandemiekonform verkauft werden könnten – und diese wenigen Ausnahmen sollten staatlich entschädigt werden. Angebote, die neu erfunden werden könnten, sind Shopping (in eLäden), Vorträge (als Online Konferenz), Restaurantbesuche (als Delivery Service), die Psychotherapie (als Zoom-Meeting) und das Museum (als Online-Besichtigung). Natürlich ist das Erlebnis nicht dasselbe, aber darum geht es nicht. Es geht darum, Bedürfnisse neu zu befriedigen, die Geschäftsmodelle zu flexibilisieren beziehungsweise anzupassen – und vor allem darum, mit bestehenden Netzwerken, Ressourcen, Fähigkeiten und Daten neue Erträge zu generieren. Die Pandemie stärkt Innovatorinnen und Innovatoren sowie Unternehmen, die sich seit Jahren an hoher Qualität orientieren.

Jede Innovation wird irgendwann zum Problem. Das erste Gefahrenpotenzial besteht darin, dass Innovationen zu Nebenwirkungen führen, die nicht oder nur ungenügend berücksichtigt wurden. Vielleicht wurden sie auch bewusst verdrängt oder konnten im Moment der Einführung nicht vollständig antizipiert werden (wie Superbugs in Folge zu häufig auch in der Tiermedizin eingesetzten Antibiotika). Das zweite Gefahrenpotenzial ist unauffälliger aber vielleicht gefährlicher. Es besteht darin, dass das Festhalten an alter Innovation („Neue Technologien“ wie Fax und Auto, Ertragsmodelle, Menschenbilder) das Neue behindert. Auch das, was wir jetzt als innovativ feiern, wird irgendwann zum Problem. Das Dümmste was Unternehmen also jetzt tun können, ist abzuwarten. Denn früher oder später werden ihre heutigen Produkte, Prozesse und Weltbilder zu Stolpersteinen.

Joël Luc Cachelin berät, begleitet und inspiriert Unternehmen auf dem Weg in die Zukunft. Er hat promoviert an der HSG zur Zukunft des Managements, gegenwärtig studiert er Geschichte an der Universität Luzern. Soeben bei Stämpfli erschienen ist sein neues Buch Antikörper – Innovation neu denken.

So verändert sich Design in Krisenzeiten

Smilla Diener
08.03.2021

Rosige Zukunftsszenarien beflügeln inspirierte Designs, das zeigen die Entwürfe der frühen sechziger Jahre im Westen. Doch was passiert, wenn der Optimismus fehlt? Smilla Diener geht auf Spurensuche, um zu erforschen, wie Gestaltung sich in Krisenzeiten verändert.


Die sechziger Jahre begannen als optimistisches Jahrzehnt. Der Krieg lag fünfzehn Jahre im Rücken, mit einer boomenden Wirtschaft gewann insbesondere die Mittelschicht an Wohlstand. Der ökonomische Aufschwung der Nachkriegszeit sorgte für eine Art Aufbruchsstimmung in die Zukunft. In den USA übernahm der junge, charismatische John F. Kennedy das Präsidentenamt, das Farbfernsehen wurde zur Norm. Im selben Jahr wurde die erste Antibabypille zugelassen, worauf diese nur fünf Jahre später bereits von 41 Prozent der verheirateten Frauen unter 30 Jahren verwendet wurde.[1] Die durch die Pille erlangte sexuelle Selbstbestimmung war mitverantwortlich für eine wachsende sexuelle Offenheit der jungen 60er-Generation und verhalf ihr zu einem neuen Körpergefühl.

Hand in Hand mit der wachsenden Wirtschaft der Sechziger entwickelt sich auch das Design: Dieses wird stärker kommerziell eingesetzt und gewinnt so an Relevanz für eine breitere Gesellschaft. Neue Entwürfe verabschieden sich von einem strengen Fokus auf formale Kriterien, wie es das Bauhaus lehrte, und richten sich ganz nach den Bedürfnissen einzelner Absatzmärkte. Aus diesem Rollenwechsel entsteht der „Internationale Stil“, beeinflusst von Figuren aus Architektur und Design wie Walter Gropius und Mies van der Rohe.

Dieser neue Rationalismus der Moderne floriert in den wachsenden Metropolen der USA und Europa: Designerinnen und Designer können sich in neu gebauten Flughafen-Wartehallen, Vorstandszimmern und Grossraumbüros gestalterisch austoben und beflügeln so die Phantasie des Zeitgeistes.

Zu den wichtigen Gestalterinnen und Gestaltern der neuen Räume der Sechziger Jahre gehört Florence Knoll, die 1961 das CBS Building in New York einrichtet. Sie füllt die Büroräume mit variabel einsetzbarem Mobiliar von Eero Saarinen, Neuauflagen von Entwürfen von Breuer und van der Rohe, sowie eigenen Entwürfen.[2] Designerinnen und Designer wie Florence Knoll machten das Corporate Design zu einer etablierten Disziplin und prägten ein neues Verständnis für die Rolle des Designs: Überlieferungen zufolge handelte Knoll nach dem Motto „Good Design is Good Business“.

Science Fiction und die Realität

Neben dem klassischen Modernismus und dem neuen Corporate Design in den USA feuert der anhaltende Kalte Krieg eine zweite Stilrichtung an. Der Kampf um das All – das Space Race – gebärt in irdischen Kreisen aufregende Entwürfe aus neuen Materialien und Formen, so beispielsweise der Tisch Kantarelli von Eero Arnio (1965) aus glasfaserverstärktem Polyester. Die Epoche des Space Age feuert einen neuen Technologieoptimismus an, unterstützt von Sean Connerys James Bond und anderen Protagonistinnen und Protagonisten der Popkultur. Zusammen mit einer romantisierten Vorstellung des mysteriösen, neu zu erobernden Alls bringt sie Entwürfe wie die Eclisse, eine Leuchte von Vico Magistretti für Artemide, und Spider, eine Leuchte von Joe Colombo, hervor.

Doch die 1960er-Jahre entwickeln sich auch zu Jahren der sozialen Umbrüche: Der anhaltende Vietnamkrieg – der erste Krieg, der über das Fernsehen ausgestrahlt wurde – löst eine bahnbrechende soziale Bewegung aus. Im Jahrzehnt, in dem sowohl die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) als auch der WWF gegründet wird, findet ein bedeutender Stimmungsumschwung statt. Studentenbewegungen, Bürgerrechtsbewegungen und Anti-Kriegs-Proteste flammen in Ländern auf beiden Seiten des Atlantiks auf. Die neue Richtung des Anti-Designs, besonders ausgeprägt in Italien, bringt Kritik an der materialistischen Konsumkultur der Mittelklasse an. Zeitgenossen von Ettore Sottsass, darunter die Studios Archizoom und Superstudio, fordern die Eitelkeit des klassischen italienischen Designs heraus. 1968 kulminiert der Kampf zwischen den bestehenden Gestaltungstendenzen und des Anti-Design in der Besetzung der Mailänder Triennale.

Emanzipation und Horror Vacui

Nachdem sich die Designwelt vom Schock des radikalen Anti-Design erholte, fand sich der Tenor der Gestalterinnen und Gestalter in den Siebzigern in der Gestaltung von weichen, organischen Formen, so zum Beispiel beim Soft Chair des Designerpaares Susi und Ueli Berger. Der Sessel besteht aus einem Schaumstoffblock und einem Vinyl-Überzug, der ein zeitgemässes Fläzen im Wohnzimmer ermöglicht. Die weiche Form- und warme Farbgebung wird auch in abstrakteren Entwürfen sichtbar, so beispielsweise in der orangefarbenen Glasskulptur Satellite von Pavel Hlava.

Mitte Siebziger, einem ungewöhnlich kalten Jahrzehnt, schrieb das Magazin „Newsweek“: „Es gibt unheilvolle Anzeichen dafür, dass die Wettermuster der Erde begonnen haben, sich dramatisch zu verändern.“ Der Artikel war mitverantwortlich für eine Angst vor der nächsten Eiszeit, hervorgerufen durch Aerosolemissionen der Industrie. Diese kurzweilige Sorge lenkt die Aufmerksamkeit der Massen weiterhin von der drohenden globalen Erwärmung durch CO2 und Methan ein. So bleiben dystopische Zukunftseinschätzungen zum Klima weiterhin nebensächliche Themen für die Popkultur.[3] Im Vordergrund der öffentlichen Aufregung stehen emanzipatorische Themen: In der Schweiz wird derzeit an der Einführung des Frauenstimmrechts gearbeitet (1971).

Parallel mit wachsenden Emanzipationsbewegungen entstehen in der Gestaltung neue Wohnformen. Modulares Mobiliar wird entwickelt, um einer Generation gerecht zu werden, die sich von traditionellen Wohnkonstellationen löst. Die Ausstellung „The New Domestic Landscape“ des Museum of Modern Art (MoMA) ehrt Entwürfe, die ihre Wurzeln im Anti-Design und Radical Design der späten 60er und frühen 70er schlagen. Die neuen Designs halten sich an Prinzipien der Modularität, um möglichst sparsam mit dem Raum umzugehen. Alle Elemente des Raumes der 70er sollten zeitgemässe rituelle und zeremonielle Bedürfnisse bedienen, schreibt Gianantonio Mari. Im dazugehörigen Ausstellungskatalog[4] unterteilt er diese Bedürfnisse in fünf Kategorien: Privatsphäre, Schlafen, Essen, Freizeit und Sensorik[5] – letzteres betont die Wichtigkeit von anregenden Materialien, Licht, Musik, guter Luft und Bildern.

Zu seinen Entwürfen erklärt Mari, dass ein jeweiliges Möbel nur dann Sinn macht, wenn es ein „Instrument für die Gesamtlösung der Habitateinheit“ ist. Dieser Fokus auf die Gesamtraumgestaltung steigert sich in den Siebzigern in eine „horror vacui“-Ästhetik (lat. Scheu vor der Leere), bei der Wandbemalungen, Dekoration und Möblierungen alle zusammen entworfen wurde.

Design als Witz

Zu Beginn der 80er-Jahre büsst die Design-Allgemeinheit einen grossen Verlust an Enthusiasmus ein. Die AIDS-Krise paralysiert die Welt, die Hungerkatastrophe in Äthiopien wird international im Fernsehen übertragen. 1982 macht das „TIME Magazine“ den Computer zum „Man of the Year“.

Gestalterisch drücken sich die Unruhen des Zeitgeists in einer Verweigerung der alten Designmaximen aus. Mit dem „heiligen Ernst der Moderne“, wie Roger Fayet[6] schreibt, machen die Designerinnen und Designer der 80er Schluss und stellen die Autorität der vorherrschenden Gestaltungsvorstellungen in Frage. In der darauffolgenden Postmoderne entstehen obszöne, aggressive, widersprüchliche und witzige Objekte, wie beispielsweise der Sessel How High the Moon von Shiro Kuramata, vollständig aus Stahlgitter.

Fayet zitiert den Kulturtheoretiker Sigmund Freud, um Erklärungen für den Wert witzigen Designs zu finden: Der Witz, so stellt er fest, bietet dem Design einen Ausweg aus den Zwängen einer Zeit mit unsicheren bis pessimistischen Zukunftsaussichten. Es erlaubt gedankliche Kurzschlüsse, die dem vernünftigen Denken verwehrt bleiben.

Massgebend für die stilistische Entwicklung der 80er-Jahre sind die Entwürfe von Ettore Sottsass, darunter beispielsweise das Regal Beverly für Memphis. Sottsass, dessen Entwürfe sich fernab von zeitgenössischen Ansprüchen der Materialgerechtigkeit, Funktionalität und Schlichtheit bewegten, gilt als Vorreiter der Postmoderne, „die das definitive Ende kollektiver Utopien mit sich brachte“, so Fayet.

Erbe und Ernüchterung

Schon gegen Ende der Achtziger kündigt sich Gegenwind gegen die Kleinserien und Einzelstücke der postmodernen Designerinnen und Designer an. Eine der wichtigsten Stimmen dieser Gegenkultur ist Jasper Morrison. Sein Plywood Chair von 1988 läutet das Konzept des „Super Normal“ ein, das anonyme, von manieristischen und individualistischen Tendenzen befreite Entwürfe zelebriert.

In einem Gespräch mit Fumiko Ito spricht Morrison davon, dass er den schweren Mantel des Design erst abwerfen musste, bevor er Objekte, die „Super Normal“ sind, erkennen konnte. Morrison weist mit seiner Abwendung vom Subjekt, von der sichtbar gestaltenden Hand, eine neue Ära des Designs ein. Aus Angst vor einem irreparablen Schaden an der (menschgemachten) Umwelt reiht er sich neben Gestalterinnen und Gestalter eines neuen Designverständnisses ein, die sich verantwortlich machen für die Folgen der eigenen Gestaltung. Ihr Pessimismus über ökologische und soziale Entwicklungen treibt sie in eine gestalterische Demut.

Seither hat sich das Design der Weltverbesserer-Rolle angenommen: In der Wechselausstellung und dem dazugehörigen Buch „Design for the other 90“ werden Designs zur Verbesserung der globaler Missstände vorgestellt. Angehörige des Social und Ethical Design präsentieren entschlackte Entwürfe, wie beispielsweise den „LifeStraw“ von Torben Vestergaard Frandsen. Der Strohhalm mit integriertem Filter wurde von Frandsen für den Einsatz in Ghana, Nigeria, Pakistan und Uganda entwickelt. (Heute wird er auch für Trekker und Wanderer in Europa verkauft.)

Die Designagentur IDEO verspricht sich dem human-centered design und begleitet Firmen in der Entwicklung von Projekten, darunter die Milchpumpe von Willow. Die Pumpe war 2017 die erste tragbare Milchpumpe für stillende Frauen und wurde durch die Entwicklung mit IDEO auf zwei Schalenförmige Pumpen, die im BH getragen werden können, reduziert. Axel Unger, Designer bei IDEO München, sagte in einem Interview mit dem „pharma marketing journal“: „Es geht nicht darum, schöne Dinge zu entwerfen, sondern um Lösungen [...], die praktikabel sind und die [Menschen] täglich nutzen können.“

Was heisst das für die Gestaltung von morgen? Im aktuellen Klima der Unsicherheit über gesundheitliche, politische und klimatische Entwicklungen ist die Rechtfertigung lustiger, anregender, ausgefallener Designs schwierig. Werden wir Gestalterinnen und Gestalter mit Demut unseren Zukunftsaussichten begegnen, werden wir uns mit aller Kraft gegen etablierte Prinzipien auflehnen, werden wir neuen Mut mit der Technologie finden? Die Zeit wird es zeigen.

Smilla Diener studiert Industriedesign an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist Mitherausgeberin des Index, eines Newsletterprojekts. Index bietet eine Plattform für angehende Designerinnen und Designer, die sich vertiefter mit Kernthemen aus den verschiedenen Designdisziplinen auseinandersetzen und diese Arbeiten schriftlich teilen möchten.

Fussnoten:

[1]https://pubs.aeaweb.org/doi/pdfplus/10.1257/jep.21.2.27 S. 41 (17.2.21) [2] Glarner, Philippe: Sixties Design. 1996 Taschen. S. 21 [3]https://yaleclimateconnections.org/2007/11/common-climate-misconceptions-1970s-global-cooling-concerns-lacked-todays-scientific-rigor-and-relevance/ (17.2.21) [4] Ausstellungskatalog, Gianantonio Mari: S. 274-281 [5] Ausstellungskatalog, Gianantonio Mari: Privacy, Sleeping, Dining, Leisure, Sensory. S. 275 [6] Fayet, Roger: 70s versus 80s, 2001 ARNOLDSCHE Art Publishers. S. 118.

Leave no one behind

Manuel Flury
01.03.2021

Dieser Satz steht in grossen Lettern auf einer Betonwand gleich gegenüber dem Lorraine-Bad an der Aare in Bern geschrieben und heisst auf deutsch: Lass niemanden zurück! Er ist auch ein Leitgedanke der Vereinten Nationen. Doch in der Corona-Pandemie werden laut Manuel Flury nur allzu viele Menschen zurückgelassen – insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika.


LEAVE NO ONE BEHIND – ich weiss nicht, wann diese Aufforderung hingemalt wurde. In den Wochen der Coronapandemie? In Gedanken an all diejenigen Leute, die um ihre Existenz bangen, die Verwandte, Bekannte oder Freundinnen und Freunde verloren haben, die im Stillen an den Folgen der Krankheit leiden oder die in den Spitälern Kranke pflegen, Räume putzen und desinfizieren, die in den Läden an den Kassen stehen und die Gestelle füllen, die ihre Restaurants jetzt als Take-aways weiter offen halten, die ihre Engagements als Kulturschaffende verloren haben, hinter wie vor der Bühne, die Tram- und Busfahrerinnen und -fahrer und an all diejenigen, die Dinge liefern, die online bestellt wurden?

LEAVE NO ONE BEHIND ist auch der Leitgedanke, den die Vereinten Nationen 2015 ihren Nachhaltigkeitszielen und der Agenda 2030 vorangestellt haben. Die Weltgemeinschaft dürfe die Menschen nicht vergessen, die hungern, die unterdrückt oder sozial benachteiligt sind, die ihre Lebensgrundlagen verloren haben wegen Kriegen, Konflikten, unfairem Welthandel oder dem Klimawandel. Dazu ist dies die Botschaft beziehungsweise die Aufforderung.

In der Schweiz sind die Massnahmen der Behörden zur Linderung der Folgen des Shutdown vielfältig. Weltweit und besonders in den Ländern des globalen Südens jedoch drohen Milliarden Menschen wegen der Pandemie zurück zu bleiben. Schulen bleiben über Monate geschlossen, Fernunterricht gibt es nicht oder es können nur wenige Kinder davon profitieren. Auch wenn Smartphones verbreitet sind, fehlt das Geld für Batterien oder mobile Daten. Und über ein WLAN verfügen nur die begüterten Familien. Im Blog der Entwicklungsorganisation Helvetas berichtet der Landesvertreter aus Ouagadougou über den Lockdown in der Hauptstadt des Sahellandes Burkina Faso. Die Stadt war gegen aussen buchstäblich abgeriegelt, Kirchen und Moscheen wurden geschlossen und Taxis verkehrten keine mehr. Für die minimalen Hygienemassnahmen fehlte es an ausreichend Wasser und für die Masken fehlte das Geld. Die vielen im Taglohn angestellten Menschen verloren ihre Arbeit.

Wir erinnern uns an die Tausenden von indischen Hausangestellten, die ihre Arbeit verloren und einen Weg nach Hause, aufs Land unter die Füsse nehmen mussten. Bauernfamilien können ihr Produkte nicht mehr verkaufen, weil die Märkte geschlossen und auch keine Transporte mehr erlaubt sind. Es fehlen die Einnahmen für den Kauf von Saatgut für die nächste Regenzeit.

Helvetas zitiert in ihrem Blog auch Sangita B.K. in Nepal. Sie ist 24 Jahre alt und kam mit ihrem Mann aus dem indischen Mumbai zurück: „Mein Mann verlor seinen Job. Wir mussten während des Lockdowns in Indien den ganzen Tag in einem kleinen Raum bleiben. Unser einziger Gedanke war: Wir wollen nach Hause. Als Indien den Lockdown lockerte, machten wir uns auf den Weg. Die Rückreise dauerte vier schwierige Tage lang. Nun sind wir in dieser Quarantänestation. Es ist uns nicht erlaubt, nach draussen zu gehen und jemanden zu treffen. Ich bin unruhig und langweile mich. Ich hatte meine Periode, was hier sehr unangenehm ist, wenn man von so vielen Leuten umgeben ist. Zum Glück erhielt ich Monatsbinden.“

Erfreulich waren die Nachrichten aus Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien. Die Regierung verfügte zwar auch einen Shutdown, gleichzeitig stellte sie an den Wasserstellen überall Seife zur Verfügung und offenbar gab es auch keine Unterbrüche in der Wasserversorgung mehr!

Während in der Schweiz nahezu eine halbe Million Menschen geimpft werden konnten, bleiben Milliarden in Afrika, Asien und Lateinamerika ohne Impfdosen, ohne genügend Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, ohne leistungsfähige Spitäler. Sowohl der vielgenannten Covax-Initiative der WHO als auch die afrikanische Strategie zur Bekämpfung von COVID-19 fehlen genügend Gelder, um die Bevölkerung des globalen Südens auch nur einmal durchimpfen zu können.

Dabei hätte auch der reiche globale Norden alles Interesse daran, dass das Virus, das keine Landesgrenzen kennt, überall bekämpft werden kann! Und dies gilt auch für viele der weiteren übertragbaren Krankheiten: Sie sind eine Angelegenheit von uns allen.

Manuel Flury-Wahlenist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Meinungsbeitrag ist auch auf dem persönlichen Blog von Regula und Manuel Flury-Wahlen unter diesem Link erschienen.

Konzernverantwortung bleibt ein heisses Thema

Karin Landolt
22.02.2021

Die Verantwortung von Konzernen müssen wir weiter im Blick behalten, sagt Karin Landolt von Actares. Auch, wenn die Initiative zu Fall gebracht wurde. Sie führt als Beispiel das Schweizer Chemieunternehmen Lonza an, das laut Recherchen von einem Klimaskandal profitiert.


Lonza lässt seit 50 Jahren aus seinem Werk in Visp eine exorbitant hohe Konzentration des klimaschädlichen Lachgases in die Atmosphäre ausströmen – seit 2018 ist dem Konzern das Leck bekannt. Die Installation eines Katalysators, der den Schaden um 98 Prozent der bisherigen Menge reduziert, verzögert sich um Monate, weil Lonza maximal vom CO2-Emissionshandel profitieren will. Dies geht aus dem Bericht des Journalisten Christoph Lenz hervor. Er schreibt, dass der Konzern zwölf Millionen Franken für ein Ende der Klimakatastrophe investiert, und gleichzeitig Zertifikate einstreicht, die ihm 35 Millionen in die Kasse spülen. Gutes Geschäft, so ein Klimaschaden. Auch das Bundesamt für Umwelt BafU und nicht zuletzt natürlich das fragwürdige Emissionshandels-System spielen laut Lenz eine entscheidende Rolle für diesen Skandal.

Schlimm genug. Hinzu kommt, dass Lonza im Geschäftsbericht kein Wort über den Ausstoss von 600’000 Tonnen CO2-Äquivalenten verliert. Die Aktionärinnen und Aktionäre, die gesamte Öffentlichkeit werden darüber hinweggetäuscht, dass Lonza doppelt so klimaschädlich ist als vorgegeben. Ist das kriminell?

Klar scheint: Wasser predigen und Wein trinken lohnt sich, denn Lonza wurde in der Öffentlichkeit in jüngerer Vergangenheit als fortschrittlicher Konzern in der Klimapolitik wahrgenommen. Der Fall bestätigt leider marktkritische Aktivistinnen und Aktivisten, die Konzerne bezichtigen, imagefördernde Hochglanz-Nachhaltigkeitsbroschüren zu publizieren, während sie sich hinter den Kulissen keinen Deut um das Klima scheren, und stattdessen viel Zeit in Verhandlungen stecken, um unmoralische Geschäfte profitabler zu machen.

Wir haben in der Schweiz im November über die Konzernverantwortung abgestimmt. Das Ständemehr hat die Initiative zu Fall gebracht. Das Beispiel zeigt deutlich: Die Konzernverantwortung bleibt ein aktuelles Thema und muss genau beobachtet werden. Aber was – wenn nicht der verbindliche Geschäftsbericht – kann einer seriösen Beurteilung dienen? Es sind die Journalistinnen und Journalisten, die NGOs und beherzte Mitarbeitende, oder auch Konzernchefinnen und -chefs, die als Vorbilder mit echtem Engagement vorangehen. Vielen Dank dafür.

Karin Landoltist Co-Geschäftsleiterin bei Actares, Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften, und Inhaberin von Gesprächskultur. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Winterthur

Zahnbürste für den Universalmund

Smilla Diener
15.02.2021

Steht auf einem Produkt „Swiss Made“, gewinnt dieses über die Landesgrenzen hinaus an Wert. Schweizer Produkte haben den Ruf, präzise und zuverlässig zu sein. Doch sind gute Schweizer Produkte auch andernorts gut? Alpenexotik allein reicht jedenfalls nicht, warnt Smilla Diener.


Als das neue Swissness-Gesetz 2017 endlich in Kraft trat, regte sich dessen Anstifter Thomas Minder schon darüber auf. Der parteilose Ständerat und Geschäftsführer der Kosmetikmarke Trybol sagte damals beim SRF: „Jeder hat wirklich nur dafür geschaut, dass er sein eigenes Schweizerfläggchen oder Matterhorn auf seinem Produkt lassen kann.“ Alle hätten gemerkt, dass die Marke Swissness eben sexy sei, so Minder.

Stammt ein Produkt aus der Schweiz, kann es teurer verkauft werden – das ist die Faustregel. Laut einer Studie der Universität St.Gallen von 2016 erlaubt die Marke Schweiz bei Luxusuhren mehr als eine Verdoppelung des Preises. Obwohl der Begriff Swissness erst in den 1990er Jahren auftauchte, ist die Schweizer Provenienz in der Uhrenbranche schon lange ein wichtiges Verkaufsargument. Aus Genf und dem Jura kamen präzise und zuverlässige Uhren, deren Qualität für sich sprechen sollte. Unternehmen wie die Swiss (früher Swissair), SIGG und Victorinox etablierten sich als typisch schweizerische Marken durch ähnliche Qualitäten wie die der Uhrenbranche.

Was also als Designstrategie einiger weniger Unternehmen fruchtete, bewährte sich so stark, dass auch ausländische Produzenten begannen, mit dem Schweizer Kreuz zu werben. So schaltete sich das Parlament 2012 ein, um den Ruf Schweizer Exportguts zu schützen. Heute dürfen Produkte nur noch ein Schweizer Kreuz tragen, wenn 60 Prozent ihrer Herstellungskosten tatsächlich in der Schweiz anfallen. Wer die Landesflagge auf seiner Zahnbürste abbilden will, findet auf der Website des Instituts für Geistiges Eigentum (IGE) den Swissness-Kalkulator – eine Excel-Tabelle zur Berechnung des Schweiz-Anteils.

Drei Mal Schweiz

Zu den Marken, deren Produkte das Schweizer Kreuz tragen, gehört auch die Curaprox der Firma Curaden. Ihre CS 5460 Ultra Soft – eine Zahnbürste mit 5460 Filamenten in den Borsten – trägt den Hinweis auf die Schweizer Herkunft gleich dreifach. Zwei Kreuze, eins integriert in die Spritzgussform, eins aufgedruckt, und einmal Curaprox Swiss Made am Griff.

Das 1979 von Noldi Braun entworfene Erfolgsmodell hat sich seither kaum verändert, bestätigt der leitende Designer von Curaden, Max Wettach. Von der beschaulichen Gemeinde Degersheim werden die Zahnbürsten produziert und verteilt, und das eben auch über die Landesgrenzen hinaus: Die Marke Curaprox ist in mehr als 37 Ländern vertreten.

Das Familienunternehmen Curaden, heute geführt vom Sohn des Gründers Hans Breitschmid, reiht sich damit in eine lange Tradition der Pflege des Schweizer Rufs. Das zeigt sich im Auftritt der Marke. Auf ihrer indischen Webseite verspricht Curaprox: „Wer diese Zahnbürsten erst einmal ausprobiert hat, will nicht mehr zurück. Entwickelt und hergestellt in der Schweiz.“ Curaprox garantiert überall das Gleiche, ob in Australien, Estland, Südafrika oder Singapur.

Papaneks Kritik an der Exotik

Der gute Ruf eidgenössischer Qualitätsprodukte scheint anzuhalten. Doch steckt hinter diesem auch tatsächlich ein Design, das sich bewährt?

Der österreichisch-amerikanische Designer und Designtheoretiker Victor Papanek schlägt in seiner Streitschrift „Design for the Real World“ (1971) aktualisierte Kriterien zur Bestimmung eines guten Produktes vor. In seinem Buch, welches mittlerweile zur Grundlagenliteratur im Industriedesign gehört, bricht er die Funktionalität eines Objektes in einen sechsteiligen Komplex auf. Dieser besteht aus Methode, Assoziation, Ästhetik, Nutzen, Telesis und Gebrauch.

Mit dem abstrakten Begriff der Telesis beschreibt Papanek die intakte Beziehung zwischen Objekt und Kontext, in dem es zur Verwendung kommt. Dieser ist für unsere Betrachtung des Exportwerts Swissness besonders spannend.

Der telesische Kontext eines Objekts umfasst Zeitgeist und sozioökonomische Bedingungen, in denen das Produkt entworfen wurde. Die Wichtigkeit eines passenden telesischen Kontextes illustriert Papanek an den japanischen Tatami: Dünne Matten, die im traditionell gestalteten Haus auf dem Boden ausgelegt werden. Im Zuge eines anhaltenden Japan-Trends wurden diese ab den 1980ern auch in den USA vermarktet und verkauft. Die Tatami agieren als Schalldämpfer und fangen den wenigen Schmutz, der leichtem Schuhwerk oder besockten Füssen abfällt, auf. Im Haus eines durchschnittlichen US-Amerikaners werden diese aber durch dessen schweres und schmutzigeres Schuhwerk viel schneller hinfällig und müssen öfter ersetzt werden. Traditionell gliedern sich die Tatami durch ihre taktilen und akustischen Eigenschaften in ein Wohnsystem ein, das völlig anders aufgebaut ist als in den USA. Sie machen Sinn, wo sie ihre Rolle als Filter und Schalldämpfer vollständig einnehmen können: In Washitsu, in traditionellen japanischen Räumen. Ausgegliedert aus ihrem Kontext werden sie reduziert auf ihre Exotik.

Für Papanek ist also der Einsatz von Tatami in den USA ein Paradebeispiel für ein Produkt, das aus seinem telesischen Kontext gerissen wird und ausserhalb dessen keinen Sinn macht.

Ein pragmatischer Entwurf

Papaneks Warnung der telesischen Tauglichkeit lässt Zweifel an der Annahme, dass ein gutes Schweizer Produkt auch im Ausland zuverlässig funktioniert. Doch die CS 5460 bewährt sich seit 40 Jahren auch über die Landesgrenzen hinaus. Was also macht diese Zahnbürste zu mehr als einer kurzlebigen Exotin?

Nach Papanek macht ein Produkt in einem gegebenen Kontext Sinn, wenn es sich in dieses integriert. Es erfüllt diese Anforderung, wenn sich seine Eigenschaften längerfristig positiv auf sein Umfeld auswirken, ohne dieses zusätzlich zu belasten. Die Modeerscheinung der Tatami in den USA, hinfällig in sehr kurzer Zeit, ist somit nur bedingt mit 5460-Zahnbürsten in Südafrika vergleichbar. Denn das Bedürfnis nach Zahnhygiene ist ein universelleres als das Bedürfnis nach einer aufregenden Bodendekoration.

Die Curaprox verspricht mit ihrer besonders sanften Borste aus Polyester und einem sechskantigen Griff, der die korrekte Handhabung der Zahnbürste unterstützt, eine schonende Zahnhygiene-Routine. Der Griff aus Polypropylen lässt sich unter heissem Wasser abwinkeln und so individuell anpassen. So setzt sich die Bürste von herkömmlichen Alternativen ab. Der 40 Jahre alte Entwurf der 5460 wurde in der Zwischenzeit nur minim verändert: Die Borstenfilamente wurden verfeinert und das Kreuz am Ende des abgeschrägten Griffs der Zahnbürste angefügt – letzteres wohl aus Swissness-Marketinggründen.

Aber die 5460 bewährt sich nicht in erster Linie wegen den Schweizer Kreuzen am Griff, sondern durch pragmatische Entscheidungen im Entwurf. Die Form der Zahnbürste ist reduziert auf deren praktische Funktionen, ihr Styling beschränkt sich auf die auffälligen Farbkombinationen. Und da schonende Pflege genauso gut für indische wie schweizerische Zähne ist, findet das Produkt auch hinter den Alpen Anklang.

Smilla Diener studiert Industriedesign an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist Mitherausgeberin des Index, eines Newsletterprojekts. Index bietet eine Plattform für angehende Designerinnen und Designer, die sich vertiefter mit Kernthemen aus den verschiedenen Designdisziplinen auseinandersetzen und diese Arbeiten schriftlich teilen möchten.

Homeoffice oder Heimarbeit?

Steffen Klatt
08.02.2021

Die Corona-Pandemie hat einen neuen Anglizismus in die deutsche Sprache gespült: das Homeoffice. Dabei erinnern die Probleme, welche die Arbeit von zuhause mit sich bringt, sehr an die Probleme der einstigen Heimarbeit, schreibt Steffen Klatt. Warum also nicht das deutsche Wort verwenden?


Journalisten tragen eine besondere Verantwortung für die Sprache. Sie gehören nicht nur zu denen, welche die Sprache als ihr wichtigstes Werkzeug einsetzen. Sie erreichen und beeinflussen zudem mit ihrem Gebrauch der Sprache so viele Menschen wie kaum eine andere Berufsgruppe.

Entsprechend diskutieren wir bei Café Europe regelmässig über den richtigen Gebrauch der Sprache. Der Umgang mit Anglizismen gehört dabei zu den ständig wiederkehrenden Themen – und mit gutem Grund: Wir produzieren viele Nachrichten über Wirtschaftszweige wie die Biotechnologie und die Finanzwirtschaft, über Themen wie die digitalen Kommunikationstechniken und die Kryptowährungen. Und keine dieser Wirtschaftszweige und kaum ein Vertreter dieser Themen glaubt ohne Anglizismen für ihre Innovationen auskommen zu können.

Das Wort Homeoffice ist eine andere Sache. Es ist zwar erst vor einem Jahr mit voller Wucht in die deutsche Sprache eingebrochen – und von Journalisten aller Medien inflationär gebraucht worden. Aber die Tatsache hinter dem Wort – die Arbeit von zuhause aus – hat es schon lange gegeben. Es gibt sogar ein Wort dafür, nämlich Heimarbeit. Und mehr noch: Es gibt Gesetze, welche die Heimarbeit regeln. In der Schweiz ist es das Bundesgesetz über die Heimarbeit, ein übrigens leicht zu lesender Text von kaum sechs Seiten. Es regelt zum Beispiel, dass Arbeitgeber die Arbeitsgeräte zur Verfügung stellen müssen.

Es ist einfach zu verstehen, warum etwa der Bundesrat von „Home-Office“ spricht: Denn sagte er korrekterweise Heimarbeit, dann griffe sofort das entsprechende Bundesgesetz. Weniger einfach zu verstehen ist, warum Gewerkschaften von Homeoffice sprechen, denn ihre Aufgabe wäre es, die Interessen der Arbeitnehmenden zu vertreten.

Am wenigsten aber ist es zu verstehen, warum in der öffentlichen Debatte das Wort Heimarbeit kaum vorkommt. Denn diejenigen Probleme, die einst die Heimarbeit gekennzeichnet haben, kehren nun zurück: Viele Menschen arbeiten in einer Umgebung, die dafür nicht gemacht ist. Sie leiden unter der Doppelbelastung von Beruf und Familien. Sie vermissen den einfachen Umgang mit Kollegen. Sie fühlen sich abgeschnitten von wichtigen Informationen. Sie können nur schwer trennen zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Und sie kommen oft für die Kosten der Arbeitsgeräte und immer für die Kosten des Arbeitsplatzes auf.

Heimarbeit kann auch Vorteile haben: Die Fahrten zum Arbeitsplatz entfallen, die Verknüpfung von Arbeit und Familie kann erleichtert werden – wenn die Umstände stimmen. Doch der ausschliessliche Gebrauch des Wortes Homeoffice behindert eine ehrliche Diskussion über die Nach- und Vorteile der Heimarbeit. Der Anglizismus suggeriert Neues, Innovatives, ja „Cooles“ – und wer will schon dastehen als jemand, der Innovatives ablehnt.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.

Was machen Sie im Januar 2041?

Christoph Erni
27.01.2021

Stromautos brauchen Ladestationen. Das Angebot ist gross und für die Käufer nicht immer transparent. Besser sei es daher, Ladestationen zu mieten, schreibt Christoph Erni. Denn nicht die Stationen selbst seien teuer, sondern die Infrastruktur dahinter und die endlosen Updates.


2041 sind wir alle zwanzig Jahre älter und weiser. Wenn Sie heute eine Ladestation kaufen, dann ist die Chance gross, dass Sie sie dannzumal nicht mehr in Betrieb haben werden. Zum Beispiel, weil sich die Anforderungen geändert haben, neue Vorschriften dazugekommen sind und vielleicht einfach auch, weil sie zwischenzeitlich kaputtgegangen ist.

Das bringt Unsicherheit beim Ladestationskauf. Und noch viel schlimmer: Wer weiss schon, welche Stromverteilung die richtige ist? Warum Flachbandkabel meist zwar die billige, aber nicht zukunftssichere und damit nicht die günstige Lösung sind? Welche Station man wählen soll, die ebenfalls die Anforderungen von morgen noch abdeckt, ohne dass man das Nachfolgemodell auch noch kaufen muss?

Fragen über Fragen. Eine gute Lösung sind deshalb All-Inclusive-Mietmodelle. So ein bisschen, wie man früher die Telefonapparate von der Post gemietet hatte – falls Sie auch schon so alt sind wie ich. Es gibt zunehmend Anbieter, die die gesamte nötige Infrastruktur zum Mieten anbieten. Vorteilhaft daran ist einerseits, dass der Serviceanbieter sich um alles kümmert: vom Zähler übers Lastmanagement bis zur Abrechnung, von der Zuleitung in die Garage über die Verteilung zu jedem Parkplatz, von der Ladestation über ewige Garantie und kostenlose Updates. Anderseits sind diese Angebote aber meist vor allem richtig günstig, wenn man alles einrechnet.

Denn bei Ladestations-Installationen fällt vor allem die stark genug gewählte Zuleitung zu den Parkplätzen ins Gewicht. Diese Investition lohnt sich jedoch, denn da kann sonst viel Blindleistung verheizt werden, was dann wiederum eine Menge Strom und Geld verschwendet. Und natürlich bietet die endlose Funktions- und Konformitätsgarantie ungeahnte Sicherheit. Manche Anbieter garantieren sogar inbegriffene Hardware-Updates und Versicherung, ein Sorglos-Paket zum fix kalkulierbaren Tarif eben.

So kommt es, dass je nach Angebot es selbst bei einer Laufzeit von über zwanzig Jahren gerechnet günstiger ist, die Stationen samt Installation zu mieten anstatt zu kaufen. Na, wenn das jetzt kein Grund ist, endlich auf ein E-Auto umzusteigen. Deshalb könnte es gut sein, dass Sie im Januar 2041 auf sich selbst anstossen, weil sie auf 240 Monate sorgenfreies, günstiges, gemietetes Laden zurückblicken werden.

Christoph Erni ist CEO der Lade-Infrastrukturproduzentin Juice Technology AG mit Sitz in Cham ZG.

Durcheinanderland Schweiz

Manuel Flury
05.01.2021

Die Schweiz ist mit ihrer föderalistischen Verteilung der öffentlichen Aufgaben lange gut gefahren. In der Corona-Krise aber ist aus dem föderalen Neben- und Miteinander ein Durcheinander geworden, schreibt Manuel Flury. Ihm fehlt auch die Solidarität, die sich in der ersten Pandemiewelle gezeigt hat.


Vor wenigen Tagen trat ein kantonaler Finanzdirektor medienwirksam auf und schlug - ganz privat, wie er betonte - vor, die Mehrwertsteuer zur Tilgung der kantonalen Coronaschulden befristet zu erhöhen. Wenige Stunden später fühlte sich der oberste Kassenwart des Landes, Finanzminister und Parteikollege genötigt, darauf hinzuweisen, dass sich die Kantone aus den direkten (Einkommens- und Vermögens-)Steuern zu finanzieren hätten und die indirekten Steuern, also auch die Mehrwertsteuer, dem Bund zustehen würden. In weiteren Reaktionen in derselben Sache schlugen andere Persönlichkeiten vor, in diesem Falle eben den Verteilschlüssel der öffentlichen Finanzen zwischen Bund und Kantonen anzupassen, ein Jahrzehnteprojekt notabene!

Mitte Dezember kommunizierte der Bundesrat schweizweite Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Es bleibe jedoch den Kantonen überlassen, Skigebieten den Betrieb zu erlauben, wobei die Restaurants in allen Fällen geschlossen bleiben müssen, mit Ausnahme von „take aways“. Was bedeutet dies nun für die Ski-Bar am Rande der Piste, fragten wir uns? Kafi fertig „to be taken away“? Unmittelbar danach verkündete die Regierung des Kantons Obwalden, die Läden würden dank des tiefen R-Wertes auch am Sonntag öffnen, anders als in den meisten anderen Kantonen. Wir stellten uns die Situation am Lopper vor, wenn sich die halbe Bevölkerung Luzerns aufmacht um nach Sarnen oder Giswil einkaufen zu gehen.

„Everything goes“ scheint das Motto in der Bewältigung der Coronakrise zu sein. Ein wahres Durcheinander im – inspiriert vom Titel eines Dramas von Friedrich Dürrenmatt - Durcheinanderland Schweiz.

Illustriert dieses Durcheinander die Art, wie die politische Schweiz entscheidet? Ist es Ausdruck des vielschichtigen Aushandelns zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden, den Parteien und den unzähligen Einflussgruppen? Ist es ein Merkmal der schweizerischen Suche nach politischen Antworten auf Herausforderungen, wie die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen, Wirtschaft und Gesellschaft an den Klimawandel anzupassen oder der Wohn-, Arbeits- und Lebensraum sinnvoll zu gestalten seien? Im Durcheinander bleibt unergründlich, welche Kräfte wieviel Einfluss ausüben. Erst die Ergebnisse, die Massnahmenpakete, lassen erahnen, wer sich auf welche Art und mit welchen Mitteln durchsetzen konnte.

Eigentlich kennzeichnet der Grundsatz der Subsidiarität das föderale politische Tun in der Schweiz. Demnach werden Dinge auf der tiefstmöglichen politischen Ebene geregelt, in den Gemeinden, Stadtquartieren, Gemeindeverbänden oder Regionen. Nur was von übergeordneter Natur ist, sollen die Kantone oder der Bund regeln. Zugegeben, im Einzelfall ist die Abstimmung und Klärung, was übergeordnet zu regeln ist, schwierig.

Während Kantonsgrenzen genau festgelegt sind, folgen manche Gegebenheiten wie beispielsweise die Bedeutung von Kultureinrichtungen oder von Arbeitsmöglichkeiten diesen Grenzen nicht und können bürokratisch nicht entflochten werden. Es ist in diesem Zusammenhang die Rede von „variablen Geometrien“.

Obschon in der gegenwärtigen Lage Handeln dringend notwendig ist und sich weder das Virus noch die Bevölkerung an Kantonsgrenzen halten, entsteht mit dem Kantönligeist ein schwer durchschaubares Durcheinander. 26 plus 1 Regierung regieren das Durcheinanderland Schweiz resp. sie verwalten es, weil ja eine eigentliche Regierung mit entsprechender Verantwortung in der direktdemokratischen Schweiz fehlt, wie dies der Schriftsteller Adolf Muschg kürzlich in einem Interview bei SRF bemerkt hat.

Was die Bevölkerung in der Schweiz während der ersten Welle über Grenzen und Lebensweisen hinweg in Solidarität vereinte, bricht in diesem Durcheinander auseinander: Die Welschen seien eben weniger diszipliniert und hätten Mühe, das „Küsschengeben“ zu lassen, die Menschen auf dem Land lebten halt gesünder und seien besser vor Krankheiten geschützt. Viele Kleingewerbler*innen hätten eben nicht die nötigen Reserven geschaffen, die alten Menschen hätten doch bereits viele Jahre gelebt, irgendwann müssten alle einmal sterben, und die freiberuflichen Kulturschaffenden, die sich keine Kredite leisten können, … na ja, von à fonds perdu Beiträgen sei grundsätzlich abzusehen. Die oberste Behörde im Land erscheint zum Erstaunen auch namhafter Wirtschaftsfachleute äusserst sparsam, um nicht zu sagen knausrig, wenn es um die Unterstützung von Menschen geht, die in ihrer Existenz gefährdet sind. Der verfassungsmässige Auftrag, die Bevölkerung zu schützen, verblasst hinter dem In-Gang-halten der Wirtschaft. Die Börsen eilen nach einem ersten kurzen Abtauchen von einem Höchststand zu nächsten, die Vermögen der Reichsten sind auch im Pandemiejahr „unanständig“ angewachsen. Und bereits kündigt der Finanzminister harte Sparrunden an, um die neuen Schulden zurückzuzahlen.

Dazu Folgendes: Warum soll der Zusatzgewinn den Online-Shops, Banken und Pharmaunternehmen wegen den staatlich verordneten Massnahmen erzielt haben, nicht abgeschöpft werden? Online-Shops profitierten während des lock-downs davon, dass die meisten (kleinen) Läden schliessen mussten. Die Banken können dank der von ihnen verwalteten Kredithilfen des Bundes ihre Kundschaft „bei der Stange“ halten und die Pharmaunternehmungen gewinnen zusätzlich dank gesicherter staatlicher Einkäufe von Impfstoffen und anderen Medikamenten. Mit diesen Mitteln kann die öffentliche Hand die Unterstützungsmassnahmen für die Beschäftigten im Detailhandel, in der Gastronomie, im Tourismus aber auch für die Kulturschaffenden finanzieren, die alle wegen der Pandemiebekämpfungsmassnahmen wirtschaftlich auch weiterhin verlieren. Ebenso können diese Mittel dazu dienen, das Gesundheitspersonal für ihren systemrelevanten Einsatz zu entschädigen und den Spitälern die Ausfälle zu kompensieren, welche sie wegen der Konzentration auf die Coronapatient*innen erlitten haben und weiterhin erleiden. Dies wäre doch ein Weg, wie der Staat erlittenen Schaden mit erzieltem Zusatznutzen ausgleichen kann!

Die Schweiz fährt in und mit ihrem Durcheinander schlecht durch die Pandemiezeiten. Das Zögern und Abwägen der politisch Verantwortlichen endet für viel zu viele Mitmenschen mit einem zu frühen Tod. Die Eigenverantwortung wird zur Staatsraison emporgehoben, jegliche Einschränkung der individuellen Freiheiten steht in fundamentaler Kritik. Dass jede individuelle Freiheit die Rücksichtnahme auf die Freiheiten der anderen – die soziale Verantwortung eben – einschliesst, geht vergessen.

Muss dies so sein? Liegt in der politischen Kultur der Schweiz nicht ein Potential für Rücksichtnahme, Ausgleich und gegenseitige Unterstützung, gerade in schwierigen Zeiten? Das Wahrnehmen der sozialen Verantwortung?

Angesichts des eng verflochtenen Lebens, der überlappenden Arbeits- und Wohnräume, der hohen Mobilität sind lokale Massnahmen in einzelnen Kantonen wie Schliessung von Läden, Restaurants, kulturellen Einrichtungen wenig wirkungsvoll. Die Unterstützung benachteiligter Menschen zuhause, offene Kirchen oder die während der ersten Welle spontan entstandenen Nachbarschaftshilfen jedoch sind als soziale Massnahmen vor Ort sinnvoll und helfen.

Die Vielfalt derartiger lokaler Massnahmen ist Ausdruck der Spielräume, welche die schweizerische politische Kultur vorsieht, kein Durcheinander, kein verwirrender Flickenteppich von übergeordneten Massnahmen. Diese feine Abstimmung von dem, was übergeordnet sinnvoll und dem, was lokal, bei der Bevölkerung nötig ist, entspricht der Art, wie die Schweiz ihr Zusammenleben in vielen Fragen zu regeln pflegt. Sie nimmt Rücksicht auf die Unterschiede von Menschen und ihren Lebensentwürfen, ihrer je eigenen Kreativität, in den verschiedenen Landesteilen mit ihren lokalen Eigenheiten. Die unzähligen Beispiele, wie Migrant*innen in Gemeinden und Nachbarschaften aufgenommen werden, zeigen, wie diese feine Abstimmung Integration von vermeintlich Fremdem, Anderem aber auch Neuem möglich macht.

Die Schweiz kann sich auf ihre Stärken besinnen, nicht nur in der Bewältigung der aktuellen Coronakrise.

Auch im Umgang mit der Klimakrise geht es um diese Stärken: um gescheites Abstimmen zwischen übergeordnet Notwendigem und lokal Rücksichtsvollem.

Es geht um die Menschen in diesem Land. Das Durcheinander, das wir bisweilen in diesen Tagen und Monaten erleben, ist nicht nachahmenswert.

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Meinungsbeitrag ist auch auf dem persönlichen Blog von Regula und Manuel Flury-Wahlen erschienen.

Perspektivenwechsel – das neue Erfolgsrezept

Karin Landolt
09.12.2020

Neue Arbeitswelten oder auch New Work genannt legen rasant an Bedeutung zu, weil ja nichts mehr ist, wie es war. Weder als Kunde noch als Geschäftspartnerin, weder als Startupperin noch als etablierter Unternehmer. Wir müssen uns neu erfinden, und das ist die schöne Seite, die uns die Corona-Katastrophe beschert, schreibt Karin Landolt.


Ich habe mich in diesem Jahr oft gefragt, warum es mir so wohl ist in meiner eigenen Arbeitswelt. Und ich habe die Antwort gefunden. Ich bin als Teilselbstständige und Teilzeitangestellte ständig dem Perspektivenwechsel ausgesetzt, sowohl in meiner Rolle als Führungskraft als auch als Auftragnehmerin: Ich lerne einerseits ständig dazu, und ich kann andererseits viel Wissen und Erfahrung weitergeben. Meine Aufgaben zwingen mich, laufend die Perspektive zu wechseln, und eine gewisse Sensibilität für unterschiedliche Arbeitsrealitäten zu entwickeln: Anweisungen befolgen – Aufträge erteilen, profitieren von der Entscheidungsfreude einer Chefin – Entscheidungsverantwortung und Verantwortung für Mitarbeitende übernehmen. Mal unterordnen und vielleicht zähneknirschend einen Entscheid von oben akzeptieren – mal selber ein notwendiges Machtwort sprechen und wissen, dass ich mich als Boss gerade unbeliebt mache.

Ich lerne, dass ein Perspektivenwechsel heilsam ist. Er schützt davor, eine unreflektierte Haltung einzunehmen, wie etwa: „Die da oben nehmen uns gar nicht ernst“, oder: „Warum begreifen die da unten nicht, dass ich es besser weiss?“.

Wir verändern den Blick zum „Oben oder Unten“ hin zum „Gegenüber“. Wir ziehen am gleichen Strick, nur gemeinsam können wir erfolgreich sein. Wir artikulieren uns als Mitarbeitende, werden gehört und im besten Fall sogar verstanden. Als Chefinnen und Chefs müssen wir nicht alles besser wissen, und können uns vom Druck der Verantwortung entlasten.

Ein gutes Beispiel für dieses Miteinander ist das Unternehmen Freitag, das allen Mitarbeitenden einen Teil der Verantwortung überträgt. Es gibt keine klassische Führungsriege, jede und jeder versteht sich als wertvollen Teil eines grossen Ganzen – eines erfolgreichen Grossen und Ganzen notabene.

Eine ermutigende Erfahrung machte kürzlich meine 18-jährige Tochter, als sie als Kauffrau in Ausbildung ihre ALS-Arbeit präsentierte. Auch der Direktor des Unternehmens war dabei und hörte interessiert zu. Am Schluss bat er sie um ihre Expertise: „Helfen Sie uns, unser Unternehmen voranzubringen und machen Sie uns Vorschläge, wie wir ältere Mitarbeitende gut in die neue digitale Arbeitswelt mitnehmen können.“ Er lobte damit nicht nur ihre Arbeit und ihren Wert für das Unternehmen, sondern sprach sie sogleich als angehende Führungskraft an. Mehr Anerkennung und Motivation kann ein Chef, der sich als Teil eines Ganzen sieht, kaum ausdrücken.

Vorbei ist die Zeit, in der sich die einen als Alphatiere verstehen, und die anderen als Lemminge hinterhertrotten. Perspektivenwechsel ist die neue Arbeitswelt. Das verlangt viel ab, sowohl von den Alphatieren, als auch von den Lemmingen. Aber es ermöglicht eine Wirtschaft, welche die Kompetenzen des und der Einzelnen gewinnbringend einsetzt, davon können alle nur profitieren.

Karin Landolt ist Co-Geschäftsleiterin bei Actares, Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften, und Inhaberin von Gesprächskultur. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Winterthur.

Wie sich die Schweizer selbst ins Knie schiessen

Christoph Erni
07.12.2020

Das Klima hat ein Problem. Eine der wichtigsten Massnahmen wäre, den Wechsel auf E-Mobilität voranzutreiben. Aber in Bern sorgt man seit Jahren dafür, dass E-Fahrer finanziell bestraft werden, schreibt Christoph Erni.


Wer einen Geschäftswagen privat nutzt, dem wird ein Privatanteil als geldwerte Leistung auf seinen Lohn aufgerechnet. Damit sollen Amortisation und vor allem Unterhalt anteilmässig abgegolten werden. Gerade diese Kosten aber tendieren bei E-Autos gegen Null, weil es fast keine Verschleissteile gibt an einem Elektroauto. Das führt zudem zu einer um Faktor 5 bis 10 längeren Lebensdauer der E-Fahrzeuge. Zählt man alles zusammen, betragen die langfristigen Kosten keine 25 Prozent von denen eines Verbrenners.

Deutschland macht alles richtig

Die Deutschen haben das erkannt und folgerichtig den Privatanteil-Satz für E-Autos auf ein Viertel heruntergekürzt. Nur noch 0,25 Prozent statt 1,0 Prozent des Neupreises werden nun als geldwerter Vorteil auf den Lohn aufgerechnet. Das ist eine gute, faire Lösung – und dass sie bei Autos mit einem Neupreis von über 60.000 Euro auf 0,5 Prozent steigt, ist zwar nicht ganz gerecht, aber eine Neid-Progression ist wohl heute nicht mehr vermeidbar.

Und die Schweiz vergeigt’s total

Und was machen die Schweizer? Einfach nichts. Denn wendet man die momentane Regelung (0,8 Prozent pro Monat ungeachtet der Antriebsart) auf ein beliebiges E-Auto an, zahlt der Mitarbeiter also einen um rund 75 Prozent zu hohen Privatanteil im Vergleich zu einem Verbrennerfahrzeug. Dem Elektroautofahrer wird also aktuell ein Benziner-Äquivalent von geschätzt über 3 Prozent pro Monat verrechnet, was zweifellos nicht gerecht und vermutlich auch nicht so gewollt ist.

Zur Veranschaulichung: Auf zehn Jahre realistische Nutzungsdauer eines E-Autos hochgerechnet führte der Mitarbeiter theoretisch Steuern und Sozialversicherung auf 380 Prozent des Kaufpreises ab. Das ist absurd.

Die trägen Schweizer Behörden lassen alle Vorstösse im Sand verlaufen, die wegweisende deutsche Lösung wird nicht einmal zur Kenntnis genommen. So kommt es, dass die Schweiz aktiv dafür sorgt, dass Fahrer von E-Geschäftsautos nicht nur nichtgefördert werden – im Gegenteil, sie werden aktiv bestraft.

Eine solche Regelung ist eine Schande für ein zivilisiertes Land. Und die Schweizer schiessen sich ordentlich ins Knie, denn mit so einer Ungerechtigkeit werden sich viele Unternehmen und Arbeitnehmer zwei Mal überlegen, ob sie auf ein klimafreundliches Auto umsteigen und sich als Dank für ihren visionären Schritt vom eigenen Staat abzocken lassen sollen.

Christoph Erni ist CEO der Lade-Infrastrukturproduzentin Juice Technology AG mit Sitz in Cham ZG und Schweizer Bürger. Der Beitrag ist zuerst im Magazin „Vision Mobility“ erschienen.

Was Berset zur Klimakatastrophe hätte sagen können...

Manuel Flury
02.12.2020

Der Bundesrat engagiert sich derzeit mit allen Mitteln für die Eindämmung der Corona-Pandemie. Die Argumente, die er dafür benutzt, könnten ebenso gut für die Eindämmung des Klimawandels verwendet werden. Manuel Flury legt sie Alain Berset in den Mund.


Bundesrat Alain Berset hat sich am 23. Oktober im Tagesgespräch von Radio SRF zur COVID19-Krise in der Schweiz geäussert. Dabei sprach er viele Aspekte an, die nicht nur für die Bewältigung der Pandemie gültig sind. Das Transkript ist kein 100-prozentiges, der Sinn der Sätze bleibt jedoch erhalten. Allfällige Ergänzungen sind in eckige Klammern gesetzt. Kursivsteht, was er analog zur Bewältigung der Klimakatastrophe hätte sagen können:

„Es stimmt, die Situation ist sehr, sehr ernst zu nehmen. Sie hat sich stark verschlechtert. Wieso diese plötzlicheVerschlechterung? Diese massive Hitzewelle über ganz Mittel- und Nordeuropa? Es gibt unterschiedliche Antworten, mehrere Gründe dafür. Bei klimatischen und allgemein ökologischen Veränderungen gibt es einen Moment, einen Schwellenwert, … es kann plötzlich explodieren … es kann sich beschleunigen … einen Kippwert erreichen, bei dem ein kontinuierlicher Anstieg der Temperaturen beispielsweise sprunghaft markanter wird … dies bleibt eine Tatsache.

Der Bundesrat hat am Sonntag eine Sitzung abgehalten, wegen der ‚besonderen Situation', die wir sehr ernst nehmen. Wir brauchen einige Monate um zu beobachten. Wir versuchen einen guten Weg zu finden ohne Verbote aller fossilen Brennstoffe in Industrie, Hausfeuerung und Verkehr. Das ist eine Gratwanderung, wir hoffen schwer, dass es gelingt. Die Gratwanderung bleibt wichtig, den Weg finden um den Schaden durch Einschränkungen in der Grundversorgung in unserem Land und darüber hinaus zu minimieren.

Immer wieder mit einer unbekannten Situation wie dem Unterbruch der Trinkwasserversorgung und den zerstörerischen Hangrutschen letzten Dezember nach einer Woche mit tropischen Regenkonfrontiert zu sein … es kann auch mühsam sein für die Leute … Ungewissheit, Unsicherheit … ja es ist mühsam ... ist die Realität … ist einfach so.

Die einen sagen, die Behörden machen und machten während Jahren und Jahrzehnten eindeutig zu wenig, die anderen behaupten weiterhin, das Ganze sei nicht so eine riesige Bedrohung. Wir wissen aber, die Sterberate bei älteren Menschen aber auch bei Kleinkindern ist bei diesem Wetter x-mal grösser … es gibt besondere Menschen die besonders stark betroffen sind bei uns in den Bergen oder in anderen Ländern in den Slums der Megacities.

Wir waren von den Besten in Europa, haben schon vor Jahrzehnten den Umweltschutz gross geschrieben und wichtige Umwelttechnologien entwickelt, aber plötzlich hat sich die Lage sehr rasch verschlechtert, wir sind ins Hintertreffen geraten, die Solar- und andere umweltfreundliche resp. CO2-neutrale Technologien wollten und wollten nicht Fuss fassen und die Investitionen in fossile Industrien blieben hartnäckig bestehen, wenn auch auf einem geringeren Niveau. Es ist schwierig zu beurteilen wieso. Hat uns die Entwicklung auf dem falschen Fuss erwischt? Aber im Moment: was machen wir?

Ich bin kein Klimaphysiker… es gibt eine ziemlich einheitliche Meinung in der Wissenschaftsgemeinschaft… sie sagt eindeutig und sagt es seit vielen, vielen Jahren … es ist eine ernsthafte Situation … [wir sollen] nicht übertreiben aber nicht unterschätzen. [Es heisst nicht] dass die Wissenschaftler*innen schweigen sollen, sie sollen sich in der Öffentlichkeit äussern, ihre Einschätzungen und Ratschläge abgeben … wir [die Politiker*innen] profitieren … und sie begleiten unsere Arbeit. [Wir tragen] Verantwortung für die Politik, [das Wissen der Wissenschaft] zu integrieren, Entscheide zu treffen. Der Bundesrat macht keine wissenschaftliche Analyse, er braucht den engen Kontakt mit der Wissenschaft. Der Gesamtbundesrat ist verantwortlich für die Entscheide … verhältnismässig … dies ist nicht immer einfach ... es gibt grosse Differenzen zu anderen Leuten. Die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft ist gut, es gilt die Meinungsfreiheit.

Wir leben nicht in einer perfekten Welt, nicht in einer Bilderbuchwelt … die Realität ist komplex … [wir müssen] mit der Unsicherheit umgehen lernen, dass wir nicht genau wissen, warum die Hitzewelle gerade in diesem Jahr eingetroffen ist oder ob und wieviel genau die Rationierung der fossilen Brennstoffen zur Dämpfung der Klimaerwärmung beitragen wird … die Lebens-Qualität [gilt es zu] sichern … auch einen guten Schutz für die älteren Leute, für die Menschen in den Berggebieten und entlang der Flüsse [gewähren] … wir müssen einen Weg finden, mit Vernunft …

Wir haben nicht gewusst, was auf uns kommt mit den Hitzewellen und den starken Unwettern … wir haben aber dann gesehen, was passiert, wenn das System überlastet ist, die Zehntausenden von Menschen die aus dem Wallis, dem Tessin, dem Berner Oberland und aus Graubünden flüchten mussten und im Mittelland Schutz suchten. Und jetzt die Bauernbetriebe, deren Ernten praktisch zu hundert Prozent ausgefallen sind, was Triage bedeutet, wer Zugang hat zu einer Notunterkunft, zu Nahrungsmitteln und wer nicht.

[Wir kommen] schleichend an Grenzen, der Schaden wird grösser … [Wir müssen] jetzt einfach alles tun um den CO2-Ausstoss und denjenigen anderer Treibhausgase zu bremsen! Dies funktioniert nur, wenn die Leute wirklich mitmachen … umsetzen alles, was wir gelernt haben. Wir haben nicht mehr viel Zeit um Massnahmen zu ergreifen, zum Schutz unserer Bevölkerung und unserer Lebensgrundlagen. [Aber] wir denken immer wieder an die Technik, an umwelttechnische Lösungen. Dies ist nicht das Problem, sondern das Personal, das Wissen und die Erfahrungen, wie wir am besten mit diesen Auswirkungen des Klimawandels umgehen können. Dies ist, was uns Sorgen macht. Deswegen ist es auch gut, wenn die Schulen und Universitäten und alle Bildungseinrichtungen sich und die Kinder, die Jugendlichen und alle Menschen gut vorbereiten können. [Wir müssen] bereit sein für den Moment wo sich die Lage zuspitzt.

In einer Krisensituation muss man nie etwas aus Prinzip ausschliessen, auch nicht ein vollständiges Verbot aller fossiler Brennstoffe in Industrie, Hausfeuerung und Verkehr. Wir leben nicht in einer perfekten Welt … wir müssen deswegen alles tun, um diese schwierigsten Massnahmen zu verhindern … einen Punkt finden, wo wir ein bisschen langsamer leben … aber weiterhin leben … den Schaden für die künftigen Generationen zu minimieren...“

Auf die Frage der Radiomoderatorin, was es für ihn bedeute, oberster Verantwortlicher zu sein, sagt Bundesrat Alain Berset: „Oberster Verantwortlicher zu sein ist für mich sehr anspruchsvoll“. Er schiebt nach: „… aber auch eine Ehre. Fast jede Nacht erwache ich und frage mich, was jetzt zu tun sei. Wir zweifeln immer, was wir tun. In einer Krisenbewältigung sind wir immer wieder mit Fehlern konfrontiert. Wichtigstes ist nicht Fehler in jedem Fall zu vermeiden. Sonst macht man nichts mehr. Das Wichtigste ist, wenn sowas passiert, so rasch wie möglich zu erkennen und zu korrigieren.“

Es sind bemerkenswerte Überlegungen, die es auch im wirklichen politischen Geschehen auf die Klimakrise zu bedenken und anzuwenden gilt.

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Nachhaltigkeit heisst Entwurf, nicht Gestalt

Moritz Gysi
24.11.2020

Der Begriff Nachhaltigkeit hat auch das Industriedesign erreicht. Doch der Markt setzt falsche Anreize, schreibt Moritz Gysi. Tiefstpreise und Werbung verlocken zu Verschwendung. Gegenstände sollten so gestaltet werden, dass vielfältig gebraucht werden können.


Im Zeichen des Klimawandels kommen wir angehenden Industriedesigner:innen in unserer Ausbildung um einen Begriff nicht herum: Nachhaltigkeit. So kann man auf der Website der Vertiefung Industrial Design an der Zürcher Hochschule der Künste folgendes entnehmen: „Mit dem steigenden Konsum, der weltweit erhöhten Herstellung und Vermarktung von Gütern haben der Rohstoff- und Energieverbrauch, die Müllproduktion und die damit einhergehende Natur- und Umweltzerstörung exponentiell zugenommen. Diese Umstände fordern die Industriedesigner heraus, dass sie ein besonderes Gestaltungswissen aufbauen, um dazu beizutragen zu können, allgemein eingeforderte Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.“

Daraus wird klar: Unsere Disziplin stellt sich den Anspruch, nachhaltig zu handeln. Das verwundert nicht, denn kaum jemand würde heutzutage noch öffentlich bezweifeln, dass eine nachhaltige Lebensweise existenziell für die Entwicklung unserer Gesellschaft ist. Doch das Thema ist so komplex, dass es den Rahmen unseres ohnehin schon dicht bepackten Stundenplanes nicht selten sprengt. Auch scheint Nachhaltigkeit nach den 70er-Jahren im Designdiskurs ziemlich an Relevanz eingebüsst zu haben, bis der Begriff nun wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangt ist. Vieles scheint man daher wieder neu erlernen zu müssen, eine etablierte nachhaltige Designpraxis gibt es nicht.

So kann die Forderung nach Nachhaltigkeit während dem Studium zur echten Zerreissprobe werden und wir Industriedesign-Studierenden haben nicht selten das Gefühl eine eierlegende Wollmilchsau entwerfen zu müssen. Nimmt man den oben zitierten Text ernst, wird man kaum noch bestreiten können, dass unsere derzeitige Lebensweise einer nachhaltigen Entwicklung fundamental widerspricht. Da wundert es nicht, dass wir immer wieder an den Punkt kommen, wo wir die Wirksamkeit unserer Anstrengungen bezweifeln und deren Sinnhaftigkeit infrage stellen.

Das hat seine Berechtigung, denn es gibt eine Vielzahl von Abhängigkeiten, die beeinflussen, ob und inwiefern ein Produkt nachhaltig ist. Nur wenige davon können Designer:innen aber direkt beeinflussen. Zuletzt die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, vor welchen Designer:innen wirken. Und diese sind leider immer noch nicht auf Nachhaltigkeit ausgelegt.

Im Gegenteil, der Markt setzt fundamental falsche Anreize, wenn wir eine zukunftstaugliche Wirtschaft anstreben. Da viele unserer Konsumgüter in Billiglohnländern produziert werden, entsteht eine Preisverzerrung, die uns einen verschwenderischen bis dekadenten Umgang mit ebendiesen ermöglicht. Weil sich Reparaturen in Hochlohn-Ländern in den seltensten Fällen rechnen, nimmt die Nutzungsdauer von beispielsweise elektrischen Haushaltsgeräten in ganz Europa stetig ab. So meint Balz Krügel, der in Zürich eine Reparaturwerkstatt betreibt, in einem Interview mit der „WOZ“: „Wenn die Leute, die Elektrogeräte zusammenbauen, pro Tag 5 US-Dollar verdienen, ist es logisch, dass ich nicht vom Reparieren dieser Geräte leben kann.“ Er betreibt seine Werkstatt aus ideellen Gründen, nicht aus wirtschaftlichen. 2019 verdiente er insgesamt 9000 Schweizer Franken. Wenn er seinen tatsächlichen Aufwand verrechnen würde, muss er damit rechnen, dass seine Kundschaft abspringt, da ein Neukauf oft ökonomischer ist als eine Reparatur. Leisten kann er sich das nur, weil seine Frau mehr einnimmt und sie keine Kinder haben.

Doch nicht nur defekte Geräte landen verfrüht im Mülleimer. Tiefstpreise und eine gut geölte Werbeindustrie treiben das Bedürfnis nach immer neueren und besseren Produkten auf die Spitze, was dazu führt, dass zunehmend auch noch funktionstüchtige Geräte weggeworfen werden. Laut der „NZZ am Sonntag“ zeigen Untersuchungen, dass der Anteil an Kleingeräten im Haushalt, die in intaktem Zustand entsorgt werden, mittlerweile 50 Prozent beträgt.

Das zerstörerische Potential einer solchen Konsumkultur zeigt sich an einem der wohl bedeutendsten Konsumgüter unserer Zeit: dem Smartphone. Trotz einer technischen Lebensdauer von etwa zehn Jahren werden diese nach durchschnittlich zwei bis drei Jahren ersetzt. Das ist problematisch, weil im Lebenszyklus eines Smartphones 90 Prozent der verursachten Treibhausgas-Emissionen auf die Herstellung entfallen. So gehört das Smartphone zu den klimaschädlichsten Elektrogeräten überhaupt.

Der Ersatz von intakten Geräten ist ökologisch gesehen fast immer von Nachteil. Dieser lohnt sich erst, wenn der energieeffiziente Betrieb des Neugerätes den ökologischen Fussabdruck von Herstellung und Entsorgung des Altgerätes kompensiert. Das ist aber in den allerwenigsten Fällen gegeben. „Der Austausch von älteren Geräten lohnt sich zumeist nur dann, wenn ein fundamentaler Technikwandel stattgefunden hat, wie etwa beim Wechsel von Röhrenfernseher auf LCD-Bildschirm oder von der Glühbirne zur LED-Lampe“, sagt Mirko Meboldt, Professor für Produktentwicklung und Konstruktion an der ETH Zürich, in der „NZZ am Sonntag“. In dieser Hinsicht lautet das Gebot der Stunde also Suffizienz und nicht Effizienz.

Die momentan vorherrschende Wirtschaftsweise erschwert uns also die Arbeit, wenn wir es ernst meinen mit der Nachhaltigkeit. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, sind wir auf eine progressive Politik angewiesen, welche solchen Fehlentwicklungen ein Korrektiv entgegensetzt und die Grundlagen für eine ökologische Wirtschaft in die Bahn leitet. Glücklicherweise zeigen sich auch erste Tendenzen in diese Richtung: Ab März 2021 sollen die neuen EU-Ökodesignrichtlinien in Kraft treten. Die Richtlinien, welche bis anhin nur auf den Energieverbrauch bei der Nutzung abzielten, richten den Fokus nun auf den gesamten Lebenszyklus eines Produktes. Das hat unter anderem zur Folge, dass Hersteller in die Pflicht genommen werden, Ersatzteile bis zu zehn Jahre nachliefern zu können, dass Reparaturen mit allgemein erhältlichem Werkzeug vollziehbar sein und die dazugehörigen Handbücher frei zugänglich gemacht werden müssen. Wenn es soweit kommt, könnte sich Balz Krügel vermutlich bald auf bessere Zeiten freuen.

Auch wenn diese Massnahmen mit Sicherheit nicht eine ultimative Antwort auf die Probleme unserer Zeit bieten, sind sie zweifelsohne ein Schritt in die richtige Richtung. Wir angehenden Industriedesigner:innen werden damit die Chance haben, innerhalb eines Rahmens zu wirken, welcher unsere Bestrebungen unterstützt und nicht unterläuft. Der Ball wird bei uns liegen und wir werden uns überlegen müssen, was diese Anforderungen für unsere Disziplin bedeuten könnten.

Vielleicht wird es helfen, sich dann auf Altbekanntes zu besinnen. Der Soziologe Lucius Burkhardt schreibt im Jahr1970: „Der Glaube, dass durch Gestaltung eine humane Umwelt hergestellt werden könne, ist einer der fundamentalen Irrtümer der Pioniere der modernen Bewegung. Die Umwelten der Menschen sind nur zu einem geringen Teil sichtbar und Gegenstand formaler Gestaltung; zu weit grösserem Teil bestehen sie aus organisatorischen und institutionellen Faktoren. Diese zu verändern ist eine politische Aufgabe. [...] Unter diesen Umständen kommt dem Design nur insoweit eine Funktion für die Verbesserung unserer Umwelt zu, als es sich auf die eigentliche Bedeutung des Wortes zurückbesinnt: Design = Entwurf, nicht Gestalt. Entworfen werden soll in erster Linie nicht das Gerät in seiner Gestalt, sondern seine mögliche Verwendung, seine Einsatzfähigkeit, seine möglichst vielfache Brauchbarkeit, seine Nicht-Verwendbarkeit für Schikane und Rückschritt.“

Moritz Gysi studiert Industriedesign an der Zürcher Hochschule der Künste. Er ist Mitherausgeber des Index, eines Newsletterprojekts. Index bietet eine Plattform für angehende Designerinnen und Designer, die sich vertiefter mit Kernthemen aus den verschiedenen Designdisziplinen auseinandersetzen und diese Arbeiten schriftlich teilen möchten.

Es reicht nicht

Karin Landolt
28.10.2020

Es wäre schön, wenn sich Schweizer Konzerne im Ausland für die Einhaltung der Menschenrechte und der Achtung des Umweltschutzes einsetzten, schreibt Karin Landolt. Viele tun das auch, aber eben noch nicht alle. Deshalb brauche es die Konzernverantwortungsinitiative. 


Es gibt keinen Konzern, der willentlich und mit böser Absicht Menschenrechte oder Umweltgesetze mit Füssen tritt. Zumindest wäre dies eine grobe Unterstellung und auf diesem Niveau muss auch nicht diskutiert werden, denn es geht nicht um die Kriminalisierung der Wirtschaft.

Es geht um Situationen, vor denen wir Kundinnen, Investoren, Zulieferer, Aktionärinnen, Mitarbeiter oder Unternehmerinnen lieber die Augen verschliessen, da uns ein Schnäppchen, ein Gewinn, ein Erfolg, ein Bonus entgehen könnte. Sonst müssten Leiharbeiter im nordwestindischen Bundesstaat Chhattisgarh und die dortige Bevölkerung nicht jahrelang gegen Enteignung durch die mächtige Industrie kämpfen. Nur dank einer Beschwerde bei der OECD hat sich der dort produzierende Zementkonzern LafargeHolcim zum Dialog bewegen lassen.

Lonza lässt seit Jahren aus seinem Werk in Visp eine exorbitant hohe Konzentration des klimaschädlichen Lachgases in die Atmosphäre ausströmen – vergleichbar mit der Menge der gesamten Schweizer Verkehrsabgase. Gehandelt wird erst, wenn sich der Bund an der Behebung der Katastrophe finanziell beteiligt.

Nestlé besitzt im US-Staat Michigan die Rechte für Grundwasser, ohne sich an vereinbarte Leistungen zugunsten der Bevölkerung zu halten, andere Interessen scheinen wichtiger zu sein.

Wir alle wissen von gesundheitsschädigenden Abbaumethoden durch in der Schweiz ansässige Rohstoffkonzerne, welche in fernen Ländern die lokale Bevölkerung und die Umwelt trotz jahrelanger Kämpfe ertragen, damit bei uns die neuesten Handys und die besten Technologien auf dem Markt landen.

Schutz für vorbildliche Unternehmen

Es gibt sie natürlich, Unternehmen, die nicht auf dem Blut der Entrechteten ihren Erfolg aufbauen. Es ist die grosse Mehrheit – so meine und hoffe ich – die ihre Wertschöpfungskette auf allfällige Ungereimtheiten prüft und hellhörig wird, wenn der Preis im Vergleich zur Leistung in krassem Missverhältnis steht.

Neben der Verbesserung der betroffenen Arbeiter, Kinder oder Regionen, denen mit der Konzernverantwortungsinitiative eine juristische Handhabe gereicht wird, profitieren also all jene Unternehmen, die bisher ihre Corporate Responsibility nicht alleine als Imagefaktor betrachten. Es profitiert eine Schweiz, die auf der humanitären Tradition weiterbauend als wegweisende Volkswirtschaft auftreten kann, und einer modernen globalen Wirtschaft die nachhaltige und faire Richtung zeigt. Oder soll die Schweiz hinterherhinken und irgendwann die schärferen Gesetze, die andere europäische Länder anstreben, im Zugzwang übernehmen müssen? Nein, solche Szenarien haben wir noch nie gemocht.

Es geht um Signalwirkung

Gegen ein Schweizer Unternehmen zu klagen wird auch mit der Annahme der Initiative schwierig, die Hürden dafür sind enorm hoch. Es wird keine Flut von Klagen gegen die Schweiz geben. Aber allein die geschaffene Möglichkeit dafür wird Konzerne dazu bewegen, handfeste Kontrollmechanismen einzurichten, sodass es gar nicht erst zu Menschenrechtsverstössen und Umweltschäden durch Ignoranz kommt. Ignoranz bleibt solange auf dem Tapet, solange es keine juristische Handhabe gibt.

Wie schön wäre es, wenn es freiwillig funktionieren würde.

Karin Landolt ist Co-Geschäftsleiterin bei Actares, Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften, und Inhaberin von Gesprächskultur. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Winterthur.

Lockdown, Circuit Breaker und die Verweigerung der Debatte

Steffen Klatt
22.10.2020

Die Verwendung von Anglizismen wie Lockdown und Circuit Breaker für den Umgang mit der Pandemie zielt darauf ab, ihren eigentlichen Sinn zu verwedeln, schreibt Steffen Klatt. Solche Anglizismen verdecken oft eine gefährliche Ahnungslosigkeit und behindern die Debatte.


Anglizismen in der Alltagssprache sind immer wieder Anlass für unfreiwilligen Humor. So werben viele Gastwirte mit dem „Tageshit“ – lies: Tage-Shit, also der Sch… des Tages. En guete! Kaufhäuser und Läden werben regelmässig mit „Sale“. Dabei sollte jeder Sekundarschüler und jede Sekundarschülerin wissen, dass dies in der zweiten Landessprache „schmutzig“ heisst. Den Vogel hat einst der Flughafen Zürich abgeschossen, als er sich Unique Airport nannte. Deutschschweizer betonen Wörter gern auf der ersten Silbe, und dann wird aus unique – nämlich einzigartig – eunuch – nämlich Eunuche. Immerhin hat sich der Eunuchenflughafen wieder zurückbenannt. Für die Alltagssprache gilt also das alte Wort: Wer nichts zu sagen hat, sagt es auf Englisch.

In der Politik dagegen werden Anglizismen gern gebraucht, wenn die eigentliche Aussage möglichst NICHT verstanden werden soll. So sprechen selbst Bundesräte von einem „Lockdown“. Damit meinen sie eigentlich eine Art Massenquarantäne: Die meisten Einwohnerinnen und Einwohner des Landes sollen zuhause bleiben. Das Wort Lockdown kommt aber aus einem anderen Zusammenhang. Ursprünglich steht es im Englischen für eine Form der verschärften Haft, wenn Gefangene ihre Zellen nicht mehr verlassen dürfen. Im weiteren Sinn wird es für Hausarrest gebraucht. So haben nicht wenige Menschen den Begriff Lockdown auch verstanden, als massive Einschränkung ihrer Freiheit. Aber ist das wirklich, was Bundesräte sagen wollen, wenn sie zu ihren Wählerinnen und Wählern sprechen? Wenn sie es dagegen nicht sagen wollen, warum tun sie es?

Auch der neue Begriff Circuit Breaker wird vermutlich verwendet, um die eigentliche Aussage zu verwedeln. Wörtlich übersetzt bedeutet er „Leistungsschalter“. Wir finden diesen Leistungsschalter in Sicherungskästen: Wenn die Sicherung rausfliegt, kann man den Schalter wieder umlegen, und schon geht das Licht wieder an. Angewandt auf die Pandemie: Der Staat verfügt einen Circuit Breaker, und schon verschwindet das Virus wieder. So einfach ist es leider nicht. Wer den Begriff Circuit Breaker dennoch verwendet, zeigt damit nur, dass er – oder sie – keine Ahnung hat, wie mit der Pandemie umzugehen ist. Der Anglizismus soll diese gefährliche Ahnungslosigkeit verdecken.

Die Pandemie ist eine Ausnahmesituation. Es gibt nicht viele historische Beispiele, an denen sich die Politikerinnen und Politiker in ihren Entscheidungen orientieren können. Selbst wenn sie es könnten, wissen sie nicht, welche Lehren der Vergangenheit heute noch anwendbar sind. Doch sie müssen es auch nicht wissen. Nicht die wenigen hundert Politikerinnen und Politiker, Beamtinnen und Beamten in Bern müssen Antworten auf die Herausforderung finden. Das müssen vielmehr die 8,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes. Es ist der grosse Vorteil einer Demokratie, sich auf die Weisheit des Volkes abstützen zu können.

Dazu braucht es eine Debatte. Zu einer Debatte gehört es, die Dinge beim Namen zu nennen. Anglizismen behindern die Debatte.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.

Im Notstand handeln … oder noch nicht?

Manuel Flury-Wahlen
20.10.2020

Manuel Flury-Wahlen vergleicht den Klimawandel mit einem Zug, der ungebremst in einen Kopfbahnhof rast. Wer verantwortlich handeln wolle, müsse diesen Zug stoppen, auch wenn dafür Regeln gebrochen werden. Das Schweizer Recht kenne dafür den Fall des Notstands.


Der TGV fährt auf dem eigens für die Hochgeschwindigkeitszüge in die Landschaft gebauten Trassee Richtung Paris. Die Fahrt ist angenehm, kein Zittern und Schütteln ist zu spüren, nur ein feiner hoher Ton verrät die hohe Geschwindigkeit. Ich freue mich auf die Tage in Paris, ein erstes Café auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville, den Spaziergang vorbei an den Bouquiniers entlang der Seine und selbstverständlich die kurz bevorstehende Ankunft in den hohen Hallen der Gare de Lion.

Mir kommt das Foto in den Sinn, das ich vor vielen Jahren auf der Titelseite eines Dokuments zu Fehlplanungen entdeckt habe. Das Bild zeigt eine Dampflokomotive, welche die Frontmauer des Kopfbahnhofs der Gare de Montparnasse in Paris durchschlagen hatte. Offensichtlich versagten die Bremsen oder der Bremsweg war zu kurz, als der Lokomotivführer zum Bremsen ansetzte. Kurz frage ich mich, wie lange wohl der Bremsweg eines TGV sei, der mit einer hohen Geschwindigkeit von beispielsweise – wie jetzt – 250 Kilometern pro Stunde unterwegs ist, wann wohl mit dem Abbremsen begonnen werden muss, damit nicht dasselbe passiert wie damals 1895.

Was, so geht mir durch den Kopf, würde passieren, wenn auf unserer Fahrt die Bremsen total versagten, es jedoch dem Lokomotivführer gelingen könnte, mit verringertem Antrieb den Zug rechtzeitig zum Halten zu bringen? Müsste er dies bereits jetzt, eine gute Stunde vor Paris tun oder würde es ausreichen, den Zug eine Viertelstunde vor Ankunft ausrollen zu lassen?

Dieser Gedanke lässt mich nun nicht mehr los. Angenommen, so überlege ich, der Lokführer schätzt die Situation so ein, dass er erst spätestens zehn Minuten vor Paris den Antrieb wegnehmen und den Zug ausrollen lassen kann? Wäre es aus der Sicht des Lokführers ein Gebot der Vorsicht, den Antrieb bereits jetzt auf Null zu reduzieren und den Zug ausrollen zu lassen? Dies würde wohl den ganzen Bahnbetrieb total durcheinanderbringen, alle anderen Züge müssten angehalten werden und dies mitten im abendlichen Stossverkehr! Dies ist eine Horrorvorstellung für den Lokführer, der um seine Stelle fürchtet. Wie soll der Lokführer die Situation situationsgerecht einschätzen? Er verfügt, so meine Einschätzung, über keine Erfahrungen, wie weit ein rollender Zug, ungebremst aber ohne Antrieb fährt. Mir ist klar: Jetzt ist der späteste Zeitpunkt zu handeln, dies, um allen möglichen Fehleinschätzungen zuvor zu kommen. Es ist meine Pflicht, den Lokführer dazu zu bringen, unmittelbar den Antrieb auf Null zurückzufahren. Dem Lokführer darf dabei nichts angelastet werden, er handelt aus einem Notstand. Anders kann er die mögliche Katastrophe nicht vermeiden.

Die zumeist jungen Leute auf dem Bundesplatz versuchten die Lokführer und -führerinnen im Parlamentsgebäude zu erreichen und sie zum Abbremsen zu bewegen, zur Reduktion der schädlichen Klimagase. Sie haben eine Ahnung davon, wie nur mit einer Vollbremsung die Katastrophe bei der Ankunft im „1,5 Grad Celsius Erwärmung“-Bahnhof verhindert werden kann. Die Lokführer und -führerinnen im Parlament und an der Spitze der politischen Behörden sind jedoch der Ansicht, dass sich ein „Ausrollen lassen“ zum heutigen Zeitpunkt – das heisst die Treibhausgasemissionen jetzt so zu reduzieren, so dass wir bei maximal 1.5 Grad Erwärmung unbeschadet ankommen – nicht aufdrängen würde! Der Klimabewegung auf dem Bundesplatz und anderswo sprechen diese Leute den „rechtfertigenden Notstand“ ab. Es bestehe kein Notstand, wir seien ja noch nicht in Bahnhofsnähe! Es müsste ihnen allen aber klar sein, dass mit einer Politik des weiteren „Anheizens“ die 1,5 oder gar 2 Grad Erwärmungsgrenze nicht zu halten sind, dass der Zug also mit voller Wucht durch die Wand des Kopfbahnhofs rasen wird! Gehen sie von einem imaginären Bahntrassee hinter dem Kopfbahnhof aus? Zumindest in unserem Fall fehlt ein solches auf der anderen Seite der Gare de Lyon.

Es herrscht ein Notstand, der entsprechendes Handeln – das „Ausrollen lassen jetzt“ – aufdrängt! Der so zu rechtfertigende Notstand ist im Schweizerischen Strafgesetzbuch, Art. 17.3 verankert:

„Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.“

Die meisten Gerichte betrachten jedoch den Notstand im Zusammenhang mit dem Klimawandel als nicht gegeben. Eine Ausnahme bilden zwei Gerichte in Lausanne und in Genf, die eben in viel beachteten Entscheiden Klimaaktivistinnen diesen Notstand zugebilligt haben. Ein Entscheid des Bundesgerichts in derartigen Fragen steht jedoch noch aus.

Wie muss sich die Lage präsentieren, dass von einem Notstand im Sinne des Strafgesetzbuchs gesprochen werden kann? Trinkwasserknappheit wegen monatelanger Trockenzeit bei abgeschmolzenen Gletschern? Zugeschüttete Bergtäler wegen Bergstürzen aus aufgetauten Permafrostgebieten?

Müssen die Klimajugend und alle Klimaaktivist*innen noch lauter schreien bis diejenigen, die vorne stehen und die Bremspedale bedienen, reagieren und, endlich, die Notstandsmassnahmen beschliessen, damit der Klima-Zug doch noch zum Stoppen gebracht werden kann?

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Kreativ investieren

Christian Häuselmann
14.09.2020

Wir geben viel Geld aus, für den täglichen Bedarf oder als langfristige Investition. Wir entscheiden dabei mit, wie unsere Welt aussieht, heute und in Zukunft. Christian Häuselmann regt daher dazu an, sein Geld verantwortungsbewusst auszugeben – und kreativ.


Wo soll ich investieren? Diese meistens im Zusammenhang mit Finanzmärkten oder Firmen-Beteiligungen verstandene Frage bekommt für jung und alt zunehmend eine neue Dimension: Wem gebe ich mein Geld, was machen diese damit - und was erhalte ich als Gegenleistung?

Negativzinsen, das unbeschränkte Gelddrucken, verheissungsvoll boomende Börsen oder die ungesicherte Altersvorsorge machen diese Überlegungen nicht einfacher. Ein ernüchterndes Fazit ist zu ziehen: normale Sparer und verantwortungsvolle Unternehmende werden zunehmend benachteiligt, Menschen und Organisationen mit Hochrisiko-Strategien werden belohnt. Die Politik und die Notenbanken haben seit der letzten Finanzkrise 2008/09 keine befriedigenden Antworten mehr. Sie stützen und fördern extremes Finanz-Verhalten, das dem gesunden Menschenverstand oft diametral entgegensteht. Das System scheint also an etwas sehr Tiefliegendem zu kranken.

Wird die Investitionsfrage jedoch aus etwas kreativerem Blickwinkel heraus betrachtet, ergeben sich ermutigende Antworten. Hier zwei Beispiele.

Erstens: Jeder tägliche Einkauf ist eine Investition. Wir können einen Besen kaufen für 2 Franken 95 Rappen, und sind uns bewusst: dieser billige Preis basiert auf billiger Qualität, ermöglicht sehr wahrscheinlich dank Ausbeutung von Natur und Mensch. Sehr wahrscheinlich investieren wir damit auch in ein diktatorisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Und jedes Jahr ist ein neuer Besen zu kaufen, weil der alte bereits kaputt ist. Das ist unser freier Entscheid. Wir können aber bewusst auch einen deutlich teureren Besen kaufen, mit einem Stiel aus einheimischem Holz, der Jahrzehnte seinen Dienst leisten wird und wo wir die abgenützten Borsten einfach und modular ersetzen können. Über die Jahre gerechnet sparen wir wohl sogar Geld. In diesem Fall könnte das Investitionsmotto lauten: „Lokal kaufen – Demokratie stärken“.

Zweitens: Wir alle haben täglich eine persönliche Portion Kreativität und Energie zur Verfügung. Wir können frei entscheiden, wie wir diese in eine verrückte Idee, ein motivierendes Projekt, private Beziehungen und unsere berufliche Arbeit investieren wollen. Es lohnt sich, in Ruhe in sich hineinzuhorchen und zu entdecken, wo die persönliche Passion liegt, wo das Feuer für eine Idee brennt. Wozu wir bereit sind, alles zu geben.

Entscheidend ist, sich bewusst Fragen zu stellen wie: Wo investiere ich meine Energie, meine Kreativität, und mein Geld? Für wen? Für was? Was macht mir Spass? Und: welche dieser Entscheidungen machen mich stolz?

Die Investitionsfrage nicht mit einer rein auf Geldrendite beschränkten Brille zu betrachten ist ein Experiment, das wir diskutieren können – danke!

Christian Häuselmanns Passion als Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur ist das langfristige Handeln von Menschen und Firmen. Unter anderem hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. Try longterm.

Von Fehlern lernen ... eine bedeutungsvolle Aussage

Manuel Flury-Wahlen
04.09.2020

Der richtige Umgang mit Fehlern wird oft angemahnt und selten praktiziert, schreibt Manuel Flury-Wahlen. Im Gegenteil: Fehler werden dauerhaft bestraft, Erfolge rasch vergessen. Das zeigt der öffentliche Umgang mit dem Bundesamt für Gesundheit. Es geht aber auch anders.


Mit gross aufgemachten Schlagzeilen streichen verschiedene Medien in diesen Tagen und Wochen die Fehler des Bundesamtes für Gesundheit BAG in der Bewältigung der Coronakrise hervor. Die ganze Bevölkerung hat es erfahren: Das BAG hat drei Tage, nachdem es seine Angaben zu den wichtigsten Übertragungsorten des Coronavirus veröffentlichte, diese korrigiert. Das Amt hat sich für den Fehler entschuldigt. Für diese Kommunikation und die Verbesserung hat das BAG nun jedoch nicht Komplimente für vorbildliches Fehlerverhalten erhalten. Im Gegenteil. Die Rufe nach Skandal standen im Vordergrund und der Gesundheitsminister höchst persönlich musste das „bashing“ entgegennehmen. Wie in diesem Fall wird in vergleichbaren Fällen oft gefordert, das Fehlverhalten „schonungslos aufzudecken“ und die Verantwortlichen „zur Rechenschaft zu ziehen“ Leisere Töne sind hingegen, wenn überhaupt, zu vernehmen, wenn verbesserte Lösungen eingeführt werden oder sich die Fehler als nicht gravierend entpuppt haben.

Wie steht es im beruflichen Alltag? Wer erhält für eine verbesserte Lösung ein Lob, eine bessere Beurteilung oder gar eine Lohnerhöhung? Oder bleibt es bei einer schlechteren Beurteilung, eben wegen eines Fehlers? „Nur wer nichts tut, macht auch keine Fehler“, wird etwa salopp gesagt. Dies lädt kaum dazu ein, etwas aktiv zu tun und innovativ zu sein, im Wissen, dass dabei auch Fehler passieren können.

Seit mehr als zehn Jahren veröffentlicht der kanadische Arm der Engineers without borders ihre jährlichen „Failure Reports“, Berichte über Misserfolge. „Failure – causes of failure – lessons learned”, dies das simple Muster dieser Berichte. Kein Partner dieser Organisation hat ihr deswegen seither die Unterstützung resp. Aufträge entzogen. Zwei Absichten verfolgen die Engineers without borders mit ihren Berichten. Zum einen: Fehler und das, was daraus gelernt wurde, hervorheben und, noch wichtiger, zum zweiten einen Dialog über die Herausforderungen ihrer Arbeit führen. Aus Fehlern lernen, um Dinge besser zu tun, dies ist das Motto der Ingenieure ohne Grenzen in Kanada.

„Aus Fehlern lernen“ ist eine Standardaussage im betrieblichen (Wissens-)Management. „Fehler sind Chancen“, ist ein Gemeinplatz im Alltag. Trotzdem: Sind Fehler nicht oftmals Flecken im Reinheft? Bleiben im viel zitierten Elefantengedächtnis die Fehler und Versäumnisse nicht besser haften als Erfolgsgeschichten? Meine Erfahrungen als Verantwortlicher für Wissensmanagement lehren mich: Fehler bleiben im institutionellen Gedächtnis länger haften als ausserordentliche Leistungen, Fehler eingestehen ist nur selten eine Tugend und kaum jemals werden Mitarbeitende ausgezeichnet, die aus fehlerhaftem Vorgehen eine erfolgreiche, weil bessere Lösung entwickelt haben.

Die Engineers without borders in Kanada stellen klar: Sie nehmen Fehler bei der Verfolgung ihrer Ambitionen nicht auf die leichte Schulter. Die Organisation ist aber überzeugt, dass ein gewisses Mass an Misserfolg unvermeidlich ist, wenn experimentiert und neue Dinge ausprobiert werden sollen. Frühzeitig erkennen, wo Anstrengungen fehlschlagen, und das Gelernte anwenden, um sich kontinuierlich zu verbessern, dies ist der Schlüssel zum Erfolg. Es ist gleichzeitig Ausdruck der Verantwortung, das Versagen so produktiv wie möglich zu gestalten, das heisst, die Konsequenzen zu minimieren, so dass der Wert des Gelernten die Kosten des Fehlers aufwiegt.

Eine Fehlerkultur leben bedeutet Fehler als Chance zu erkennen und das aus Fehlern Gelernte - die verbesserte oder bessere Lösung - zu würdigen. Wie halten wir es mit unseren Kindern? Wir hacken nicht auf ihren Fehlern herum, so dass sie in Angst aufwachsen. Nein! Wir loben sie für ihre Erfolge, ihre Fortschritte und stärken auf diese Art ihre Eigenständigkeit. Genauso schätzen wir es als Erwachsene, für das – auch aus Fehlern – Gelernte Respekt und Wertschätzung zu erfahren. Genauso können Unternehmungen, private wie staatliche, in ihrem konstruktiven Umgang mit Fehlern und Messerfolgen gestärkt werden, statt sich am öffentlichen Pranger zu finden und einen nächsten Fehler möglichst schön zu reden oder gar zu verheimlichen.

Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Die richtige Stromversorgung für eine klimataugliche Schweiz

Fabian Etter
10.08.2020

Die Politik soll den Ausbau von Grossanlagen für erneuerbare Energien fördern. Das fordert Fabian Etter, Co-Präsident von swisscleantech. Die vom Bund vorgeschlagenen Auktionen sind dabei ein sinnvoller Weg. Dabei sollte die Produktion von Winterstrom besonders berücksichtigt werden.


Mitte Juli ging die Vernehmlassung für die Revision des Energiegesetzes zu Ende. Was relativ trocken und komplex klingt, ist für die Klimapolitik entscheidend. Denn: es wird uns nur gelingen die schweizerische Volkswirtschaft klimatauglich zu gestalten, wenn wir bis 2050 vollständig aus den fossilen Energien aussteigen und auf Energieeffizienz und erneuerbaren Strom setzen. Die Frage, mit welchen Ansätzen dies gelingen kann, steht im Zentrum der Vernehmlassung.

Der Grund für die Revision ist eine Analyse des Bundesamtes für Energie (BFE), die aufzeigt, dass der aktuelle Zubau von erneuerbaren Energien nicht ausreicht, um die Schweiz klimatauglich zu gestalten. Klimatauglich bedeutet in diesem Zusammenhang, eine zu 100% erneuerbare, sichere und bezahlbare Stromversorgung sicherzustellen. Diese muss in der Lage sein, genügend Strom zu produzieren, damit wir die für den Klimaschutz notwendige Elektrifizierung der Bereiche Wärme und Mobilität vorantreiben können. Es müssen deshalb neue Anreize gesetzt werden, um den Zubau von erneuerbaren Energien zu beschleunigen.

Wer die Vernehmlassungseingaben der verschiedenen Wirtschaftsverbände genauer betrachtet, stellt fest, dass in der Schweiz immer noch aus ideologischen Schützengräben argumentiert wird. Auf der einen Seite findet sich der Dachverband economiesuisse, der jeglichen Ausbauzielen von erneuerbaren Energien kritisch gegenübersteht, weil er befürchtet, dass dies zu neuen Steuern führen wird. Economiesuisse schlägt zudem vor, das Thema Versorgungssicherheit dadurch zu adressieren, dass ein Teil des Netzzuschlags für den Bau neuer Gaskraftwerke verwendet werden soll. Fördert man gleichzeitig Gaskraftwerke und plant den Ausstieg aus der Förderung der Erneuerbaren, führt dies unweigerlich zum Anstieg der CO2-Emissionen. Der Wegfall der Kernkraftwerke kann nicht alleine durch den Import von Strom kompensiert werden. Dies zeigt, dass economiesuisse die Zeichen der Zeit nach wie vor nicht erkannt hat und dem Klimaschutz zu wenig Bedeutung beimisst.

Auf der anderen Seite positionieren sich Energieversorger und die neu gegründete Allianz der Schweizer Energiewirtschaft unter der Führung von AEE Suisse, deren Vernehmlassung stark von Eigeninteressen gekennzeichnet ist. Beispielsweise schlägt die Allianz ein Vergütungsmodell namens „gleitende Marktprämie“ vor, das dem Staat die Risiken überträgt, während die Energieversorger das Recht behalten sollen, die Gewinne einzustreichen. Für swisscleantech geht dies zu weit. Es ist nachvollziehbar, dass die Branche eine gewisse Planungssicherheit und Anreize fordert, um die wirtschaftlichen Risiken ihrer Investments abzufedern. Es kann aber nicht sein, dass dies zu einer so einseitigen Verteilung von Gewinn und Verlust führt. Unternehmerische Risiken gehören zum Unternehmertum dazu.

swisscleantech hat einen anderen Ansatz gewählt: Für uns ist die Frage entscheidend, welche Entwicklungen aus der Perspektive der gesamten Volkswirtschaft richtig sind. Dabei gilt es zuerst die Probleme gründlich zu analysieren. Aufgrund unserer Datenanalyse sind auch wir zum Schluss gekommen, dass eine stärkere Incentivierung für neue Grossanlagen zur Erzeugung von erneuerbarem Strom zwingend notwendig ist, wenn wir die Versorgungssicherheit langfristig sicherstellen wollen. Allerdings sehen wir die Herausforderung vor allem in den Wintermonaten. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass die Politik primär dieses Problem lösen muss.

Das BFE schlägt in seiner Vernehmlassungsvorlage vor, vermehrt auf Auktionsverfahren zu setzen, um den Zubau möglichst kosteneffizient zu regeln. Als Novum setzt das BFE auf Auktionen für Investitionsbeiträge. Wir erachten Auktionen für den Zubau von erneuerbaren Anlagen als sinnvollen Weg, da sie die Transparenz und die technologische Innovation fördern. Bei der Ausgestaltung der Auktionen müssen jedoch die Kosten für die Winterstromproduktion sehr stark gewichtet werden, da dadurch der Zubau in diesem gemäss unserer Analyse kritischen Zeitraum besonders gefördert wird.

swisscleantech möchte längerfristig noch deutlicher auf Auktionen setzen, als dies das BFE tut. Ob dabei auf eine Entschädigung pro erzeugte Kilowattstunde oder auf Investitionsbeiträge gesetzt wird, scheint uns sekundär. Beide Modelle stellen sicher, dass rentable Businessmodelle möglich sind, belassen jedoch einen grossen Teil des Risikos beim Produzenten. Viel wichtiger, so unser Schluss, ist jedoch die detaillierte Ausgestaltung der Auktionsmechanismen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Fairness sowohl für die Produzenten wie für die Konsumenten ausgehandelt und inländischer erneuerbarer Strom in einem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis zur Verfügung gestellt werden kann. Deshalb werden wir auf die dazu notwendige Verordnung ein Augenmerk halten. Zudem ist für swisscleantech auch klar, dass es eine Straffung von Bewilligungs- und Beschwerdeverfahren braucht, um den nötigen Zubau in der Schweiz zu realisieren. Denn die aktuelle Situation mit langwierigen Verfahren schreckt viele Investoren ab.

Fabian Etter ist Co-Präsident von swisscleantech. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung der Energie Zukunft Schweiz AG und Verwaltungsrat der Elektro Etter AG.

Das Lehrstück Boeing

Christian Häuselmann
22.07.2020

Wenn Unternehmen auf Rendite getrimmt werden statt auf Technologieführerschaft, dann leiden am Ende die Qualität der Produkte – und damit auch das Unternehmen selbst. Das zeigt das Beispiel Boeing, schreibt Christian Häuselmann.


Boeing im Nordwesten Amerikas war über Jahrzehnte eine innovative Industrieperle, die regelmässig neue Standards in der Luftfahrt setzen konnte. Ein Technologie-Innovator der alten Schule. Im Zeitraum Oktober 2018 bis März 2019 fallen plötzlich innert nur fünf Monaten zwei ihrer neusten Produkte vom Himmel, die Abstürze fordern hunderte Todesopfer: die maximale Katastrophe für alle Beteiligten. Die Untersuchungen konzentrieren sich rund um das digitale Steuerungssystem MCAS (Maneuvering Control Augmentation System). Seither ist Boeing sprichwörtlich am Boden. Ende April 2020 wurde die Entlassung von 12'000 Mitarbeitenden angekündet, dies entspricht fast 8% der Belegschaft.

Was ist passiert? Hier ist eine Spur. In den letzten zehn Jahren wurden bei Boeing rund 50 Milliarden US Dollar in Dividenden, Saläre und Boni des obersten Managements sowie Aktienrückkaufprogramme investiert. Der Wind hat von Technologieführerschaft auf gierige Finanzrendite gedreht. Boeing ist dabei keineswegs ein Einzelfall und in guter Gesellschaft. Offensichtlich wurden in dieser Zeitspanne in der amerikanischen Luftfahrtindustrie 96 Prozent des freien Cash-Flows mit diesen drei Instrumenten - Dividenden, Saläre und Boni des obersten Managements, sowie Aktienrückkaufprogramme - aus den Firmen hin zu Investoren und sogenannten Top-Managern geschleust! Für die Firmen selbst blieben ganze 4 Prozent übrig. So kann kein Unternehmen langfristig überleben.

Die zentrale Frage ist: Wer löste bei Boeing diese Entwicklung aus? Sind es die leidenschaftlichen Ingenieurteams, welche die weltbesten Flugzeuge bauen wollen? Sind es die Manager, deren wichtigste Kennzahl zum Messen von Erfolg sich auf die Höhe ihrer jährlichen Bonuszahlung reduziert hat? Oder sind es die mächtigen Investoren, welche im Hintergrund die strategischen Fäden ziehen?

Es scheint, dass heute die beiden grössten Vermögensverwalter der Welt, darunter Blackrock, gemeinsam durchschnittlich gut 20% der weltweit 500 grössten börsenkotierten Firmen besitzen. Das bedeutet bei solch grossen Firmen praktisch die entscheidende Stimme. Einziger Auftrag dieser Vermögensverwalter ist, aus Geld mehr Geld zu machen für sich selbst, und für ihre Kunden.

Warum ist Boeing abgestürzt? Man rechne. Und schliesse daraus die richtigen Schlüsse für die eigenen Strategien und Arbeiten.

Christian Häuselmanns Passion als Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur ist das langfristige Handeln von Menschen und Firmen. Unter anderem hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. Try longterm.

Der Ort ist ein Ort ist ein Ort

Michael Lünstroth
17.07.2020

Ist Kunst, die in Metropolen entsteht, automatisch besser? Nein, natürlich nicht, schreibt Michael Lünstroth. Warum es Zeit wird, mit der Verklärung des Urbanen und der Geringschätzung des Regionalen aufzuhören.


Städte sind grossartig. In ihnen pulsiert das Leben, sie sind Knotenpunkt für unzählige Begegnungen, Ausgangspunkt für zahlreiche Romane, Filme, Kunstwerke und Sehnsuchtsort für alle, die von einem aufregenden Leben träumen. Das vermutet man eben eher in Berlin als in Frauenfeld. Der Grossstadt-Sog hält die Welt in Atem: Aktuell leben fast 54 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, bis ins Jahr 2050, so prognostizieren es die Vereinten Nationen, wird diese Zahl auf 68,4 Prozent steigen.

Wer so populär ist, der neigt auch manchmal zu Überheblichkeit. Städter blicken oft eher etwas mitleidig auf Menschen, die in der so genannten Provinz leben. Das lag oft auch daran, dass viele Entwicklungen und Trends von Städten ausgingen und dann manchmal erst Jahre später in den Dörfern ankamen. Aber spätestens durch die Digitalisierung wurde dieser Gegensatz von Stadt und Land aufgehoben. Heute kann jeder, der will, in Echtzeit an weltweiten Trends, Moden, Denkweisen teilhaben. Dazu braucht es nur ein Smartphone. Ob man das in Arbon oder New York benutzt, spielt eigentlich keine Rolle mehr. Nicht der Ort, in dem man wohnt bestimmt das Denken, sondern das Denken bestimmt das Denken.

Absurd: Als bestimmte der Produktionsort die Wertigkeit der Kunst

Trotzdem wird selbst in der sonst als so offen und progressiv geltenden Kulturszene, der alte Stadt-Land-Gegensatz weiter munter gepflegt. Man sieht das zum Beispiel daran, dass Verlage und Medienhäuser ihre regionalen Kulturseiten ausdünnen oder ganz einstellen, weil sie sich lieber auf die grossen Häuser in den Zentren konzentrieren wollen. Oder auch daran, dass Veranstalter ein Festival mit ausschliesslich regionalen KünstlerInnen ernsthaft „Kulturfestival light“ nennen.

Als wäre Kunst, die in, sagen wir Kreuzlingen, entstanden ist, per se leichtgewichtiger und schlechter als solche Kunst, die mit dem coolen Stadtlabel von Los Angeles daher kommt. Als bestimmte der Produktionsort der Kunst ihre Wertigkeit. Eine absurde Vorstellung, die sich sehr zäh hält.

Dabei gibt es doch seit Jahrzehnten zahlreiche Gegenbeispiele. Die Gruppe 47, der wahrscheinlich einflussreichste Schriftstellerclub der deutschen Nachkriegszeit, wuchs aus der Provinz. Städtchen wie Murnau und Kochel waren für die Blauen Reiter um Franz Marc und Wassily Kandinsky essentiell. Im Tessin wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts ein Hügel bei Ascona zum Monte Veritá erhoben: Tanz und Malerei wurden hier prominent gepflegt.

Wie Kunst und Dorf zusammenfinden

Wer mehr Beispiele will: Dass grosse Kunst eben auch in kleinen Gemeinden entstehen kann, zeigt eindrücklich das 2013 von Britta Polzer herausgegebene Buch „Kunst und Dorf. Künstlerische Aktivitäten in der Provinz“. Einer der Autoren des Buchs ist übrigens Alex Meszmer vom Transitorischen Museum Pfyn. Mit der Aktion „Kulturhauptstadt Pfyn“ hat der Thurgauer 2011 und 2012 auch praktisch vorgeführt, wie kraftvoll die Melange aus Kunst und Dorf sein kann. Im vergangenen Jahr widmete er eine Jahrestagung des europäischen Netzwerkes „Culture Action Europe“ dem Thema „Kultur im ländlichen Raum“.

Alex Meszmer war vielleicht einer der Ersten, inzwischen ist er im ländlichen Thurgau aber längst nicht mehr der einzige, dem es gelingt Kunst und Dorf zu versöhnen. Man muss sich nur in jedem Jahr die Liste der Förderbeitrags-GewinnerInnen des Kantons anschauen. Jedes Jahr aufs Neue findet man dort aussergewöhnliche KünstlerInnen, die sich mit ihren Arbeiten vor niemandem zu verstecken brauchen. Dasselbe gilt im Übrigen für zahlreiche Kulturorte in der Region. Das Presswerk in Arbon, der Kunstraum in Kreuzlingen, das Haus zur Glocke (Steckborn) das Theater Jetzt (Sirnach) oder die Theaterwerkstatt Gleis 5 müssen den Vergleich mit ihren grossstädtischen Kollegen nicht scheuen.

Nicht die Herkunft sollte entscheiden, sondern die Qualität

Klar: Was gute Kunst ist und was nicht, ist oft strittig. Was hingegen nicht strittig sein sollte, ist dass nicht der Ort des Entstehens darüber entscheidet, sondern einzig die Qualität des Werkes.

Michael Lünstroth (42) ist Redaktionsleiter beim Kulturportal thurgaukultur.ch, freier Autor für verschiedene Medien und Lehrbeauftragter an der Universität Konstanz. Sein letztes Seminar trug den Titel: „Fakten statt Fake News: Wie Journalisten wirklich arbeiten (sollten)“.

Der Text ist zuerst im Kulturportal thurgaukultur.ch erschienen.

Wie du dir deiner Lebensvision klar wirst

13.07.2020

Menschen haben Visionen. Yves Nager zeigt auf, wie sie ihre eigenen Visionen finden können. Er erwartet, dass eine Zeit der Stille kommen wird, welche die Menschen offener machen wird.


Als ich Anfang Juli aufwachte, erinnerte ich mich an das vertraute Gefühl von Aufregung, Neugier und einer leichten Angst, das ich am Morgen des 30. Juni 2011 hatte. Nachdem ich eine sechsmonatige Ausbildung beim PCAB (Pacific Center for Awareness and Bodywork) abgeschlossen hatte, verliess ich an diesem Tag Kauai, um eine Visionssuche zu unternehmen und alle Hawaii-Inseln zu besuchen. Die Reise führte mich zu vielen Heiau und kraftvollen Orten, als ich durch Big Island, Maui, Molokai, Lanai, Oahu und zurück nach Kauai reiste.

Im Wesentlichen beschreibt der Begriff Visionssuche eine spirituelle Reise, auf der die Teilnehmer Stärke und heiliges Wissen aus der spirituellen Welt erhalten sollen. Visionssuchen spiegeln tiefe Meditationen und die Rolle der Spiritualität in indigenen Kulturen wider und stellen eine wichtige Verbindung zwischen den Teilnehmenden, dem Schöpfer und der Natur her. Während einer Visionssuche haben die Teilnehmenden auf der Suche nach spiritueller Führung oft Träume, Visionen oder übernatürliche Erfahrungen.

Visionssuchen werden seit Tausenden von Jahren von vielen Menschen in verschiedenen Kulturen durchgeführt. Moses bestieg den Berg Sinai, Buddha ging zur Mediation unter den Bodhi-Baum, Christus und die biblischen Propheten fasteten in der Wüste, Mohammed zog sich in eine Höhle zurück. Und viele Indianer, Mystiker und Sucher der spirituellen Wahrheit machen sich auf Visionssuchen auf, um ihre Richtung und ihren Sinn im Leben zu finden.

Für die Visionssuche vor neun Jahren war meine Absicht, über die Hawaii-Inseln zu reisen, so viele heilige Stätten (Heiau genannt) wie möglich zu besuchen, und während meiner dreiwöchigen Reise vom Spirit, dem Land und den Ahnen geführt zu werden. Ich wollte Orte abseits der Touristenpfade besuchen und mich so weit wie möglich von beliebten touristischen Destinationen fernhalten, um mich mit den natürlichen Elementen und der hawaiianischen Kultur zu verbinden und daraus zu lernen.

Am Ende besuchte ich mehr als 50 Heiau, und ich schloss meine Reise auf Kauai ab, wo ich 18 Kilometer zum abgelegenen Kalalau-Tal an der wunderschönen Küste von Na Pali wanderte. Heiau sind heilige Orte der Anbetung, der Macht, der Geschichte, des Geheimnisses und der Magie. Diese Orte befinden sich dort, wo die natürlichen Energien aussergewöhnlich lebendig und gesund sind und sich in einer enormen natürlichen Schönheit widerspiegeln, die durch die Elemente Land, Licht, Luft und Wasser erzeugt wird.

Eine der Erkenntnisse, die ich vor neun Jahren von meiner Visionssuche erhielt, war, dass die Vision deines Lebens dir Klarheit gibt und dich motiviert, deine Tage im Wissen und Gefühl zu verbringen, dass du dich auf das zubewegst, was wirklich wichtig und bedeutungsvoll für dich ist. Ich begann zu verstehen, dass die Ausrichtung meiner Lebensvision auf meine Werte mir auch hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wenn ich auf meiner Reise vor einem Scheideweg stehe.

Heute möchte ich dir drei einfache, aber wirksame Übungen vorstellen, durch die du Klarheit zu deiner Lebensvision finden kannst, ohne dich dazu (unter den gegenwärtigen Umständen) auf eine physische Visionssuche zu machen:

1) Schreibe Details deines idealen Lebens auf: Schreibe zuerst deinen idealen Tag vom Aufwachen bis zum Schlafengehen auf. Schreibe auf, wie dein Tag aussehen soll. Beziehe dabei bitte alle deine fünf Sinne ein: Wie würdest du dich fühlen, wenn du deinen idealen Tag beginnst? Was und wen siehst du? Was würdest du hören, riechen und schmecken? Was würdest du tun? Der Schlüssel ist, einfach mit dem Schreiben zu beginnen. Je mehr du aufschreibst, desto detaillierter wird deine Vision werden.

2) Erstelle ein Vision Board: Schneide als Nächstes Bilder, Wörter und Zitate aus, die deine Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder dich inspirieren. Es ist wichtig, nicht zu analysieren, sondern sie einfach zu sammeln und herauszureissen. Erlaube dir gross zu träumen, während du nach Bildern, Wörtern und Zitaten suchst. Ordne danach diese Bilder, Wörter und Zitate auf einem grossen Blatt Papier oder einer Tafel an. Konzentriere dich auf deine Emotionen: Wie du dich fühlst, ist wichtiger als das, was du denkst, während du dein Vision Board erstellst.

3) Reise in deine Zukunft: Nachdem du dein ideales Leben mental beschrieben hast, indem du es aufschreibst und es visuell und emotional ausdrückst indem du dein Vision Board erstellst, ist es wichtig, auch körperliche Bewegung einzubeziehen. Lege für die nächsten drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, fünf Jahre und zehn Jahre ein Blatt Papier auf den Boden. Stell dich nacheinander auf jedes Blatt Papier, schliesse die Augen, achte auf deinen Atem und frage dich: Was sehe, höre, fühle, rieche, schmecke ich? Wer ist bei mir? Wo bin ich? Was liebe und schätze ich daran?

Als ich mich vor neun Jahren auf meine Visionssuche machte, hoffte ich, Einsichten über mein persönliches Leben, zu meiner Zukunft und wie ich meine Gaben am besten mit anderen teilen kann erhalten würde. Interessanterweise bezogen sich die Erkenntnisse und Visionen, die ich während der Besuche der Heiau und durch Gespräche mit hawaiianischen Lehrern erhielt, hauptsächlich auf hawaiianische Kultur sowie auf die Vergangenheit und die Zukunft Hawaiis.

Während der Traumzeit in der Nacht erhielt ich auch Einblick auf eine Zeit der Stille, die sich unserer Welt näherte und die Menschen dazu drängen wird, offener zu sein, um spirituelle Führung zu erhalten und ihr Leben neu zu strukturieren. Ich dachte zuerst, dass diese Zeit bereits Ende 2012 kommen würde. Wenn ich jedoch nun über meine Visionen nachdenke, frage ich mich, ob diese prophetischen Träume irgendwie die gegenwärtigen Zeiten des Umbruchs, der Auflösung und der Umstrukturierung vorhersagten.

Yves Nager, geboren 1976 in der Schweiz, lebt seit vielen Jahren auf Kauai, Hawaii. Er ist Autor des im Giger Verlag erschienenen Buches „Hawaiianische Wiedergeburt“, das in der englischen Originalausgabe als „Hawaiian Rebirth“ erschien. Yves ist zertifizierter Coach und Yoga Nidra-Lehrer. Seit einem Jahrzehnt begleitet er Menschen und Unternehmen dabei, nachhaltige und ganzheitliche Lösungen zu finden und Möglichkeiten zu schaffen.

Dieser Meinungsbeitrag ist zuerst als Blog auf seiner Internetseite erschienen.

Menschenwürdiges Wirtschaften lässt sich schlecht als innovativ verkaufen

Karin Landolt
10.07.2020

Die Konzerninitiative schafft aus der Sicht von Karin Landolt einen moderaten ethischen Standard für eine menschenwürdige Wirtschaft. Er sollte ebenso selbstverständlich werden wie die ökologische Nachhaltigkeit.


Sie kennen den Begriff Cleantech. Cleantech ist im Trend, Cleantech heisst Innovation und erfolgsversprechende Businessmodelle mit ressourcenschonenden Technologien und Dienstleistungen.

Klingt vielversprechend und verheisst eine umweltverträgliche Wirtschaft, eine saubere Weste ohne idealistische Verzichtsleistung. Auch Aktionärinnen und Aktionäre investieren gerne, ja immer mehr, in Cleantech-Unternehmen (laut Verband Swiss Sustainable Finance waren es letztes Jahr 1,16 Billionen Franken) und liefern frisches Kapital für die Weiterentwicklung von innovativen Produkten mit geringem CO2-Ausstoss. Das Cleantech-Label lässt sich gut vermarkten. So weit so gut.

Cleantech könnte auch weiter gefasst werden: als saubere Weste im Umgang mit der Menschenwürde, insbesondere in unterentwickelten Produktionsländern, wo Menschenrechte und ein funktionierender Rechtsstaat oft nicht garantiert sind. Innovation in Bezug auf Menschenwürde lässt sich jedoch aus ethischen Gründen schlecht vermarkten. Ein Slogan wie „Neue Rezeptur ganz ohne Kinderarbeit“, klingt beschämend und ist kontraproduktiv, denn eine Kundin oder ein Kunde setzt solches als selbstverständlich voraus. Alles andere ist dreckig, unclean, unethisch, und noch imageschädigender als eine schlechte Umweltbilanz.

Auch Aktionärinnen und Aktionäre tragen Verantwortung. Den meisten Anlegerinnen und Anlegern ist eine menschenwürdige und nachhaltige Wirtschaft wichtig, niemand will eine Dividende auf dem Buckel von rechtlosen Arbeitern oder Regenwaldabholzung ausgeschüttet haben. Sei es aus Gewissensgründen, sei es, weil dreckiges Wirtschaften dem Image des Unternehmens schadet, in das sie investieren; denn dreckiges Wirtschaften kann Strafverfahren und langwierige Prozesse mit sich bringen, unter welchem letztlich auch Anlegerinnen und Investoren zu leiden haben.

Unternehmen bewerben heute Innovation mit hohen Umweltstandards. Menschenwürdiges Verhalten lässt sich hingegen schlecht als innovativ verkaufen. Sie sind darum gut beraten, die Konzernverantwortungsinitiative mitzutragen. Diesen neuen, moderaten ethischen Standard mitzutragen macht sie glaubwürdiger, als wenn sie die Konkurrenz mit teuren Greenwashing-Hochglanzbroschüren auszustechen und die Verantwortung der Konzerne mit fadenscheinigen Ausreden zu verwedeln versuchen. Andernfalls muss die Konsumentin oder der Anleger davon ausgehen, dass sie es nicht ernst meinen, mit Drecksgeschäften, die sich in der Wertschöpfungskette verbergen könnten, aufzuräumen.

Karin Landolt ist Co-Geschäftsleiterin bei Actares, Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften, und Inhaberin von Gesprächskultur. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Winterthur.

Wer sagt uns eigentlich, was richtige Bildung ist?

Raphael Tobler
09.07.2020

Bildung soll das Wissen und die Kompetenzen vermitteln, die in der Zukunft gebraucht werden. Da stehen auch die Unternehmen in der Verantwortung, sagt Raphael Tobler. Denn sie prägen die Berufswelt der Zukunft.


Grundsätzlich sind wir uns alle einig: Bildung ist wichtig und nur keine Bildung wird auf lange Sicht teuer für die Gesellschaft. Aber wer sagt uns eigentlich, was richtige Bildung ist? Wessen Aufgabe ist es, heute zu entscheiden, was morgen gelehrt und gelernt wird, damit wir es übermorgen einsetzen können?

Seit Jahrzehnten wird Bildung konserviert, weiterentwickelt und weitergegeben. Man könnte davon ausgehen, dass hier fundierte Entscheide getroffen werden, was in zehn oder 20 Jahren relevant sein wird. Aber woher sollen diese Institutionen denn wissen, was die heutigen Schüler/innen in 20 Jahren für Kompetenzen brauchen? Liegt die Verantwortung wirklich bei den Schulen? Ist dem so, dann werden die Herausforderungen betreffend Lehrpläne, Konzepte und schlussendlich für die Lehrpersonen immer grösser – zumal die Veränderungen immer schneller stattfinden.

Nachfrage und Angebot

Sind es möglicherweise die Kunden (also die „Sich-Bildenden“) Impulsgeber, weil sie eine Nachfrage erzeugen? Wenn genügend Nachfrage nach einem Lehrgang besteht, dann wird dieser von den Bildungsinstitutionen angeboten. Bei einem Studium oder einem Weiterbildungskurs ist dies noch einfach und logisch zu begründen. Anders in der Grundschule. Kein Kind kommt in die Klasse und bittet den Lehrer, dass die Sozialkompetenzen in diesem Jahr stärker im Fokus stehen sollen oder es Zeit wird, das kleine Einmaleins zu lernen.

Unternehmen als eigentlicher Treiber der Kunden

Gehen wir vom Kunden im Grundstudium oder der Weiterbildung aus. Ausser bei gewissen Menschen, die ausschliesslich ihrer Leidenschaft folgen, ist bei der Wahl der entsprechenden Bildung oftmals der zukünftige Job und auch das Salär eine Motivation: „Ich muss etwas studieren, mit dem ich später eine gute Stelle finde.“

Vereinfacht gesagt, folgen wir damit dem Ruf der Unternehmen, die in den Stellenprofilen gewisse Kompetenzen verlangen. Ein Unternehmen ist ebenfalls der heutigen Nachfrage auf dem Markt ausgesetzt und versucht, diese möglichst gut zu befriedigen. Dazu braucht das Unternehmen die passenden Mitarbeitenden. In der Grundschule wollen die Eltern das Beste für ihre Kinder. Aber woher wollen sie wissen, was bei der Bildung das Richtige ist?

Ob heute oder in 20 Jahren: Es sind die Unternehmen, die enger mit den Bildungsinstitutionen zusammenarbeiten müssen. Sie müssen Impulse geben, welche Kompetenzen in zehn oder 20 Jahren verlangt werden. Denn im Gegensatz zu früher sind es heute auch vermehrt die Unternehmen, welche den Wandel in der Berufswelt herbeiführen. Und immer weniger die klassische Grundlagenforschung der Hochschulen. Diese verändert die Welt zwar ebenfalls, aber wesentlich langsamer.

Aufgrund der langsameren Geschwindigkeit ist es auch einfacher zu reagieren. Oft höre ich heute von Jungen, was ich mir früher auch selbst dachte: „Wozu brauch ich das in meinem Leben?“ Dieser Satz ist im Grundsatz absolut richtig. Als junger Mensch sollte ich mich durchaus fragen, wieso ich dies aktuell lerne, obwohl es zum heutigen Zeitpunkt keinen Sinn ergibt. Zehn Jahre später sollte die Antwort darauf allerdings sein: „Jetzt weiss ich, warum ich dies lernen musste.“ Aktuell ist die Antwort viel zu oft: „Das habe ich noch nie gebraucht!“

Raphael Tobler ist Gründer und Geschäftsführer des Bildungsportals eduwo.ch. Er ist auch Präsident des Entrepreneur Club Winterthur.

Corona und Klima: Handeln ohne „letzte Gewissheit“ 

Manuel Flury-Wahlen
08.07.2020

Der Bundesrat hat in der Corona-Krise harte Entscheidungen getroffen, ohne letzte Gewissheit über ihre Wirkung zu haben. Die Klimakrise stellt eine ähnliche Gefahr dar, schreibt Manuel Flury-Wahlen. In der Klimakrise nicht zu handeln, wäre lebensgefährlich.


Anfangs Mai war es soweit. Angelo, unser siebenmonatiger Enkel, ging erstmals in die Kita. Bis dahin hüteten wir Grosseltern ihn einmal pro Woche. Zusammen mit seinen Eltern bildeten wir einen Corona-Cluster, wir wollten unbedingt eine Ansteckung vermeiden. Mit dem Kitaeintritt von Angelo setzten wir das Hüten für einige Wochen aus. Bleiben die Betreuer*innen gesund? Wie steht es mit den Familien der anderen Kinder? Könnte Angelo das Virus in unsere Familie bringen? Werden wir damit auf einmal gefährdet? Dies waren einige unserer vielen Fragen. Die ExpertInnen konnten uns nicht mit Sicherheit darüber Auskunft geben, ob Angelo das Virus übertragen und uns anstecken kann.

Ansteckung in der Kita?

Seit Anfang Juni und einer damals deutlich entspannten Situation hüten wir unseren Enkel wieder. Klare Antworten auf unsere Fragen haben wir zwar nicht erhalten. Wir haben keine absolute Gewissheit, was für ein Ansteckungsrisiko wir eingehen. In der Zwischenzeit haben wir uns jedoch dank vieler Informationen und Einschätzungen von Fachleuten ein Bild der Situation machen können. Wir haben lediglich von einem einzigen Kita-Ansteckungsfall gehört. Wir bleiben weiterhin aufmerksam auf die Geschehnisse um uns herum, unter Umständen müssen wir unser Bild anpassen und auch unser Hüten und das Zusammensein mit Angelo wieder verändern.

Wie weit sollen die Behörden gehen?

Als der Bundesrat im vergangenen März den „lock-down“ verordnete, musste er dies tun, ohne exakt zu wissen, wo und bei wem sich das Virus eingenistet hat, wer in welchem Alter gefährdet ist zu erkranken, wer zu welchem Zeitpunkt ansteckend ist und wie viele erkrankte Menschen medizinisch behandelt oder gar auf der Intensivstation gepflegt werden müssen. Es ging ihm im Wesentlichen darum, die „Ansteckungskurve zu glätten“ zum Schutz des Gesundheitssystems und der Pflegenden. Der Bundesrat sah keine andere Möglichkeit, als das Leben bis auf das Überlebensnotwendige einzuschränken. Diese „Vollbremsung“ hat zum erwarteten Resultat geführt, die Ansteckungskurve flachte ab. Gleichzeitig wurden uns auch die wirtschaftlichen und sozialen Kosten dieser „Bleihammermethode“ bewusst. Der Bund alleine hat Finanzen im Bereich von 10 Prozent des jährlichen Volkseinkommens mobilisiert, die wirtschaftlichen Folgen für Angestellte und Unternehmer*innen sind noch nicht genau abzuschätzen.

Dank unzähliger wissenschaftlicher Studien und Modellrechnungen ist in der Zwischenzeit einiges klarer geworden: Übertragungen geschehen vorwiegend in Innenräumen, oder auch: eine gezielte „Durchseuchung“ der Bevölkerung ist weder volkswirtschaftlich sinnvoll noch ethisch vertretbar. Das „tracing“ der Ansteckungsketten bleibt das A und O der Bekämpfung der Pandemie. Entsprechend dieser Erkenntnisse hat der Bundesrat seine Lockerungsstrategie beschlossen, eine schrittweise „Wiederinbetriebnahme“ des öffentlichen Lebens. Absolute, „letzte“ Gewissheit über die Wirksamkeit dieser Massnahmen besteht aber für die Behörden weiterhin nicht.

Klarheit, bitte!

Klarheit zu haben darüber, was um uns herum geschieht, zu wissen, was die Ursachen von Geschehnissen sind, ist für uns wichtig. Wir wollen in Gewissheit leben. Wir suchen Erklärungen bei Fachleuten oder uns vertrauten Personen und Organisationen, wobei wir dazu tendieren denjenigen Erklärungen und Fachleuten Glauben zu schenken, die unseren Sichtweisen am meisten entsprechen. Wir erfahren jedoch immer wieder, dass wir auf viele Fragen keine befriedigenden, eindeutigen Antworten erhalten. Wir müssen als Einzelpersonen oder als Gesellschaft Entscheide ohne „Expertise“ sozusagen „in Unsicherheit“ treffen. Soll ich jetzt eine Hygienemaske anziehen, wenn ich am Samstagvormittag auf den Wochenmarkt gehe, ohne zu wissen, wer mich anstecken könnte? Welche (tiefe) Ansteckungsrate für COVID 19 sollen die Behörden anstreben, damit eine zweite Ansteckungswelle noch unter Kontrolle bleiben kann und gleichzeitig das wirtschaftliche und soziale Leben nicht noch einmal stark leidet?

Was uns die Pandemie lehrt, ist wichtig für die Bewältigung der Klimakrise

Die Pandemie lehrt uns, ohne Gewissheit und ohne volle Klarheit Entscheide zu treffen, sowohl als Einzelpersonen auf dem Wochenmarkt zum Maskentragen oder als Gesellschaft, wenn es um die Wiedereröffnung von Schulen, Restaurants oder gar Clubs geht. Diese Erfahrungen sind wichtig für den Umgang, speziell in Zeiten der Klimakrise. Wir wissen, dass die CO2-Emissionen auf netto Null gesenkt werden müssen. Wir wissen auch, dass dies möglichst rasch – und nicht erst 2050 – geschehen muss. Eine Erwärmung der Atmosphäre von 1,5 Grad, so die Wissenschaft und die Politik, soll „verkraftbar“ sein. Die Gesellschaft lebt im Moment jedoch auf einem deutlich „wärmeren“ Pfad. Wir wissen nicht, welche Wirkung technologische Innovationen bringen. Handeln ist also mehr als dringend.

Was wir in der Pandemie gelernt haben ist jedoch: Abwarten ohne zu Handeln ist überlebensgefährlich! Ohne Entscheide für einen „lock-down“ hätte das Gesundheitssystem nicht überlebt und wären viel mehr Verstorbene zu beklagen. Nur Handeln – ohne Gewissheit - gibt uns Grundlagen um zu verstehen, ob und nach welchem Muster sich das Klima und das Leben dabei verändern und welche weiteren Massnahmen sinnvollerweise getroffen werden müssen!

Die Erde benötigt einen Mundschutz, und zwar jetzt, ohne „letzte“ Gewissheit!

Manuel Flury ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Wieso Corona ein schlechter Treiber für die Digitalisierung der Messebranche ist

Matthias Baldinger
07.07.2020

Momentan erfährt die Messebranche einen Digitalisierungsschub. Der Treiber dafür ist offensichtlich: Corona. Matthias Baldinger glaubt aber, es ist der falsche Treiber. Eine Messe sollte nicht als Ganzes digitalisiert werden – sondern nur die Teile, die online besser funktionieren als live. 


Um die aktuellen Einschränkungen auszugleichen, entsteht eine Vielzahl von virtuellen Messen und digitalen Erweiterungen. Dies macht in der aktuellen, sehr schwierigen Zeit sicher Sinn. Aber: Macht es auch längerfristig Sinn? Sind die Lösungen, die die aktuellen Herausforderungen adressieren (Veranstaltungsverbot, weniger Besucher aufgrund von Einschränkungen etc.), auch die Lösungen, die Messen bereichern, wenn sie wieder ohne Einschränkungen stattfinden können?

Persönlich bezweifle ich dies. Ich bin überzeugt, dass digitale Erweiterungen der richtige Weg sind – der Grund sollte einfach ein anderer sein. Der Grund sollte das veränderte Kaufverhalten sein, welches unabhängig von Corona im B2B- und B2C-Umfeld seit längerem zu beobachten ist. Und von Messen bisher nur sehr wenig bedient wird.

Messen müssen neues Kaufverhalten bedienen können

In einigen (wenigen) Bereichen wurde der Kaufprozess komplett digitalisiert. In den allermeisten Fällen ist der Prozess aber weder strikt offline noch online – sondern sowohl als auch. Ein Beispiel: Ich bin begeisterter Skifahrer. Meine Ski kaufe ich immer in einem Sportgeschäft und werde dies auch in Zukunft tun, da mir Beratung, die haptische Erfahrung der Ski und sorgenfreier Service wichtig sind. Aber: Mir käme es nicht im Traum in den Sinn, in ein Sportgeschäft zu gehen, ohne bereits zu wissen, welche zwei bis drei Ski-Modelle in Frage kommen. Das recherchiere ich davor detailliert online. Im Geschäft lasse ich mir meine Überlegungen bestätigen und kläre offene Fragen. Nach dem Kauf lasse ich mich weiter online und eher passiv über Neuerungen informieren, z.B. via Newsletter oder soziale Medien.

Genau dieses neue Kaufverhalten müssen Messen bedienen können und müssen ihre Veranstaltungen hierzu um digitale Elemente erweitern. Dabei geht es nicht darum, das was live gut funktioniert, virtuell abzubilden, sondern die spezifischen Vorteile von Online und Live zu kombinieren.

Asynchronität vs. Gleichzeitigkeit

Ein grosser Vorteil von Online ist, dass die Vermittlung von Information nicht gleichzeitig mit deren Konsum stattfinden muss. Ich bin beispielsweise froh, dass ich meine Ski-Recherche in einer freien Stunde an einem Sonntagnachmittag machen kann, während jedes Sportgeschäft geschlossen ist. Genau umgekehrt ist einer der grossen Vorteile von Live, dass alle gleichzeitig vor Ort sind. Für viele Besucher ist dies ein wichtiger Faktor, denn es macht es einfach, Geschäftspartner persönlich zu treffen.

Online macht diese Gleichzeitigkeit eigentlich keinen Sinn. Wieso sollten beispielsweise zwei Geschäftspartner einen Monat bis zu einer virtuellen Messe warten, um ihren Video-Call durchzuführen? Es müssen eben nicht alle gleichzeitig online sein. Ich habe daher meine Zweifel, ob wir nach Corona noch virtuelle Messen mit einem Veranstaltungsdatum sehen werden.

Übersicht vs. Detail

Messen behaupten häufig, dass sie einen guten Überblick bieten. Persönlich glaube ich allerdings, dass dies online besser funktioniert. Online kann ich schnell grosse Mengen von Information durchsuchen und mir einen Überblick verschaffen. Wenn es dann allerdings um die wichtigen Details und anspruchsvollen Fragen geht, stösst Online an seine Grenzen. Diese können viel besser in persönlichen Diskussionen auf Messen geklärt werden.

Es wäre heutzutage eine Verschwendung, diese Diskussionen für das Vermitteln des Überblicks (z.B. über Produktinformationen, welche problemlos online verfügbar sind) zu nutzen. Diesen sollten die Besucher zum Zeitpunkt der Messe bereits haben. Ich glaube daher, dass die Digitalisierungsbestrebungen von Messen dahin führen sollten, online den Ort zu bieten, wo Besucher sich möglichst einfach einen Überblick verschaffen können. Damit sie dann für die Klärung der entscheidenden Details zur Veranstaltung kommen.

Haben virtuelle Shoppingcenter und virtuelle Messen etwas gemeinsam?

Da Online und Live unterschiedliche Vorteile haben, ist es fraglich, ob es funktioniert, Messen virtuell erfolgreich zu veranstalten. Ich könnte mir vorstellen, dass Benedict Evans mit seinem sehr interessanten Artikel zum Thema recht behält: In den 90er Jahren wurde viel in virtuelle Shoppingmalls investiert. Wie sich herausstellte, funktioniert die Art, wie Shoppingcenter Anbieter aggregieren, zwar offline, aber nicht online. Online haben sich andere Ideen durchgesetzt. Vielleicht gilt das gleiche für virtuelle Messen?

Matthias Baldinger ist Gründer und Geschäftsführer von Conteo. Conteo entwickelt Lösungen für Messeveranstalter, welche den Content der Aussteller ins Zentrum stellen.

Chaos als Katalysator zur Wiedergeburt

Yves Nager
06.07.2020

Der Zustand der Welt, wie er in den Medien präsentiert wird, überwältigt viele. Yves Nager sieht darin Hinweise, dass sich etwas Neues entwickelt. Umso wichtiger sei es, dass man sich nicht von der Vergangenheit gängeln oder von der Zukunft ängstigen lässt, sondern im Jetzt zu leben lernt.


Es war erst ein paar Wochen her, als viele Teile der Welt in einem Lockdown waren. Während wir daheim blieben, blickten wir zurück und freuten uns an Erinnerungen von Erfahrungen, die wir gemacht hatten, bevor die Welt zum Stillstand kam.

Wir fragten uns, wie lange dies wohl dauern würde, wir stellten uns vor, was wir tun würden, wenn es vorbei ist, und wir sehnten uns nach einer Erleichterung der Einschränkungen, damit wir unser daheim wieder verlassen und die Natur geniessen, Familienangehörige und Freunde besuchen und wieder mehr Freiheit erfahren können.

Anstatt nun jedoch die Gelegenheit zu haben, diese surrealen Erfahrungen der letzten drei Monate zu integrieren und dankbar zu sein, dass wir in vielen Teilen der Welt das Schlimmste mit der Covid-Situation vorerst überwunden zu haben scheinen, sehen wir in den Medien erneut ungerechtfertigte und unvorstellbarere Gewalt, darauffolgende Wut und tiefe Traurigkeit, die aufgewühlt werden.

Ich glaube, ich bin nicht allein, wenn ich mich manchmal vom Zustand der Welt, so wie sie uns in den Medien gezeigt wird, überwältigt fühle. Alles scheint buchstäblich zu brennen, im innen wie im aussen. Wenn wir jedoch genauer hinschauen, bietet sich auch die Möglichkeit, die Illusion zu durchschauen und einen höheren Plan zu finden, der alles auf dieser Welt orchestriert.

Ich will daran glauben, dass sich die Menschheit gerade jetzt zu etwas Grösserem als zuvor entwickelt und letztendlich das höchste Gut für alle erreichen wird. Die Bilder der Feuers, die wir zuletzt viel in den Medien sahen, erinnern mich an die Legende des Phönixvogels, der aus der Asche des Feuers geboren wurde, der es verzehrte. Der Phönix steht für Transformation, Tod, Auferstehung und Wiedergeburt.

Als kraftvolles spirituelles Totem ist der Phönix das ultimative Symbol für Stärke und Erneuerung. Es ist ein Symbol für die Sonne, die vermeintlich nach jedem Sonnenuntergang ‚stirbt‘, um am nächsten Morgen beim Sonnenaufgang wiedergeboren zu werden. Schliesslich stirbt die Sonne jedoch nie wirklich, sondern sie ist ein unsterblicher Teil der Schöpfung, der ständig aus der Asche des Feuers aufsteigt, das sie verbrannt hat.

In Kombination mit den Frequenzen der Mondfinsternis Anfang Juni und dem 6-6-Portal, das Harmonie, Natur, Elementarität, Gleichgewicht und Heilung symbolisiert, bietet uns diese Zeit eine weitere Gelegenheit, alles loszulassen, was uns nicht mehr dient, und uns von einem weiteren Zyklus der Wiedergeburt in die Erneuerung tragen zu lassen, so wie es die Sonne jeden Tag tut.

Nachdem ich im Frühjahr 2008 zum ersten Mal in Hawaii angekommen war, las ich als erstes Buch „Jetzt – Die Kraft der Gegenwart“. Das von Eckhart Tolle geschriebene Buch wurde mir von Olivier, einem ehemaligen Arbeitskollegen, mit auf den Weg gegeben. Es war vor zwölf Jahren, als mir klar wurde, dass sich unsere Gedanken hauptsächlich auf die Vergangenheit oder die Zukunft konzentrieren, aber selten auf das, was jetzt im gegenwärtigen Moment passiert.

Wenn wir uns auf die Vergangenheit konzentrieren, können wir Bedauern, Traurigkeit, Ressentiments und Unversöhnlichkeit empfinden, und wenn wir uns auf die Zukunft konzentrieren, können Spannungen, Sorgen, Ängste und Stress entstehen. Wir befinden uns dann in einem Kreislauf, in dem wir unsere Energie für Dinge verschwenden, die wir sowieso nicht kontrollieren können.

Die meisten sind sich bewusst, dass der einzige Moment, den wir jemals wirklich beeinflussen können, der gegenwärtige Moment ist. „Jetzt – Die Kraft der Gegenwart“ bezieht sich darauf, dass wir Frieden und Glück in nichts ausserhalb von uns finden können. Stattdessen besteht der einzige Weg, wahren Frieden und Erfüllung zu finden, darin, in jedem Moment präsent zu sein.

Obwohl es ein so einfaches Konzept zu sein scheint, kann es manchmal schwierig sein, es anzuwenden. Zu lernen, wie man sich auf den gegenwärtigen Moment, das Hier und Jetzt, konzentriert, ist wie einen Muskel mit Zeit, Übung und Geduld zu stärken. Praktiken wie Meditation, Atemarbeit oder Yoga Nidra sind nützlich, um im Laufe der Zeit präsenter zu werden.

Wenn ich durch die in den Medien präsentierte Negativität Erschöpfung fühle, so ist es eine weitere Erinnerung für mich, das Mobiltelefon wegzulegen und mich wieder mit dem zu verbinden, was gerade vorhanden ist. In meinem Buch „Hawaiianische Wiedergeburt“ teile ich, dass wir, wenn wir uns mit der Natur verbinden, energetische und spirituelle Unterstützung zum Prozess der Wiedergeburt erhalten.

Wenn du mit den Elementen der Natur – dem Wasser, dem Holz, dem Feuer, der Erde und dem Metall – vollständig präsent sind, kannst du dich von jeglicher Negativität befreien und deine natürliche Verbindung mit der Energie des Wohlbefindens wiederherstellen, die in Wäldern, Ozeanen, Flüssen und Bergen so reichlich vorhanden ist. Ich lade dich ein, dir auch etwas Zeit ohne die überwiegend negativen News in den Medien zu nehmen und dich wieder mit der Natur, mit dir selbst und letztendlich mit der Quelle des Seins verbinden.

Durch bewusstes Atmen wirst du gegenwärtig, die Energien durch dich fliessen zu lassen und sie in die Erde zu erden. Visualisiere danach, wie der Phönix, der Sonnenvogel, alle chaotischen Energien in dieser Welt als Katalysator für grosse Veränderungen, in Kraft und Erneuerung in deinem Leben und in der Welt umwandelt.

Yves Nager ist in Spiez BE aufgewachsen. Nach einer jahrzehntelangen Karriere im Bereich Personalmanagement, Unternehmensberatung, sozialer Arbeit und Sozialversicherungen hat er bei seinem ersten Besuch auf Hawaii 2008, eine wundersame Heilerfahrung erlebt. Heute lebt er als Heiler, Erfolgsautor, Weltentdecker mit seiner Frau Eunjung auf Hawaii. Seine Erfahrungen beschreibt er in seinem neuen Buch „Hawaiianische Wiedergeburt“.

Dieser Beitrag ist zuerst auf seinem Blog erschienen.

Corona Rettungs- und Hilfspakete – Die Guten, die Bösen und die Hässlichen

Roman Gaus
02.07.2020

Weltweit werden 7,3 Billionen Dollar für Covid-19-Notfallrettungs- und Hilfspakete ausgegeben. Unternehmer Roman Gaus fragt sich, inwieweit diese Investitionen im Einklang stehen mit wirksamen Klimaschutzmassnahmen. Er macht zwei nachhaltige Zielbereiche aus. 


Das Schweizer Parlament hat fast 60 Milliarden Franken für Covid-19-Notfallrettungspakete bereitgestellt. Das sind perspektivisch fast 10 Prozent des nationalen BIP. Eine erstaunliche Zahl. Die Schweiz hat fast 20 Jahre gebraucht, um den Schuldenstand auf diesen Betrag zu senken. Nun wurde alles innerhalb weniger Wochen rückgängig gemacht. Der Schweizer Finanzminister Ueli Maurer sagte, dass „meine Taschen jetzt wirklich leer sind“. Und das ist die Schweiz, eines der reichsten Länder der Welt. Zukünftige Generationen werden die Rechnung für diese fiskalischen Massnahmen bezahlen müssen.

Die Oxford Smith School of Enterprise and the Environment hat jetzt ein bahnbrechendes Arbeitspapier veröffentlicht, das sich mit den Auswirkungen der Covid-19-Fiskalpakete und ihrer Beziehung (Beschleunigung/Verzögerung) zum Klimawandel befasst. Es ist eine hochinteressante Lektüre. Ich möchte kurz einige persönliche Anmerkungen machen.

Das sagt die Studie

Die Studie enthält eine eingehende Analyse der Einschätzung von 230 Politikexperten zu über 700 verschiedenen Arten von Konjunkturpaketen. Im Grossen und Ganzen unterscheidet die Studie zwischen zwei Arten von Massnahmen; erstens Hilfsmassnahmen („Erste Hilfe“), die der Wirtschaft unmittelbare Unterstützung bieten, wie direkte Bereitstellung von Grundbedürfnissen, gezielte Geldtransfers und nicht an Bedingungen geknüpfte Rettungsaktionen, wie für Fluggesellschaften, oder Steuerstundungen. Zweitens gibt es konjunkturfördernde Massnahmen, bei denen es sich um längerfristige Strategien mit einem Multiplikator für die Wirtschaft handelt.

Die guten („grünen“), die schlechten („farblosen“) und die hässlichen („braunen“) Massnahmen

In der Studie wurden die Auswirkungen dieser Politiken auf ihren Einfluss auf den Klimawandel kartiert, und es wird geschätzt, dass nur 4 Prozent der Politiken wirklich „grün“ sind, das heisst das Potenzial haben, die langfristigen Treibhausgasemissionen zu reduzieren. 92 Prozent sind „farblos“ und erhalten im Grunde nur den Status quo.

Erwünschte und nicht so erwünschte langfristige Auswirkungen auf das Klima und die Wirtschaft

Da die meisten Hilfspakete erst jetzt in Kraft treten werden, wäre es interessant, die höchsten positiven Umweltauswirkungen zu ermitteln. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass „in der Zielgruppe die wünschenswertesten Massnahmen zur Wiederherstellung ... Investitionen in das Gesundheitswesen, Katastrophenvorsorge, Ausgaben für saubere Forschung und Entwicklung, nicht für Profit-Rettungsaktionen und Investitionen in die Infrastruktur für saubere Energie waren“. Insgesamt war die Meinung über das Klimaauswirkungspotenzial der Politik in allen Gruppen am wenigsten umstritten, während die Geschwindigkeit der Umsetzung am umstrittensten war. Bedeutung: Es ist relativ einfach, einen positiven Nutzen für das Klima zu erkennen, aber in Ermangelung eines kurzfristigen Nutzens könnten die politischen Entscheidungsträger ihn nicht umsetzen. Etwas zu tun, das einen kurzfristigen wirtschaftlichen Nutzen hat, könnte die Finanzierung guter, langfristiger Projekte für das Klima sogar gefährden.

Dinge wie Steuererleichterungen für die Industrie für fossile Brennstoffe oder nicht-kontingentierte Rettungspakete für Fluggesellschaften helfen dem Klima offensichtlich nicht. Wenn die Dinge wieder in Gang kommen, wird die Wirtschaft einfach wieder in alte Bahnen zurückkehren und die Emissionen werden wieder steigen. Was wäre also die beste Mischung aus positivem Klima und Covid-19-Rettungsprogrammen? Hier sind meine persönlichen Top 2, die auch kurz- und langfristige Möglichkeiten für die Wirtschaft schaffen und dem Klima helfen würden.

1) Anreize für den Kauf von Elektrofahrzeugen

Ich denke ernsthaft darüber nach, ein neues Auto zu kaufen oder den Leasingvertrag für mein jetziges Auto (vier Jahre alt, 60'000 Kilometer) zu verlängern. Ich bin sehr überzeugt, dass ich entweder voll elektrisch oder zumindest mit Plug-in-Hybridantrieb fahren werde. Der wichtigere Faktor: Meine Frau :-). Ein Kaufanreiz für ein Elektroauto könnte deshalb für uns eine zeitgemässe Massnahme sein, um die richtigen Kaufentscheidungen zu treffen. Angesichts des Einbruchs der Ölpreise sieht der Kauf von normalen Benzinern im Moment wirtschaftlich gesehen viel günstiger aus. Aber raten Sie mal, was meine Garage sagt: Anscheinend sind bis auf Weiteres alle Superb-Plug-ins erst ab 2021 wieder verfügbar. Anscheinend verwendet der Hersteller seinen Kohlenstoffausgleich zuerst in der EU, bevor er Autos in Nicht-EU-Länder liefert.

Ein Anreiz für Elektrofahrzeuge könnte trotzdem dazu beitragen, eine schnellere Akzeptanz von Menschen wie mir zu erreichen, die ernsthaft auf der Suche nach einem Elektroauto sind.

2) Nachrüstung zur Energieeffizienz – Erweiterung der laufenden und neuen Programme

Ich lebe in einer Wohnbaugenossenschaft. Im vergangenen Jahr haben wir eine brandneue geothermische Anlage installiert, die das ganze Jahr über saubere und kostengünstige Heizenergie für die gesamte Nachbarschaft liefert. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass solche Energieeffizienzprogramme „die naheliegendste Option für eine schaufelfertige, lokale grüne Investition sind“. Die Auswirkungen wären langfristig und auch aus klimatischer Sicht signifikant. Was würde unsere Regierungen davon abhalten, die derzeitigen Anreizprogramme in Energieeffizienz jetzt deutlich zu verstärken? Sie helfen der lokalen Wirtschaft, schaffen Arbeitsplätze und ermöglichen einen sinnvollen Übergang in eine nachhaltigere Zukunft.

Was tun wir im Hinblick auf langfristige Klimaschutzmassnahmen für einige der am stärksten betroffenen Sektoren? Das Argument, weiter gutes Geld nach schlechtem für „gestrandete Vermögenswerte“ auszugeben.

Einige der am stärksten von Covid-19 betroffenen Schweizer Sektoren wie der Alpentourismus oder Wintersportanlagen werden gerettet, um verlorene Einnahmen auszugleichen. Aber langfristig ist klar, dass die globale Erwärmung einen bedeutenden Einfluss auf den Alpentourismus haben wird. Werden wir in 20 Jahren in weniger als 3000 m Höhe Ski fahren können? Es wird eine Menge „gestrandeter Vermögenswerte“ von Skiliften und Wintersportinfrastrukturen geben. Wie werden wir dem Sektor helfen, ohne gutes Geld nach schlechtem zu investieren?

Roman Gaus ist Nachhaltigkeits-Unternehmer in unterschiedlichen Sektoren und berät Investoren und Start-ups im Bereich Wachstum und Strategie. Er lebt verheiratet in Zürich und hat zwei Jungs, die sich ebenfalls für ein Elektroauto entschliessen würden.

Der Text ist zuerst auf LinkedIn erschienen.

In Gärtnerdörfern liegt die Siedlungszukunft

Ralf Otterpohl
01.07.2020

Wohlstand für alle ist möglich. Das ist die These des Siedlungswissenschaftlers Ralf Otterpohl. Doch dies sei nur machbar, wenn viele Menschen eine Art neuer Dörfer aufbauten und bereit seien, ihre komplette Lebensweise zu ändern. 


Nach über 15 Jahren Forschung zu ländlicher Entwicklung und Projekten in vielen Teilen der Welt kann ich inzwischen sagen, dass alles für ein Leben in Wohlstand für alle da ist. Es braucht aber sehr viele Menschen, die an besonders lebenswerten Welten aktiv mitwirken. Die Stadt allein hat keine Zukunft!

Ein zukunftstauglicher Bauernhof besteht aus vielleicht hundert Minifarmen, so setzt sich das sogenannte Neue Dorf zusammen. Selbständige Teilzeit-Gärtner produzieren in eigenen Gärten mit interessanter Nachbarschaft hochwertige Lebensmittel und bauen Humus auf. Sie haben vielfältigen Tätigkeiten, ein gutes Auskommen – sie sind unabhängig und selbstbestimmt. Es gibt wesentliche Zusammenhänge von gesundem Boden, Grundwasserneubildung, Gesundheit, Gehirnfunktion, Glück und lokalem Klima.

Humus, lebendiger Boden, ist unsere Lebensgrundlage. Der Erhalt und Wiederaufbau von lebendigem Boden erfordert Millionen von Menschen. Humusaufbau sorgt für hohe Produktivität, sichert die Wasser- und Lebensmittelversorgung und ein ausgeglichenes Klima. Das Klima hängt weitgehend vom Humus und der Pflanzendecke ab. Die vielfältigen Kleinbetriebe der Neuen Dörfer versorgen mit professionellem Vertrieb auch die Stadt mit Versorgungssicherheit und vermeiden weite Transportwege. Mit bio-intensiven in hoher Pflanzenvielfalt betriebenen Gartenbaubetrieben kann wunderbare Natur und ein Auskommen erreicht werden. Damit es kein Hamsterrad wird, empfehle ich zwei bis drei unterschiedliche Tätigkeiten, Gartenbau in Teilzeit.

Viele Menschen können neben der eigenen Minifarm einen Anteil an einem Weiterverarbeitungsbetrieb, der Herstellung von Haushaltschemikalien, einer Tischlerei oder an einem Betrieb für Elektrogeräte- und Fahrzeugen haben. Wenn es mindestens 150 BewohnerInnen gibt, ist auch Bedarf für Lehr-, Heilberufe, Vertrieb, Transport und viele weitere Dienstleistungen. Kultur wird aktiv betrieben, die Bühne ist zugänglich. Kinder wachsen in und mit der Natur auf. Für Ältere gibt es bei Bedarf häusliche Pflege von Fachkräften aus der Nachbarschaft, die diese oft schwere Arbeit durch Teilzeit und persönlichen Bezug auch besser mit Freude verrichten können.

Ralf Otterpohl ist Professor an der Technischen Universität Hamburg und leitet dort das Institut für Abwasserwirtschaft und Gewässerschutz sowie die Arbeitsgruppe „Ländliche Entwicklung“. Durch die Forschung zu Terra Preta Sanitation konnten Wege zur effizienten Humusproduktion aufgezeigt werden. Seit etwa zwanzig Jahren lehrt er für Studierende aus aller Welt Ländliche Entwicklung.

Vortragsreise zum Buch:

Ralf Otterpohl: Das Neue Dorf – Vielfalt leben, lokal produzieren, mit Natur und Nachbarn kooperieren (oekom verlag), Vortragsreise in der Schweiz 7. bis 17. August 2020 Termine in Gartenring.org.

Städte im Klimawandel brauchen Grünflächen

Katharina Conradin
29.06.2020

Immer neue Klimaanalysen machen deutlich, was der gesunde Menschenverstand längst weiss: Städte brauchen Bäume, Gewässer und unversiegelte Flächen. Politiker und Behörden sollten endlich handeln, schreibt Katharina Conradin.


Der Klimawandel ist Realität – und ebenso die Tatsache, dass es deshalb in den meisten Städten im Sommer immer heisser wird. Sommerliche Hitzewellen mit Temperaturen von fast 40 Grad Celsius sind zur Regelmässigkeit geworden.

Die meisten Städte sind mittlerweile in Bezug auf die Anpassung an den Klimawandel aktiv geworden. Eine Strategie, die dabei heraussticht, ist die Erstellung einer Klimaanalyse. Mittels hochaufgelöster Messungen werden aktuelle „Hotspots“ abgebildet, Kaltluftströme visualisiert und berechnet, wo es in Zukunft noch wärmer werden wird.

Behörden benutzen diese Klimaanalysen als Handlungslegitimation, denn sie stellen – für alle sichtbar – dar, was wir längst wissen: Es ist heiss in den Städten. Die Hitze staut sich in den dicht bebauten, versiegelten Flächen im Zentrum. Der Luftaustausch ist beschränkt, wo dichte Bauten ihn abriegeln. Gewässer kühlen tagsüber und wirken in der Nacht temperaturregulierend.

Je länger man also über diese Analysen nachdenkt, desto offenkundiger wird: Die zusätzlichen Erkenntnisse durch diese aufwändigen „Rechenspiele“ sind marginal. Wer selbst einmal an einem heissen Sommertag über den neu gestalteten Sechseläutenplatz läuft, braucht kein Messgerät, um festzustellen, dass es dort unerträglich heiss ist. Wer schon einmal einen Abendspaziergang entlang des Seebeckens gemacht hat, weiss um die erfrischende Wirkung des Windes, der vom See her weht.

Auch die Massnahmen liegen auf der Hand: Kühl(er) ist es, wo beschattet wird, wo es grün ist wird, wo für genügend Luftaustausch gesorgt wird und wo versiegelte Oberflächen aufgebrochen werden.

Die Zeit drängt. So sehr, dass wir sie nicht mit noch weiteren Analysen und Recherchen vergeuden sollten. Und so sind diese Klimaanalysen eine Krux – und vielleicht doch ein Lösungsbeitrag: Sie sind die Krux, weil wir, um endlich aktiv zu werden, schon längst keine zusätzlichen Daten mehr brauchen. Und sie sind vielleicht doch Teil der Lösung, weil sie, den Parlamenten, StadtplanerInnen und Behörden in nicht zu übertreffender Deutlichkeit aufzeigen: Handelt! Jetzt!

Katharina Conradin ist promovierte Geographin, Beraterin bei der seecon gmbh und seit 2014 Präsidentin der internationalen Alpenschutzkommission CIPRA.

Als lebendiger Verein lässt sich die Krise meistern

Rolf Arni
26.06.2020

In Berns ältestem Musikclub, der Mahogany Hall, ist es seit März still – und das wird es noch einige Wochen bleiben. Dabei gibt es laut dessen Finanzverantwortlichem Rolf Arni einen Vorteil: Durch die Organisation als Verein kann die Mahogany Hall auf grosse Solidarität bauen.


In der Mahogany Hall – Berns ältestem Musikclub beim Bärenpark – wurden die Corona-Auswirkungen bereits Ende Februar spürbar, als ein Veranstalter von Tanzabenden kein Risiko eingehen wollte und alle kommenden Anlässe absagte. An der Fasnacht führten wir noch gut besuchte Konzerte durch, bei welchen wir die Personalien der Gäste erhoben und nach kürzlichen Aufenthalten in heiklen Ländern fragten. So musste eine Besucherin zurückgewiesen werden, die sich noch Tags zuvor in Italien aufhielt – ihre Tochter sogar in Mailand, allerdings negativ getestet. Nach weiteren Konzerten mit deutlich reduzierten Gästezahlen schlossen wir dann wie alle anderen Clubs am 13. März das Lokal – zwei Stunden vor Eintreffen der Band zum Soundcheck zu ihrer CD-Taufe.

Im April und Mai waren wir damit beschäftigt, für unsere auslaufenden Vorräte Abnehmer zu finden und uns auf eine Wiedereröffnung im Juni vorzubereiten. Zudem traf sich ein Teil der cirka hundert HelferInnen via Zoom zu einem Brainstorming, aus welchem allgemeine, neue Ideen für den Betrieb resultierten. Für Juni sagten dann viele der vorgesehenen Acts ab – sie befürchteten das Ausbleiben ihrer Fans wegen der angedrohten Quarantäne, sollte sich ein Corona-Fall nach dem Konzert unter den Gästen ergeben. So bleibt das Lokal mindestens bis Ende Juli, voraussichtlich sogar bis Ende August geschlossen.

Wie haben wir das verkraftet? Die Mahogany Hall hat als Verein das Glück, auf viele freiwillige HelferInnen zählen zu können und hat in der Liegenschaftsverwaltung Bern eine verständnisvolle Vermieterin. Zudem erhielten wir einen Zustupf des Kantons, so dass wir zuversichtlich nach vorne schauen können. In der Sommerpause hoffen wir noch auf einige Mieter, die das Lokal dieses Jahr zu günstigeren Konditionen für Privat- und Firmenfeiern mieten werden.

Die kommende Zeit werden wir nutzen, um die Mahogany bezüglich Infrastruktur und Schutzmassnahmen auf Vordermann zu bringen, hoffen dabei, dass der Hunger auf Live-Konzerte bei den Gästen auf September hin spürbar wird und sie gewillt sind, KünstlerInnen und VeranstalterInnen mit ihren Besuchen zu unterstützen.

Alle Infos und Konzerte findet man auf www.mahogany.ch.

Rolf Arniist unter anderem Co-Gründer des Impact Hubs in Bern und Finanzverantwortlicher der Mahogany Hall. Sein Interesse gilt der Automatisierung, Remote Work, Business Creation sowie Fotografie und Musik.

Warum Konformisten und Disruptoren sich brauchen

Fabian Feutlinske
25.06.2020

Wir können von der Natur lernen, der Menge zu folgen und den eigenen Weg zu gehen. Dabei geht es laut dem Neurowissenschaftler und Unternehmer Fabian Feutlinske um ein cleveres Geben und Nehmen in einem sozialen Gefüge. Die Stichlinge machen es vor.


Eine Studie mit Stichlingen in Nature Communications hat gezeigt, wie der Kompromiss zwischen dem Ausbrechen aus dem Schwarm und dem Nutzen von Konformität funktionieren kann.

Individuen haben unterschiedliche Motivationen und Ziele. Sie müssen mit denjenigen aller anderen Individuen in Einklang gebracht werden, um die Vorteile zu schaffen, die ein Schwarm bietet: Schutz, Effektivität, das Teilen von Information. Konformität, also das Befolgen von Regeln, sichert das Überleben. Die Disruption, also das Brechen dieser Regeln, erlaubt es dem Einzelnen, den Erfolg für sich in Anspruch zu nehmen. Das gilt für Stichlinge ebenso wie den Homo oeconomicus.

Fische, oder eben Personen, die bisherige Konformität durchbrechen, eröffnen neue Horizonte auf Nahrungsquellen, neue Märkte oder Trends. Ein Schwarm, der ständig in eine Richtung schwimmt, egal wie schnell und effizient, verpasst neue Nahrungsquellen oder endet im Maul eines Räubers. Auf der anderen Seite ist ein Stichling, ebenso wie auch ein Experte, der die Regeln biegt und bricht, um zu experimentieren, viel anfälliger dafür, auf die gleiche Weise in den Tiefen des wirtschaftlichen Sees zu verschwinden.

Interessanterweise war der Fisch, der eine Nahrungsquelle in den Experimenten zuerst entdeckte, nicht unbedingt derjenige, der sie auch zu fressen bekam. Die Gruppe erreichte die Nahrungsquelle früher. In Organisationen oder anderen sozialen Gruppen brauchen wir also die Innovatoren, um neue Wege zu gehen. Aber wir werden sie unterstützen müssen, um nicht aus Mangel an Ressourcen oder Wertschätzung zu verhungern.

Kooperation und Eingliederung in ein System ist alles. Und innerhalb dieses Systems erfolgt ein ständiger Tanz zwischen Disruption und Konformität. Wir arbeiten daran, einen solchen Expertenschwarm aufzubauen. Wenn Sie mehr erfahren möchten, lesen Sie doch den ganzen Artikel auf https://medium.com/@cobiom/the-balance-of-conformity-and-disruption-48661dc8b141.

Dr. Fabian Feutlinske ist ein Serial Entrepreneur, Systemiker, Neurobiologe und Berater. Er beschäftigt sich mit dem Thema was Menschen zusammenarbeiten lässt, um höhere Ziele zu erreichen. Dafür baut er mit seinem Start-up COBIOM eine Plattform, auf der ein Expertenschwarm Nachhaltigkeitsprobleme in Unternehmen und im sozialen Bereich löst - und dabei von Kooperation statt Konkurrenz profitiert.

Dieser Text ist zuerst und in ungekürzter Form auf LinkedIn erschienen.

Wie viel gibt 10’000 mal zwei Meter Abstand?

Denis Jeitziner
24.06.2020

Über 50 Momentaufnahmen in knapp drei Monaten: Die Macher von 2m-abstand.ch haben in kürzester Zeit Porträts von ganz verschiedenen Persönlichkeiten publiziert. Laut Mitinitiator Denis Jeitziner ist das Ziel, ein Zeitdokument zu erstellen – letztlich auch in Buchform.


Innert einer Woche war alles bereit. Die Website 2m-abstand.ch, eine Liste mit weit über hundert möglichen Protagonisten, die fünf Social-Media-Kanäle, die bespielt wurden und natürlich die Macher mit spitzer Feder und dem Auge für das gewisse Etwas.

Seither haben sich bekannte, aber auch weniger bekannte Persönlichkeiten zu 2m-abstand.ch bekannt. Beispielsweise NHL-Star Roman Josiaus seiner zweiten Heimat Nashville. Die Berner Spitex-Betreuerin Amina Tahar-chaouch oder Radiomoderator Adi Küpfe. Aber auch Globetrotter-CEO André Lüthi, die Apothekerin Eva Maria Franz, die Skirennfahrerin Michelle Gisin und SRF-USA-Korrespondent Peter Düggeli– live aus Washington DC. Dokumentiert wurde ein bunter Strauss von Geschichten aus aller Welt. Schicksale, eindrückliche Erlebnisse, Erfahrungen, Frust, Chancen und Freuden.

Und die Geschichte ist noch nicht fertig geschrieben, die Corona-Krise noch nicht ausgestanden: Bereits über 10’000 Leute haben die Website 2m-abstand.ch bisher angeklickt, Tausende haben die Posts auf den fünf verschiedenen Social Media-Plattformen registriert, sie geliked und geteilt.

2m-abstand.ch ist ein nicht kommerzielles Projekt mit dem Ziel, ein wertvolles Zeitdokument zu erstellen, das diese historischen Momente festhält – am Ende ist geplant, alle Geschichten in Form eines Buchs zu publizieren. Hinter 2m-abstand.ch stehen Fotograf Remo Neuhaus, Texter Denis Jeitziner, Grafiker Samuel Dunkel, Videograph Christian Aebi sowie Social Media Experte Luca David.

Denis Jeitzinerist seit fast 30 jahren als Journalist sowie Texter und Konzepter im Einsatz. Als Autor hat er zehn Bücher geschrieben – unter anderem zahlreiche Porträtbücher, einen Krimi oder ein Buch über das Wallis – wo auch seine Wurzeln liegen. Denis Jeitziner ist Inhaber von Amber Kommunikation AG und lebt und arbeitet in Bern.

„Mañana“ – ein Plädoyer für das Aufschieben!

Christoph Hunziker
23.06.2020

In der Corona-Zeit haben wir erledigt, was lange liegen geblieben war. Doch Innovationsexperte Christoph Hunziker von der Mobiliar kann dem Aufschieben viel Positives abgewinnen. Grosse, radikale Ideen könnten hieraus entstehen.


Der Lockdown wurde von vielen genutzt, um lang Aufgeschobenes zu erledigen. Den Keller endlich wieder mal räumen. Die digitale Fotosammlung ordnen. Das Buch, welches schon so lange ungelesen auf dem Nachttisch lag, endlich lesen. Das Aufschieben dieser Aktivitäten darf man wohl getrost als weit verbreitetes Mainstream-Aufschieben bezeichnen. Dem gegenüber steht das negativ konnotierte Aufschieben alltäglicher Dinge, sei es beruflich oder privat.

Der Aufschieber: In unseren Breitengraden gemeinhin von der Gesellschaft geächtet als faul, unzuverlässig und ohne den nötigen Antrieb. In anderen Weltregionen, namentlich in Lateinamerika, ist das Aufschieben schon fast Teil der Kultur und Identität. „Mañana“, also morgen, ist der Tag, an dem die meisten Dinge erledigt werden.

Unsere traditionell negative Sicht auf das Aufschieben vernachlässigt einen wichtigen Punkt: Während das notorische Aufschieben vieler Dinge aus Mangel an Fokus, Antrieb oder auch Kenntnissen erfolgt und zu einer reduzierten Produktivität führen mag, gibt es auch Aufgaben, die durch Aufschieben veredelt werden. Diverse Studien belegen nämlich, dass Aufschieben ein echter Kreativitätsbooster sein kann!

Das macht Sinn: Einerseits gewinnt man in der Zeit des Aufschiebens neue Inspirationen und Erkenntnisse. Anderseits lässt man beim Aufschieben von Dingen gerne auch mal die Gedanken abschweifen und dieses Tagträumen ist erwiesenermassen eine weitere Quelle von oft grosser Kreativität. Während das Hirn beim bewussten, fokussierten Denken auf bekannte Denkmuster und bestehendes Wissen zurückgreift, entstehen beim diffusen Denken für das Hirn unbekannte Denkmuster durch neue Verbindungen von Nervenzellen, die über neue Pfade verlaufen. Das Resultat daraus können grosse, radikale Ideen sein.

Gerade Wissensarbeiter sind oft mit konzeptionellen Tätigkeiten beschäftigt. Nehmen wir zum Beispiel das Schreiben eines Textes oder das Erstellen einer Präsentation, was oft eine längere Zeit in Anspruch nehmen kann. Dabei neigt man instinktiv dazu, einen Arbeitsabschnitt möglichst mit einem Teilergebnis zu beenden. Versuchen Sie mal, entgegen diesem Instinkt, bewusst einen Text mitten in einem Satz oder eine Visualisierung halb fertig stehen zu lassen. Bei unfertigen Dingen arbeitet das Hirn unbewusst daran weiter und die Idee wird herumgewälzt, auf der Suche nach neuen, kreativen Ansätzen.

Gerade für Leute, die Dinge gerne sofort anpacken, kann es ein „eye-opener“ und eine kreative Offenbarung sein, eine Aufgabe einfach mal unfer

Dieser Beitrag ist u.a. inspiriert durch folgende Artikel in der NYT und auf Canva.

Christoph Hunziker ist Leiter Innovation bei der Mobiliar. Er beschäftigt sich seit fast 20 Jahren leidenschaftlich mit Innovationsmanagement und kreativen Prozessen. Trotz verhinderter Journalistenkarriere hat er die Freude am Schreiben beibehalten.

Unternehmen werden daran gemessen, ob sie Verantwortung übernehmen

Sylvie Merlo
22.06.2020

Mehr als ein Geschäftsmodell: Konzepte, mit deren Hilfe Unternehmen Verantwortung übernehmen. Doch dafür müssten diese über das Kerngeschäft der Profitorientierung hinaus gehen, sagt Kommunikationsspezialistin und -beraterin Sylvie Merlo.


Nicht nur Individuen, sondern auch Kooperationen und Kollektive können als verantwortungsfähige Akteure zur Rechenschaft gezogen werden. Denn in der Regel basieren deren Handlungen auf geteilten Zielen und koordinierten Abläufen. Ausserdem geht einer Gruppenverantwortung immer eine individuelle Verantwortung der einzelnen Gruppenmitglieder voraus. Sobald aber die individuelle Verantwortung auf die Gruppe übergeht, wird die Gruppe als Ganzes verantwortlich und nicht mehr das Individuum. Aus diesen Gründen können Unternehmen als Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft sehr wohl im Sinne eines Individuums, beziehungsweise einer Kooperation, für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden (vgl. Neuhäuser).

Unter Unternehmensverantwortung oder Corporate Social Responsibility verstehe ich die Verantwortung, die ein Unternehmen gegenüber allen relevanten Stakeholdern, das heisst innerhalb und ausserhalb des Unternehmens, wahrnimmt. Und dies in sozialer, ökonomischer, ökologischer und politischer Hinsicht. Dabei geht es in erster Linie um freiwillige sowie sozial und ökologisch sinnvolle Unternehmensaktivitäten, die über das Kerngeschäft der ökonomischen Profitorientierung hinausgehen und einen Mehrwert für die Gesellschaft bilden.

Unklarheit besteht jedoch hinsichtlich der normativen Massstäblichkeit von CSR-Projekten. Wann ist ein CSR-Projekt ein reiner Business Case oder welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein solches Projekt auch sozialer und ökologischer Unternehmensverantwortung zugerechnet werden kann, ohne Gefahr zu laufen als sogenanntes Green- oder White-Washing enttarnt zu werden?

Wie glaubwürdig und konsequent ist das CSR-Engagement? Ist es strategisch verankert und Teil der Firmenkultur? Leistet das Unternehmen damit einen echten Beitrag für die Gesellschaft und Umwelt? Kann es damit gegenüber ihren Stakeholdern Vertrauenskapital bilden und Erfolg haben?

Mit diesen Fragen versuche ich jeweils in Erfahrung zu bringen, ob die CSR-Strategie einer Firma glaubwürdig ist und im Sinne der Modelle „Creating Shared Value“ und „From Profit to Purpose“ verantwortungsvoll handelt. Zeichnet sich eine Organisation zudem durch eine vorbildliche moralische Haltung im Sinne der Tugendethik oder „Corporate Virtue“ aus (vgl. Porter und Kramer), dann steigt mein Vertrauen. Ausserdem ist es wahrscheinlicher, dass ich dieses Unternehmen weiterempfehle oder von ihm etwas beziehe.

Es lohnt sich also für Unternehmen, Verantwortung gegenüber ihren Stakeholdern zu übernehmen und mittels Kompetenz und Ethik die immateriellen Vermögenswerte zu steigern.

Sylvie Merlo berät und begleitet als Kommunikationsspezialistin und Sparringspartnerin Unternehmen und Organisationen, die sich mit innovativen Lösungen für eine enkeltaugliche Welt engagieren. Als Mitbegründerin von Swiss Business + Disability Networkengagiert sie sich für eine gerechtere Arbeitswelt mit mehr Diversität und Teilhabe – auch für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen.

Quellen:

Neuhäuser, Christian. 2016.Unternehmensverantwortung. Handbuch Verantwortung. Springer Reference.

Porter, M.E., und M.R. Kramer. 2011.Creating Shared Value. Harvard Business Review89(1/2): 62-77. Zit. n. Shanahan, Ford und Peter Seele. 2017.Creating Shared Value. Looking at Shared Value Through an Aristotelian Lens. Creating Shared Value – Concepts, Experience, Criticism:S. 141.

Ablasshandel rettet das Klima nicht

Hans-Peter Schmidt
18.06.2020

Es gibt eine günstige, global realisierbare Methode, CO2 aus der Luft zu binden und dauerhaft in Materialien und im Boden zu speichern, schreibt Hans-Peter Schmidt. Doch statt die Pyrolyse von nachhaltig erzeugter Biomassen zu fördern, subventionieren die Staaten fossile Treibstoffe und klimaschädliche Landwirtschaft. 


1517 hat Martin Luther 95 Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlicht und damit der päpstlichen Kirche ein sagenhaftes Geschäft verdorben. 2020 produziert der durchschnittliche Europäer 10 Tonnen eines Gases, welches das Klima auf Erden über zehntausende Jahre verändern wird. Um der Industrie, der Landwirtschaft und dem Konsum nicht die Laune durch Schuldgefühle zu verderben, gibt es wieder einen Ablasshandel. Um weiter grossspurig Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen, spendiert man hungerleidenden Afrikanern billige Blechkocher, die deren Emissionen beim Kochen am offenen Feuer um fast die Hälfte reduzieren. Oder sie bezahlen mit jedem Klick auf eine Suchmaschine das Pflanzen des 80. Teils eines Baumes. Natürlich, solcher guter Wille und Geld helfen, aber wir können das Klima nicht mit Tropfen auf heisse Steine retten.

Ohne die Anlage von veritablen Kohlenstoffsenken, die dauerhaft Kohlenstoff speichern, der aktiv aus der Atmosphäre entzogen worden ist, lässt sich das Klima und damit die Menschheit nicht retten.

Eine der wichtigsten Technologien auf diesem Weg in die klimaneutrale Zukunft ist die Pyrolyse von Biomassen, die in Ergänzung zur Nahrungsmittelproduktion mit hoher Biodiversität CO2 aus der Atmosphäre entzieht. Doch obwohl die Regierungen keine Skrupel kennen, den Klimawandel mit direkten und indirekten Subventionen für fossile Brennstoffe, intensive Tierhaltung und konventionelle Landwirtschaft zu fördern, finden sie mit fadenscheinigen Argumenten, dass die einzige schnell umsetzbare Technologie, die zudem frei von schädlichen Nebenwirkungen ist, dem Volk, dem Boden und dem Klima keinen Nutzen bringen könne.

Wir können uns nicht freikaufen von unserem Lebensstil und unserem Erbe. Es gibt keinen Zinseszins auf die Schuld, die wir unbewusst auf uns geladen haben. Aber wir können den Mut fassen, vorurteilsfrei das Neue zu durchdenken, das das Genie des Menschen uns zur Rettung in die Hand und auf die Zunge legt.

Hans-Peter Schmidt ist Gründer und CEO des Ithaka-Instituts in Arbaz VS. Er ist einer der Pioniere der Nutzung von Pflanzenkohle für die Eindämmung des Klimawandels.

Warum die nachhaltige Fischerei ein nationales Zentrum braucht

Adrian Aeschlimann
17.06.2020

Fischen boomt – gerade in Corona-Zeiten. Dabei ist vieles, was unter Wasser abläuft, einem grösseren Publikum nicht bekannt. Ein Schweizer Fischzentrum soll das ändern, sagt Adrian Aeschlimann, Geschäftsführer des Schweizerischen Kompetenzzentrums Fischerei SKF.


Nachdem der Bundesrat Mitte März das Leben in der Schweiz heruntergefahren hatte, entdeckten viele Fischerinnen und Fischer ihr Hobby wieder, fanden aber ihren Ausweis nicht mehr. Somit mussten sie beim Netzwerk Anglerausbildung einen Ersatz bestellen, und bei uns liefen die Drähte heiss. Zudem werden die nun wieder angelaufenen Kurse zur Erlangung eines „Sachkundenachweises Fischerei“ von Neufischern schier überrannt.

Wer möchte es ihnen verdenken? Fischen ist ein faszinierendes Hobby. Das Naturerlebnis ist garantiert, und es gibt kaum Besseres, um den Kopf zu lüften. Und in Zeiten der Abwehr ansteckender Viren lässt sich nirgendwo besser Abstand halten. Wer dann schliesslich auch einen schönen Fisch an der Angel hat und ihn nach den geltenden Tierschutzregeln behändigen kann, wird voller Zufriedenheit nach Hause kehren.

So viel zur Sonnenseite. In der Realität kehren die Fischerinnen und Fischer oft unverrichteter Dinge dem Gewässer den Rücken. Vor allem die sauerstoff- und kälteliebenden Arten wie Bachforelle oder Äsche leiden unter den steigenden Temperaturen in Folge des Klimawandels. Wasserkraftwerke versperren den Fischen den Weg, Pestizide und Mikroverunreinigungen belasten das Wasser, und mit dem Insektenschwund verringert sich auch das Nahrungsangebot.

Die rund 30'000 in den Vereinen und Verbänden organisierten Fischerinnen und Fischer bemühen sich seit Jahrzehnten um eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fischbestände. Sie pflegen mit viel Freiwilligenarbeit den Lebensraum der Fische, arbeiten eng mit den Behörden zusammen und setzen sich politisch für Verbesserungen ein. Als „Dividende“ für diese Pflege des Kapitals entnehmen sie den Gewässern nach strengen, staatlich vorgegebenen Regeln eine gewisse Anzahl Fische.

Fischen boomt und doch ist vieles, was unter Wasser abläuft, einem grösseren Publikum nicht bekannt. Auch die Leistungen der Fischerinnen und Fischer werden oft verkannt. Für uns ist darum klar: Gewässer und Fische benötigen mehr Schutz und die Fischerei mehr Sichtbarkeit. Zu diesem Zweck planen die organisierten Fischerinnen und Fischer am Moossee bei Bern ein nationales Zentrum für natürliche Gewässer, Fische und respektvolle Fischerei, kurz „Schweizer Fischzentrum“. Thematisiert wird das Fischen als Kulturtechnik, seine Geschichte und seine Zukunftsaussichten. Ein spezielles Augenmerk wird auf eine tierschutzgerechte und respektvolle Fischerei gelegt. In wechselnden Ausstellungen, Rundgängen, Lehrpfaden, Kursen und Schulungen lernen die Besucherinnen und Besucher die Schweizer Fischarten und ihre Lebensräume kennen und werden für die anstehenden Herausforderungen sensibilisiert. Auch Kochkurse sollen angeboten werden.

Primär soll das Zentrum ermöglicht und getragen werden von den Fischerinnen und Fischern in der Schweiz. Aber: Je breiter die Unterstützung desto besser. Helfen auch Sie mit, dem Zentrum zum Durchbruch zu verhelfen und den Gewässern, den Fischen und dem schönsten Hobby der Welt eine Zukunft zu sichern. Finanzielle und sonstige Unterstützung von allen Seiten ist hochwillkommen.

Weitere Informationen:

https://www.skf-cscp.ch/das-fischzentrum/ oder bei Adrian Aeschlimann, 031 330 28 07 / a.aeschlimann@skf-cscp.ch

Adrian Aeschlimann ist seit 2018 Geschäftsführer des Schweizerischen Kompetenzzentrums Fischerei SKF, welches unter anderem die Geschäftsstelle des Netzwerks Anglerausbildung betreibt. Zudem leitet er das Projekt zum Aufbau des „Schweizer Fischzentrums“. Vorher arbeitete er als Journalist und während 15 Jahren in unterschiedlichen Positionen beim Bundesamt für Umwelt BAFU, zuletzt als Projektleiter „Dialog Grüne Wirtschaft“. Zuweilen ist er auch mit einer Fischerrute an einem Gewässer anzutreffen.

Das liebe Geld

Christian Häuselmann
12.06.2020

Geld wurde vor tausenden Jahren als Tauschmittel erfunden. Jetzt verliert das liebe Geld seinen Sinn und Wert, auch als Erfolgsmassstab. Und zwar ziemlich rassig. Unternehmer Christian Häuselmann fragt sich, welche neuen Währungen diese Funktionen künftig übernehmen könnten.


Politik und Notenbanken, bisher aus gutem Grund strikte getrennt, spannen zusammen. Massiv orchestrierte Gelddruck-Programme sollen drohende Wirtschaftskrisen abwenden. Wir brauchen Geld, also drucken wir Geld. Rein ökonomisch ist dies natürlich etwas komplizierter, aber das ist der Mechanismus. Wer Gold braucht, druckt sich Gold. Wer ein Pferd braucht, druckt sich aus dem Nichts ein Pferd. Das heisst: Geld wird wertlos. Auch die unternehmerische Leistung, mit echter Arbeit und Innovationskraft echtes Geld zu verdienen, wird abgewertet.

In einem ersten Schub wurden auf Mitte April 2020 weltweit über 8'000 Milliarden an Geld gedruckt. Das sind immerhin 8 Millionen Millionen. Seither überschiessen sich die Gelddruck-Programme richtiggehend, per Ende Mai 2020 ist keine verlässliche Gesamtzahl mehr zu finden. 750 Milliarden hier, 1’350 Milliarden da, 3’000 Milliarden dort – die Anzahl der diskutierten Nullen und der angeschlagene Takt sind bemerkenswert. Zahlen aus China sind in diesen Summen nicht enthalten, wie üblich sind keine transparenten Informationen verfügbar. In der Schweiz wurden innert knapp drei Monaten rund 60 Milliarden neue Staatsschulden gemacht. Die Rückzahlung dauert nach ersten Berechnungen 30 Jahre. Ein feines Geschenk an unsere Enkelkinder, mit Liebe eingepackt und überreicht als Gesamtpaket zusammen mit der ungelösten Rentenfinanzierung, den ungedeckten AKW-Rückbaukosten und den Kosten zur Klimawandel-Schadensbegrenzung.

Nebst dem unbeschränkten Gelddrucken erfreuen wir uns seit der Finanzkrise 2008/09 – ausgelöst durch gierig gewordene Menschen im Banken- und Immobiliensektor – einer weiteren intelligenten Geld-Innovation: der Negativzinsen. Negativzinsen heisst: Wer Geld braucht, bekommt es kostenlos und – aus Dankbarkeit, dass es genommen wird – gibt es noch etwas Kleingeld obendrauf. Das ist so praktisch wie absurd. In der ganzen Geschichte der Menschheit hat es einen solchen Mechanismus noch nie gegeben.

Das unbeschränkte Gelddrucken und die surrealen Negativzinsen zeigen sehr reale Wirkungen. Die Börsen schiessen dank den aktuellsten Geldspritzen auf neue Allzeithochs zu. In Amerika sind zwar 40 Millionen Menschen arbeitslos, jede vierte erwerbstätige Person. Das scheint in den Aktienkursen gut eingepreist zu sein. In Deutschland ist Ende Mai sogar Wolfgang Schäuble eingeknickt, einer der glaubwürdigsten Wirtschafts- und Finanzpolitiker in Europa. Er unterstützt jetzt die Bundskanzlerin Angela Merkel im historischen Entscheid, dass sich Deutschland – also die deutschen Bürgerinnen und Bürger – direkt an der EU Schuldenwirtschaft beteiligt. Offen bleibt, ob Schäuble die Vorteile der sogenannten Neuen Ökonomischen Realität mit der unbeschränkten Verschuldung auf den Ebenen Staat, Unternehmen und Privatpersonen erkannt hat, oder ob dies eher als Verzweiflungsakt einzuordnen ist.

Privatpersonen fragen sich, was dies für ihre eigenen Anlagestrategien und die persönliche Vorsorge heisst. Für Unternehmende ist die Botschaft klar: Wer finanzielle Höchst-Risiken eingeht und sich so aufbläht, dass er sich bei den systemrelevanten Organisationen einreihen kann, wird bei einem drohenden Bankrott fast mit Sicherheit vom Staat und damit den Steuerzahlenden gerettet. Weil sonst das ganze Kartenhaus zusammenbricht. Darauf können jetzt die Verwaltungsräte, die Manager und die ganze Finanzindustrie ihre Wetten ausrichten.

Wir alle wissen, dass der Spruch unserer Eltern und Grosseltern nach wie vor stimmt: Gib nur den Franken aus, den Du ehrlich verdient hast. Nicht sehr sexy, aber wahr.

Hier vier Fragen, zum Anstossen einer kreativen Diskussion:

  1. Was soll die neue Währung sein, mit der wir Erfolg messen?
  2. Welche Geldform wird in Zukunft entstehen, die wieder ausschliesslich dem ursprünglichen Zweck als Tausch- und Zahlungsmittel dient?
  3. Wie bewerten wir Sinn, Vertrauen, Integrität und Zufriedenheit?
  4. Und wie trainieren wir die junge Generation, damit sie in Zukunft die harten Entscheide treffen kann, die wir heute einfach nicht zu treffen imstande sind?

Wir bleiben dran.

Christian Häuselmanns Passion als Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur ist das langfristige Handeln von Menschen und Firmen. Unter anderem hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert.

Kommt das dicke Ende erst noch?

Michael Lünstroth
11.06.2020

Viele Kulturschaffende ächzen unter der Corona-Krise. Dass es danach besser wird, ist längst nicht ausgemacht. Denn: Neue Sparprogramme könnten auch die Kultur treffen. Laut Michael Lünstroth, Redaktionsleiter von thurgaukultur.ch, wäre das gefährlich für die Szene.


Wenn es dumm läuft, behält Thomas Ostermeier am Ende recht. Bereits im April hatte der Theaterregisseur und künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne dunkle Wolken an den Himmel vieler Kulturschaffender und Kultureinrichtungen gezeichnet. „So wie man jetzt offenbar in den Krankenhäusern in Italien entscheiden muss, welche Kranken die lebensnotwendige Behandlung erhalten, fragt man sich vielleicht nach der Krise, welche Firmen und Institutionen man braucht und auf welche man verzichten kann", sagte Ostermeier damals der Süddeutschen Zeitung. Ergänzt mit dem angsterfüllten Satz: „Ich weiss nicht, ob die Politik dann alle Kultureinrichtungen retten will.“ Bumm. Das sass.

Tatsächlich reden ja auch in der Schweiz längst einige Politiker darüber, dass nach der Krise alle Ausgaben auf den Prüfstand müssten. Motto: Man müsse sich genau überlegen, was man sich dann noch leisten kann. In der Kultur kennen sie solche Sätze. Und die meisten von ihnen wissen, dass solche Aussagen auch sie irgendwann treffen können. So war es nach der Finanzkrise 2008/2009. So könnte es jetzt wieder kommen. Auch im Thurgau?

Die Abhängigkeit vom Lotteriefonds

Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick auf die Kulturfinanzierung im Kanton. Das Kulturleben im Thurgau wird inzwischen nur noch zur Hälfte mit Mitteln aus dem Staatshaushalt unterhalten. Vor allem die Budgets der kantonalen Museen und jenes der Kantonsbibliothek werden darüber finanziert. Der ganze grosse Rest kulturellen Schaffens wird über den Lotteriefonds ermöglicht. In Zahlen sieht das so aus: Aus dem Kantonshaushalt kommen rund 10,5 Millionen Franken pro Jahr, aus dem Lotteriefonds fast 10,8 Millionen Franken pro Jahr.

Eigentlich ist dieses Verhältnis eher ein Problem. Weil es deutlich macht, wie sehr sich der Staat von seiner Aufgabe der Kulturförderung und Kulturpflege zurückgezogen hat und bei der Finanzierung auf Drittmittel setzt, von denen niemand weiss, wie lange es sie geben wird.

Mit anderen Worten: Das Wohl der Thurgauer Kulturschaffenden ist ziemlich fest an die Spielleidenschaft der Thurgauerinnen und Thurgauer gebunden. Denn: Wie viel Geld ein Kanton aus dem Topf der Swisslos erhält, hängt neben der Bevölkerungszahl auch am Spielumsatz im jeweiligen Kanton. Dass Kulturschaffende so zumindest teilweise von der Spielsucht anderer profitieren, ist eine Perversion dieses Systems. Einerseits.

Andererseits: In der Krise zeigt sich nun, dass diese Art der Kulturfinanzierung viele Kulturschaffende vor allzu grossen Einschnitten bewahren könnte. An den Lotteriefonds-Mitteln ist in den vergangenen Jahren eigentlich nie gerüttelt worden. Im Gegenteil: Der Topf wächst Jahr für Jahr an: Weil immer mehr Geld reinkommt, als ausgegeben wird.

Das Ergebnis: 2019 hatte der Thurgauer Lotteriefonds – laut Geschäftsbericht des Kantons – einen Umfang von 44 Millionen Franken. Auch vor diesem Hintergrund hatte Ueli Fisch von der Grünliberalen Partei vor der Kantonsratswahl im März gefordert, die Kulturförderung auszubauen: „Es steht genügend Geld im Lotteriefonds zur Verfügung. Viele Kulturschaffende wären froh, wenn ihre Arbeit noch etwas mehr unterstützt werden würde. Das Geld im Lotteriefonds zu horten, macht absolut keinen Sinn“, so Fisch damals.

Jubel wäre trotzdem noch verfrüht. Denn: Sollte es trotz allem zu Sparrunden im Haushalt kommen, könnten die kantonalen Museen davon betroffen sein. So war es jedenfalls in den Sparrunden nach der Finanzkrise, die Mittel aus dem Lotteriefonds wurden damals nicht gekürzt. Es ist allerdings fraglich, wo die Museen noch kürzen sollten. Sie sind ohnehin nicht besonders üppig ausgestattet. Weitere Kürzungen würden wohl dauerhaften Schaden an der Museumslandschaft anrichten.

Ein gutes Zeichen: Der Finanzdirektor gibt sich gelassen

Wenn dies nicht als Warnung an allzu eifrige Spar-KommissarInnen reicht, kann man sie übrigens auch jederzeit an Aussagen des inzwischen Ex-Finanzchefs des Kantons, Jakob Stark, erinnern. Anlässlich des Besuchs von Bundesrätin Simonetta Sommaruga am 20. Mai auf dem Arenenberg sagte er, dass die Folgen der Corona-Krise den Kanton nicht lange belasten werden. Eine einjährige Rezession, schon. Aber nicht mehr. Der Thurgauer Staatshaushalt werde dies dank der „zurzeit exzellenten Verfassung“ verkraften können.

Michael Lünstroth(42) ist Redaktionsleiter beim Kulturportal thurgaukultur.ch, freier Autor für verschiedene Medien und Lehrbeauftragter an der Universität Konstanz. Sein letztes Seminar trug den passenden Titel: „Fakten statt Fake News: Wie Journalisten wirklich arbeiten (sollten)“.

Der Text ist zuerst im Kulturportal thurgaukultur.ch erschienen

Corona verhilft neuen Arbeitsmodellen zum Durchbruch

Rolf Arni
10.06.2020

Remote-Work ist auch dank Corona in der Schweiz endlich angekommen, sagt Rolf Arni. Gleichzeitig seien viele es leid, nur per Videokonferenz zu kommunizieren. Der Mitgründer des nun wieder geöffneten Impact Hub Bern sieht das Coworking-Modell nachhaltig im Aufschwung.


Vor ziemlich genau vier Jahren gründeten ein paar umtriebige MacherInnen den Impact Hub in Bern. Es ist ein verbindender Ort, ein Schmelzpunkt, an dem Selbständige, Firmen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, GymnasiastInnen und UnternehmerInnen zusammentreffen. Mit rund 300 Mitgliedern, täglichen Raumbuchungen und monatlich etwa 30 Events mit insgesamt über 500 Teilnehmenden stellt sich dem Impact Hub Bern die Frage, was nach der Corona-Epidemie davon übrig bleiben wird.

Ja, die Möglichkeiten für die rege genutzten Raumbuchungen und Events vor Ort fielen rasch weg. Zum Glück haben wir eine sehr treue Mitgliederbasis – wobei doch spürbar weniger Neueintritte verzeichnet wurden. Dennoch: Unsere Mitglieder halfen uns mit ihrer Loyalität schon mal über die Runden, wofür wir ihnen sehr dankbar sind.

Kurzarbeit wollten wir nicht einreichen, gab es – Corona hin oder her – viel zu tun. Zusammen mit den anderen Impact Hubs in der Schweiz lancierten wir neue Programme, wie etwa den schweizweiten VersusVirus Hackathon mit rund 4’600 Teilnehmern. In Bern haben wir uns schnell für die Verschiebung des Event-Angebots auf online entschieden, jedoch nach ein paar Wochen bald festgestellt, dass die Leute etwas Zoom-gesättigt waren. Den ganzen Tag im neuen Home Office zig Videokonferenzen abhalten und dann abends noch an einen Video-Event? Schwierig.

Die Homeoffice-Phase verhalf uns – und anderen – vermehrt zu Automatisierung und weitreichender Planung. Remote Work ist endlich in den Köpfen der Schweizerinnen und Schweizer angelangt. Als Vorstandsmitglied des Vereins Digitale Nomaden Schweiz sehe ich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse für neue Arbeitsmodelle und Corona gab diesem Bedürfnis mehr Wind.

Unsere Räumlichkeiten waren während der Corona-Zeit für die Members jederzeit offen –unter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften. Genutzt wurde das Angebot von denjenigen, denen das Zuhause auf den Kopf zu fallen begann oder von Firmenangestellten, die eine Split-Regelung oder keinen Platz in ihrem Büro hatten. Stets vor Ort waren auch ein paar unserer treuesten Mitglieder, die trotz strenger Auflagen und reduziertem Hub-Service normal weiterarbeiten wollten und mussten.

Obwohl plötzlich ein grosser Teil unseres Geschäfts weggebrochen war, eröffneten sich gleichzeitig neue Möglichkeiten. Anpassungsfähigkeit und Reaktion auf unsichere Zustände ist schliesslich unser Kernbusiness. Wir leben in einer VUCA-Welt. (Anm.d.Red.: VUCA steht für Volatilität / Volatility, Unsicherheit / Uncertainty, Komplexität / Complexity und Vieldeutigkeit / Ambiguity.)

Jetzt sind wir wieder für die Öffentlichkeit geöffnet. Unser ganzer Space wurde mit den entsprechenden Vorsichtsmassnahmen ausgerüstet und ist somit mehr als ready. Sitzungszimmer sind begehrter denn je, zusätzliche Arbeitsplätze für ihre Mitarbeiter wünscht sich manche Firma. Und nicht zuletzt tut es einfach gut, mal wieder echte Menschen zu sehen, anstatt nur per Video. Das ist es schliesslich, was den Hub ebenso ausmacht.

Rolf Arniist unter anderem Co-Gründer des Impact Hubs in Bern. Sein Interesse gilt der Automatisierung, Remote Work, Business Creation sowie Fotografie und Musik.

Digitale Ausstattung macht noch keinen guten Unterricht

Julia Heier
08.06.2020

Schweizer Schulen sind digital besser ausgestattet als viele andere in Nachbarstaaten. Doch das sei nicht allein ausschlaggebend für guten Fernunterricht, sagt Lehrerin Julia Heier, die sich in Corona-Zeiten wie ein Videochat-Zombie fühlt. Lernen funktioniere über nonverbale Kommunikation und Beziehungen.


Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern lassen sich nicht so einfach auf den 13 Zoll grossen Bildschirm eines Laptops übertragen. Auch die eigenen Kinder lösen sich nicht stillschweigend in Luft auf, damit im Wohnzimmer täglich 270 Minuten sinnstiftender, individualisierender Live-Unterricht auf Oberstufenniveau aus dem Ärmel geschüttelt werden können. Wie gelingt also guter Unterricht in der digitalen Corona-Zeit?

„Ein Unterricht, in dem nur die Schüler profitieren und der Lehrer krank wird, ist schlechter Unterricht“, wusste schon Hilbert Meyer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Oldenburg, an dem bis heute kein Referendar im deutschsprachigen Raum im Rahmen seiner Lehrerausbildung vorbeikommt.

Die meisten von uns Lehrern lieben ihren Beruf, sind analog wie digital bestens ausgebildete „Methodenfuzzis“, sind Coaches, Evaluateure, Erlebnispädagogen, Pflasterkleber, Regisseure, Kuchenbäcker, Visionäre, Lernpsychologen und vieles mehr. Wir machen unsere Arbeit aus Leidenschaft für die heranwachsende Generation, aus Freude am Gedankenaustausch mit Jugendlichen und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch seit zwei Monaten sind wir vor allem eins: Videochat-Zombies.

In der Theorie haben wir uns das flexible Homeoffice samt häuslicher Beschulung der eigenen Kinder vor ein paar Monaten noch ganz anders vorgestellt – nämlich als harmonische Wolke aus selbsterklärenden Lernmaterialien zum Anfassen, instagramtauglichen Grundschulkindern, die ihre gut sortierten Federmäppchen auf gebügelten Picknickdecken ausbreiten, und Schülern, die sich nun ihre Zeit frei einteilen können und daher an Qualität kaum zu übertreffende Lernprodukte kreieren, die uns endlich zeigen, dass der noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Unterricht im Klassenzimmer ausgedient hat. Doch binnen zwei Lockdown-Monaten hat uns die Realität nicht nur eingeholt, sondern überholt.

Während meine Schweizer Kollegen und ich Mitte März noch mit leicht spöttischem Blick auf Schulen in den Nachbarländern geschaut haben, an denen die nahtlose Umstellung des Präsenz- auf den Online-Unterricht wegen fehlender Abonnements von Online-Tools sowie mangelnder Hardware-Ausstattung nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten abgelaufen ist, so ergreift mich heute oftmals gegenüber unseren analogen Kolleginnen und Kollegen, die ihren Stoff mit zeitlich asynchronen Lernaufträgen durchbringen können, der Neid.

Seit zwei Monaten werfe ich frühmorgens das erste gebügelte Hemd über die Zoom-Couture-Leggings von gestern, während ich dabei zuhöre, wie die eigenen Kinder noch im Bett ermitteln, ob heute immer noch „Coronaferien“ sind, wie sie die Zeit seit Freitag, dem 13. liebevoll nennen. Zehn Minuten nervöse Rückenyogaübungen auf Youtube, dann kommt auch schon die erste von im Tagesverlauf vier E-Mails mit Aufgaben für die eigenen Kinder seitlich in den Bildschirm eingeflogen. Das hiess in meinem Fall: mechanisch Silben klatschen, Oster- und Muttertagsverse auf Sprachmemos leiern oder die von Pinterest inspirierten Drillaufgabenstellungen als Mutter selbst zu erledigen. Kurz darauf galt es, die längste im Netz verfügbare Räuber-Hotzenplotz-Playlist (ganze sechs Stunden und 46 Minuten!) im Kinderzimmer erklingen lassen, noch kurz vor Anschalten der Microsoft-Teams-Kamera den Lippenstift auftragen und los geht's.

Mit einem fröhlichen „Guten Morgen zusammen, wie geht es euch?“, begrüsse ich meine Schüler fast wie sonst im Klassenzimmer – so ziemlich das letzte Unterrichtsüberbleibsel aus der guten alten Zeit. Schon nach fünf Minuten Rauschen und knackenden Leitungen höre ich die eigene Stimme nur mehr mechanisch, fast fremd, hallen: „Kabale und Liebe, vierter Akt, siebte Szene“. Stille. Warten und abschätzen, ob nun wohl alle 24 Chat-Teilnehmer in ihren Kinderzimmern auf derselben Seite des gelben Reclam-Heftchens angekommen sind. Ich frage freundlich nach, erhalte keine Antwort, sehe aber einen „Daumen hoch“ im Gruppen-Chat im Hintergrund blinken. Reicht. Luise Millerin tritt schüchtern hinein.

Hufeklappern, Pferdetraben – „Moment, ich bin gleich wieder da!“ ins Mikrofon rufen, es augenblicklich auf stumm schalten und damit beginnen, die 17 Schleich-Pferde einzusammeln, die inzwischen schon in einer doppelten Volte um meine Pantoffeln patrouillieren. In Eile stopfe ich sie den laut wiehernden Kindern in ihre Schlafanzugärmel und fordere sie mit diktatorischen Blicken dazu auf, schleunigst aus „Mamis Unterricht“ zu galoppieren. Dabei versuche ich, die 24 kreisrunden Buchstabenkombinationen auf dem Bildschirm, die mutmasslich apathisch oder neugierig in die einzigen vier aufgeräumten Quadratmeter meiner Wohnung blicken, möglichst wenig an meinem persönlichen Versagen teilhaben zu lassen, zwei Sechsjährige nicht in Schach halten zu können.

Nächste Lektion, neues Glück. Die Kinder schreien während der Screencast-Aufnahme aus dem Nebenzimmer nach Fischstäbchen. Die Klasse, die mich bislang nur als klimaschützende Veganerin kennt, scheint jedoch bei der am Vortag bis Mitternacht geplanten Flipped-Classroom-Methode ohnehin bereits abgeschaltet zu haben, ist aber bei genauerem Nachfragen, ob man morgen den Unterricht doch lieber durch Leseaufträge ersetzen soll, wieder ganz Ohr. Ein Arbeitsauftrag scheint spontan unauffindbar zu sein. Hastig tippe ich „Moment, ich hab’s gleich“ und klicke mich durch One-Note, Ilias, One-Drive, Teams und andere Tiefen meiner unerschöpflichen Datenablage. Vergebens. Also rufe ich schnell und autoritär einen Namen in das schwarze Loch und hoffe, dass der genannte Schüler sich auch wirklich in dieser Klasse befindet. Abermals Stille. Wir alle warten, bis sich Tim aus der Liegeposition in seinem Bett wieder in die Senkrechte bewegt hat und endlich im Rausch der Hintergrundgeräusche den ersten Vers aus der Iphigenie vorstammelt. Mit einem dankbaren Nicken reagiere ich nur mehr nonverbal und lächle in den neongrün leuchtenden Punkt über dem Bildschirm hinein. Doch wie klingen Goethes Jamben im Jahr 2020, wenn sie durch den dröhnenden Teams-Kanal gejagt werden? Für solche Fragen ist keine Zeit. Ebenso wenig wie für die 167 eingereichten kreativen Lernjobs von letzter Woche, die noch immer nicht korrigiert sind.

Woran es liegt, dass der nahtlose Übergang vom Präsenz- zum Online-Fernunterricht mit Jugendlichen im Adoleszenzalter trotz der Verfügbarkeit der technischen Mittel beizeiten so wenig gewinnbringend scheint, dazu kursieren gerade in zahlreichen Chat-Kanälen die wildesten Theorien. Während sich die einen sicher sind, dass schlichtweg zu wenig Zeit zur Verfügung stand, um uns gemeinsam auf die Neue Didaktik vorzubereiten, finden andere, dass uns der digitale Live-Unterricht im Gegensatz zu unserer sonstigen lehrerzentrierten Methodik und Pädagogik um Jahrzehnte zurück in den totalitären Frontalunterricht geworfen hat. Und genauso wie das Strahlen in den jugendlich neugierigen Gesichtern aus Datenschutzgründen in diesen Monaten unsichtbar bleibt, ist auch konstruktive Rückmeldung bisher dünn gesät.

Jedenfalls scheint den meisten von uns Online-Lehrern klar, dass der technisch-neidische Blick deutscher Lehrender beispielsweise nach Norwegen oder in die Schweiz ohne kritische Betrachtung nicht weit genug gedacht ist. Dass die technische Verfügbarkeit eines eigenen multifunktionalen Kommunikationstools sowie eines stets verfügbaren Systemadministrators, nach dem sich gerade viele Eltern sowie nicht zwangsvirtualisierte Lehrende sehnen, nicht ausschlaggebend für nachhaltiges Lernen sind.

Es ist der Mangel an nonverbalen Zeichen, am Lernen mit allen Sinnen, von Angesicht zu Angesicht und das Fehlen von „echten“ Gesprächen in Gruppen, im Plenum, auf Papier, die den ortsunabhängigen Unterricht so wenig lohnend erscheinen lassen. Und einmal mehr wird deutlich, dass Lernen über Beziehung stattfindet – die eben nicht ohne weiteres über Webcams geführt und mit den eigenen Kindern zu Hause geteilt werden kann. Wir haben die technischen Mittel, nach denen ihr euch sehnt – und es funktioniert trotzdem nicht.

Julia Heier arbeitet seit zehn Jahren als Gymnasiallehrerin und Redaktorin im Bereich Öffentlichkeitsarbeit an der Kantonsschule Trogen AR – derzeit unterrichtet sie die Fächer Deutsch, Deutsch als Fremdsprache und Pädagogik/Psychologie. Ausserdem gestaltet sie die Schulentwicklung in verschiedenen Arbeitsgruppen mit. In der Vergangenheit hat sie an der Pädagogischen Hochschule St.Gallen in den Bereichen Literatur-/Medienwissenschaft und in der Deutsch-Didaktik doziert; bis heute ist sie an der Universität Konstanz als freie Dozentin in der Hochschuldidaktik im Bereich Schlüsselqualifikationen tätig.

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Der Zukunftsrat gibt der Schweiz Perspektive

Robert Unteregger
04.06.2020

Die Krise hat gezeigt, dass auch in der Schweiz eher reagiert als agiert wird. Damit verspielen wir uns viele Chancen, sagt Robert Unteregger von der Stiftung Zukunftsrat. Sein Ansatz: Ein intelligent besetzter Zukunftsrat mit Anbindung an die Politik kann staatliches Handeln nachhaltiger gestalten.


Als Gesellschaft produzieren wir seit Jahrzehnten mit unseren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen und organisatorischen Wirkkräften Langzeitfolgen – auch solche, die das Leben auf der Erde gefährden. Angesichts des rasanten Veränderungstempos sind die Möglichkeiten, unsere Zukunft und jene der Nachrückenden mit- und umzugestalten, tatsächlich gross. Aber wir lassen sie weitgehend ungenutzt, beschränken uns auf das Re-Agieren. Unsere politische Arbeitsweise stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist schwergewichtig auf Kurzfristigkeit orientiert. Wir können dies ändern, indem wir die politische Arbeitsweise mit einem Zukunftsrat ergänzen.

Ein Zukunftsrat ergänzt Regierung und Parlament gezielt um die Dimension der Langzeit, macht diese überhaupt erst differenziert diskutier- und verhandelbar. Wie würde er arbeiten? Er erarbeitet einen Überblick über die Entwicklungslinien unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten. Unter Einbezug von Praktikern, Fachleuten, durch das Aufarbeiten der einschlägigen Literatur und gelegentliche Vernehmlassungen benennt er die zentralen Herausforderungen für eine längerfristige Zukunftsgestaltung. Zu diesen entwirft er nach eigener Priorisierung tragfähige Ziellandschaften und mögliche Schritte, die dahin gehen. Diese Arbeit ist methodisch anspruchsvoll und wissensintensiv. Damit die wesentlichen Überlegungen und Vorschläge eines Zukunftsrates allgemein verständlich und zugänglich werden, müssen sie in wissensbasierte, anschauliche Begriffe und Bilder gebracht werden – ein wissensbasierter Populismus im guten, verantwortbaren Sinne.

Um schliesslich auch politisch wirksam agieren zu können, benötigt ein Zukunftsrat mindestens ein Vorschlagsrecht gegenüber Regierung und Parlament, mit Verbindlichkeit auf Antwort innert nützlicher Frist. Zur Verbreitung der Zukunftsratsarbeit in der Bevölkerung kann ein Zukunftsrat konsultative Befragungen zu anspruchsvollen Handlungsfeldern mit einer graduellen Beurteilung (nicht bloss ja oder nein) und mit Varianten durchführen; ebenso öffentliche Hearings. So hat etwa Finnlands Zukunftskommission den Umgang mit der vierten Generation im Rahmen eines Jazz-Festivals thematisiert.

Die fünf bis neun Mitglieder eines Zukunftsrates würden von einem Vorschlagsteam ausgewählt und vom Bundesrat bestätigt. Das Vorschlagsteam kann gebildet werden aus

Das Team muss sich auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen. Die Mitglieder des Zukunftsrates werden für eine einmalige Amtsdauer von neun oder zwölf Jahren ernannt und alle drei oder vier Jahre teilerneuert. Arbeitsort des Rates, dem ein wissenschaftlicher Stab zur Verfügung steht, kann der Gurten sein – mit direkter Sichtverbindung zum Bundeshaus, was die Nähe zur Bundespolitik betont, jedoch 300 Meter höher gelegen ist. Das versinnbildlicht die andere Perspektive der Langzeit.

Je rascher solche Zukunftsräte Wirklichkeit werden, desto besser für uns und unsere Enkel!

Robert Unteregger ist Mitgründer und Verantwortlicher der Schweizerischen Stiftung Zukunftsrat. Hiermit setzt er sich seit der Stiftungsgründung 1997 für die Schaffung von Zukunftsräten ein. Unteregger ist studierter Philosoph, wirkt auf der Baustelle Zukunft in Cudrefin und führt an der Pädagogischen Hochschule Bern in kleinem Rahmen künftige Gymnasiallehrpersonen in Bildung für nachhaltige Entwicklung ein.

Weitere Informationen zur aktuellen Arbeit des Zukunftsrats: Robert Unteregger im Video-Interview.

Demokratie braucht eine wirtschaftlich emanzipierte Mittelklasse

Philipp Aerni
03.06.2020

Bloss den Westen zu kopieren, ist langfristig kein Rezept für stabile Demokratien, sagt Philipp Aerni, Direktor des UZH-Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit. Er kritisiert damit China-Bashing und westliches Scheuklappen-Denken. Stattdessen setzt er auf wirtschaftliche Ermächtigung.


Gemäss dem Transformationsindex (BTI) der Bertelsmann Stiftung soll die Qualität von Demokratie und Regierungsführung in Transformationsländern zum sechsten Mal in Folge gesunken sein und sich nun auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung 2003 befinden. Ausserdem soll die COVID-19-Pandemie diesen Negativtrend noch zusätzlich verstärken.

Das macht betroffen und lässt befürchten, dass die Welt in Gewalt, Ungleichheit und Diktatur versinkt.

Bei genauerer Betrachtung dieses Indexes kommen allerdings gewisse Zweifel auf. Grundlage des Erhebungsprozesses ist ein standardisiertes Codebuch, das einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Erhebung bildet. Viele politische und sozioökonomische Indikatoren und Kriterien basieren auf Zahlen, die anderswo bereits erhoben wurden, doch die Bewertung hängt in erheblichem Masse auch von ausgewählten Experten ab: mehrheitlich Politikwissenschaftler ohne grosse Feldforschungserfahrung. Ihr meist normatives Urteil fliesst auch in die Evaluation ein. Das Ganze wird dann umgemünzt in ein zahlenbasiertes Ranking, wo sich der Status der Transformation Richtung Demokratie und „sozialverträgliche“ Marktwirtschaft wunderbar ableiten lässt.

Der normative Rahmen scheint dabei klar zu sein: Seid so wie der „Westen“, dann kommt alles gut!

Ausgeklammert von der Evaluation werden nämlich jene Länder, „deren demokratisches System über einen längeren Zeitraum als konsolidiert und deren wirtschaftlicher Entwicklungsstand als weit fortgeschritten angesehen wird“. Westeuropa und die USA sollen somit eine Art Leuchttürme sein, an denen sich der Rest der Welt orientieren kann. Ein Grund für den Ausschluss der westlichen Wohlstandsgesellschaften mag wohl auch sein, dass es sonst zu offensichtlich wird, dass der Index fast eins zu eins mit dem GDP eines Landes korreliert (die Golfstaaten ausgenommen).

Die starke Korrelation zwischen Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie würde klar aufzeigen, dass vor jeder politischen Ermächtigung immer die wirtschaftliche Ermächtigung kommen muss. Denn nur ein Staat, der genügend Steuereinnahmen aus einer prosperierenden inländischen Wirtschaft generiert, ist relativ selbstbestimmt und kann seine essentiellen Funktionen im öffentlichen Interesse effektiv wahrnehmen. Ausserdem liegt es im Eigeninteresse eines solchen Staates, diejenigen politisch mitbestimmen zu lassen, die den Staat durch ihre Wirtschaftsleistung finanzieren.

Ein armer Staat kann sich zwar eine demokratische Verfassung geben und allerlei Bürgerrechte in der Verfassung verankern. Doch wenn es keine wirtschaftlich starke und breite Mittelklasse gibt, die Steuern zahlt und auch wissen will, was mit diesen Steuern passiert, bleibt die Demokratie ein hohles Konstrukt, hinter dem sich allzu oft ein traditionelles Patron-Client-System verbirgt. Der Patron beschenkt seine Untertanen und erwartet im Gegenzug politische Loyalität. Das politische Engagement des Patrons, der in solchen feudalistischen Strukturen vom Status Quo profitiert, gilt jedoch allzu oft nicht der Förderung von wirtschaftlichen Reformen, sondern der Bewahrung der sozioökonomischen Strukturen. Er ist daher kein natürlicher Verbündeter der unternehmerischen Mittelklasse, welche den Wandel anstrebt. Mit anderen Worten: Es bleibt eine Elitedemokratie, die jederzeit wieder in eine Autokratie zurückfallen kann.

Dass die aggregierte BTI Bewertung dem nicht Rechnung trägt, zeigt sich im Ranking: Länder wie Indien (Platz 34), Tunesien (Platz 44) und die Philippinen (Platz 51) schneiden relativ gut ab, während ein Land mit einem autoritären Regime wie China (Platz 91) nur gerade vier Ränge vor Nigeria landet; einem Land, dass sich eher durch anarchische als durch autoritäre Strukturen auszeichnet.

Auch, wenn es noch keine Anzeichen von Demokratie in China gibt, so besteht dennoch ein wirtschaftliches Fundament, das zu einem späteren Zeitpunkt eine stabile Demokratie begünstigen könnte. Dieser Schluss lässt sich auch aus der europäischen Geschichte ziehen, denn wer würde behaupten wollen, dass in Deutschland vor und während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert demokratische Strukturen geherrscht hätten?

In Indien hingegen mag es demokratische Institutionen geben, doch wie relevant sind die tatsächlich im Alltag der Menschen? Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Diskriminierung, Armut, Hunger und Unterernährung sind weit verbreitet, weil unter der demokratischen Fassade nach wie vor das Kastensystem schlummert und die Regierung viel Symbolpolitik betreibt, die sich aber am Ende als ineffektiv erweist, wenn es um die Schaffung einer breiten Mittelklasse geht. Neuerdings zeigt sich auch, wie schnell sich das Land wieder in eine Autokratie verwandeln könnte.

Das Lamento bezüglich dem Trend in Richtung autoritärer Regimes blendet daher viel aus, das sich nicht durch einen solchen Index erfassen lässt.

Ausserdem wird oft der Balken im eigenen Auge ausgeblendet. Deutsche Entwicklungsgelder sollen gemäss Entwicklungsminister Gerd Müller vor allem für meist deutsche Organisationen ausgegeben werden, die sich für die Stärkung von „lokalen Strukturen“ und die Aufwertung von traditionellen Praktiken in der Landwirtschaft in Entwicklungsländern einsetzen.

Ist eine solche Strategie wirklich zielführend im Bestreben, einen Strukturwandel zu fördern, der die dringend nötigen guten Jobs für die Jugend ermöglicht und langfristig die wirtschaftliche Grundlage schaffen könnte für stabile demokratische Strukturen? Wohl kaum, denn mit solchen Projekten werden oftmals bloss die lokalen Gruppierungen gestärkt, die vom Status Quo profitieren. Die lokalen Treiber des wirtschaftlichen Wandels, nämlich die lokalen Unternehmer, die sich nicht mehr Spendengelder, sondern mehr Investitionen wünschen, bleiben unbeachtet.

Philipp Aerniist Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) an der Universität Zürich. In den vergangenen Jahren hat er sich vor allem mit der Rolle von Wissenschaft, Technologie und Innovation für eine nachhaltige Entwicklung beschäftigt. Vor seiner, Ernennung zum Direktor des CCRS hat Dr. Aerni an der Harvard Universität, der ETH Zürich, der Universität Bern sowie bei der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) gearbeitet.

Pandemie stärkt Trend hin zu Bioplastik

Frederic Mauch
29.05.2020

Die besonderen Eigenschaften von Kunststoff machen das Material in Corona-Zeiten wieder beliebt. Doch Plastikmüllberge müssen dennoch nicht wachsen. BioApply-Gründer Frederic Mauch sieht in der Krise auch wachsendes Interesse an Alternativen.


Die Zeit vor COVID-19 ist jetzt klar abgegrenzt, da diese Geissel die Welt als Ganzes getroffen hat. Können wir an dieser Stelle von einer Bruchstelle sprechen? In jedem Fall werden bestimmte Themen, bestimmte Trends plötzlich überprüft und in Frage gestellt.

Seit 2006 und der Einführung von BioApply konnte ich den immer stärker werdenden Kampf gegen Kunststoffverpackungen beobachten und mich daran beteiligen, um dann allmählich auf Null-Verpackungen, Geschäftsmodelle ohne Verpackung und nachhaltige Mehrwegverpackungen hinzuarbeiten.

Es stimmt, dass wir alle zweifelsohne bestimmte Eigenschaften der Verpackung vernachlässigt haben. Die COVID-19-Krise ist eine deutliche Erinnerung daran.

Die Übergabe von Medikamenten vom Apotheker zum Kunden, die Auswahl und Handhabung von Obst und Gemüse durch den Kunden, der Weg eines wiederverwendbaren Beutels durch die Hände des Kunden und des Kassenpersonals? Die mehrfachen Handhabungen an Säcken und Hebeln für Schüttgüter? All diese Fragen werden plötzlich zentral, ja sogar lebenswichtig.

Die unmittelbare Reaktion? In den Apotheken wird nicht mehr systematisch nach fünf oder zehn Cent für Beutel gefragt – egal, ob kompostierbar oder aus Plastik. Im aktuellen Umfeld hat die Verringerung der menschlichen Berührungen von Gegenständen Priorität. In den Obst- und Gemüseabteilungen eines bestimmten Supermarktes wird systematisch ein manuelles Gel auf die Kunden aufgetragen und diese anschliessend mit einer Plastik- oder kompostierbaren Tüte an jeder Hand ausgestattet, um jegliche Kontamination der Ware zu vermeiden.

Der Offenverkauf kann diesem Phänomen nicht entgehen.

Die Kunststofflobby hat keine Zeit verloren und setzt alles daran, eine Rückkehr in das goldene Zeitalter der Kunststoffverpackungen zu erreichen. In mehreren Ländern und Regionen sind Anträge auf Aufhebung des Verbots von Plastiktüten im Gange.

COVID-19-Probleme können nicht auf Kosten der Umweltprobleme, mit denen wir weiterhin konfrontiert sind, angegangen werden.

Gleichzeitig ist die COVID-19-Krise nicht ein kurzes Zwischenspiel, wir werden nicht zurück in alte Muster fallen, wenn die Krise bewältigt ist. Änderungen im Verhalten, in der Gesellschaft und bei den Hygienemassnahmen werden wahrscheinlich längerfristig bestehen bleiben.

Die Wahl ist jedoch nicht auf eine Wahl zwischen Null-Verpackung oder Rückkehr zu Plastik beschränkt. Es gibt in der Tat Lösungen, die sowohl die hygienischen als auch Barriere-Eigenschaften von Kunststoffverpackungen gewährleisten und gleichzeitig nachhaltig sind. Kompostierbare Verpackungen und Beutel sind das beste Beispiel.

Der kompostierbare Zweiwegbeutel eignet sich für den Einsatz in der Obst- und Gemüseabteilung, an der Supermarktkasse, aber auch in Apotheken und bei lokalen Warenlieferanten und beim Online-Shopping. Sie ermöglicht es Ihnen, Ihre Einkäufe zu erledigen, Ihre Lieferungen entgegenzunehmen, Ihr Obst auszuwählen und dann in einem zweiten Schritt Ihre organischen Abfälle zu trennen. Es sollte daran erinnert werden, dass organische Abfälle mehr als 30 Prozent des Haushaltsabfalls ausmachen.

Der kompostierbare Sack ist wieder einmal das Bollwerk, das eine Rückkehr zu Plastik verhindern kann.

BioApply beabsichtigt auch, die Palette der in Europa beschafften, biobasierten Produkte, die zur Gewährleistung der Hygienefunktionen und der Umweltbilanz zurückverfolgbar sind, zu erweitern. Ab Mai sind biologisch abbaubare Handschuhe für den Lebensmittelkontakt und den Einzelhandel erhältlich. Zusätzlich zu ihrer Hauptfunktion haben sie den Vorteil, dass sie eine bessere CO2-Bilanz als vergleichbare Plastikprodukte haben und eine vollkommene Transparenz in der gesamten Lieferkette bieten.

Die COVID-Krise schafft auch einen neuen Trend, eine starke Nachfrage nach lokalen, regionalen, zurückverfolgbaren und verifizierten Produkten. Mehr denn je brauchen die Verbraucher Produkte, die nicht global, sondern so lokal wie möglich bezogen werden. Sie wollen alles über diese Produkte und dabei auch über die Verpackung wissen. Wo kommen sie her? Sind ihre Marketing-Argumente aufrichtig? Sind ihre Zertifizierungen gültig? BioApply arbeitet seit zehn Jahren mit der Zurückverfolgbarkeit durch die Produkt-DNA-Plattform und respect-code.org. So sind die meisten Lösungen, die BioApply anbietet, ob für den Einzelhandel oder die Abfallwirtschaft, zurückverfolgbar. Hier ein Beispiel.

Schliesslich haben wir seit COVID-19 in unserer Abteilung für die Produktentwicklung BioApply Services eine deutlich gestiegene Nachfrage nach Projekten zur Entwicklung kompostierbarer und biobeschaffter Lösungen festgestellt. Dies zeigt sich in den verschiedensten Bereichen. Dies ist sicherlich auch das Ergebnis einer reduzierten operativen Tätigkeit in einigen Branchen, das gibt mehr Zeit für strategische Projekte. Aber vielleicht gibt es auch eine Beschleunigung des Übergangs zu nachhaltigen Modellen und zu einer Gesellschaft, die mehr im Einklang mit ihrer Umwelt steht. Jeder ist sensibel für den frischen Wind, den die Natur seit dieser Krise bekommt.

Frederic Mauchhat vor 14 Jahren das Unternehmen BioApply gegründet und ist seither dessen Geschäftsführer. Das Unternehmen aus Gland VD entwickelt und produziert Lösungen aus pflanzlichem, kompostierbarem Plastik für den Handel und für die Trennung von Abfällen.

Corona und Klima: Ungleiche Schulden

Manuel Flury
28.05.2020

Die Schuldenerbschaft durch die aktuelle Krise bereitet vielen grosse Sorgen, obwohl sie künftige Lebensgrundlagen sichert. Und was ist mit den Klimawandel-Schulden? Manuel Flury, Ex-Mitarbeiter der DEZA-Direktion, fragt sich, warum mit diesen fast sorglos umgegangen wird.


„Wir werden in dieser Session über Milliardenbeträge entscheiden. Das macht mir als junger Nationalrat doch sehr zu schaffen“, sagte der junge, besorgte Mann in einer Sendung des Schweizer Fernsehens zur Sondersession des Parlaments. Auch der Finanzminister macht sich Sorgen über den im Zuge der Corona-Krise angehäuften Schuldenberg. Schulden würden die kommende Generation mit Steuern belasten, so seine Botschaft. Würde sich auch Angelo, unser Enkel von sieben Monaten Sorgen machen? Oder wäre er froh, dass er dank dieser Ausgaben eine gesunde Lebensgrundlage vorfinden wird?

In der Tat, der Bund hat bisher gegen 75 Milliarden Schweizerfranken freigegeben, sowohl Bürgschaften für Überbrückungskredite, inklusive für die Luftfahrtindustrie, als auch direkte Hilfen für Kurzarbeit und Erwerbsersatz, für Sanitätsmaterial und Medikamente, für Kultur, Sport und Tourismus und auch etwas für die Kitas. Dies müsste Angelo besonders freuen, er geht seit wenigen Wochen in die Kita.

Es gibt selbstverständlich eine Kontroverse um die wirtschafts- und finanzpolitische Bedeutung dieser Schulden. Dabei geht es nicht nur um die Milliarden, mit denen die ersten Folgen des Lockdowns gemildert werden sollen. Die Folgekosten auf Seiten der Arbeitslosenversicherung und die Steuerausfälle wegen grosser Verluste bei Unternehmungen und Privaten dürfen nicht vergessen werden. Die Gesamtverschuldung von Gemeinden, Kantonen und Bund belief sich Ende 2019 auf 188 Milliarden, 27 Prozent des Volkseinkommens. Würden neben den direkten Ausgaben auch alle Bürgschaften in Anspruch genommen, stiege die Schuld auf 263 Milliarden oder 38 Prozent an. Damit würde die Schweiz weiterhin eine ausgezeichnet niedrige Schuldenquote im Vergleich mit praktisch allen europäischen Ländern aufweisen.

Es ist eindrücklich, wie sich viele Finanz- und WirtschaftspolitikerInnen um die Schuldenerbschaft Sorgen machen, welche die kommende Generation zu verkraften haben wird. Was würde Angelo dazu sagen? Vergessen diese PolitikerInnen dabei, dass diese Ausgaben Investitionen in den Erhalt der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur der Schweiz darstellen und damit dem Wohlergehen der Bevölkerung dienen? Die Schulden unserer Grosseltern und Eltern von damals, nach dem Krieg und nach der Erdölkrise, haben unserer Generation ein sorgloses Leben ermöglicht. Wir haben diese Schulden von damals gerne mit unseren Steuern beglichen!

Ganz anders sieht es aus, wenn wir an das Klima denken. Wir, die jetzt lebende Generation, vererben unseren Nachkommen eine weiterhin steigende Belastung an CO2 und anderen klimaschädlichen Gasen wie Methan. Millionen leiden bereits heute unter den negativen Konsequenzen des Klimawandels.

Denken wir ebenfalls an den Nuklearmüll, den wir kommenden Generationen überlassen und den diese „hegen und pflegen“ müssen, ohne davon irgendeinen Nutzen zu haben. Wie viel seiner Steuern wird Angelo dereinst für die Lagerung dieses Mülls aufwenden müssen?

Nachhaltige Entwicklung schliesst die Bedürfnisse der kommenden Generationen auf ein Leben in Würde und Sicherheit ein. Die Corona-Schulden von heute sichern unseren Nachfahren die Lebensgrundlagen von morgen, selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Gelder nachhaltig, also auch klimaschonend, eingesetzt werden. Die Klima- und Umweltschulden sichern die künftigen Lebensgrundlagen nicht, im Gegenteil! Dies müsste dem jungen Parlamentarier Kummer bereiten! Angelo würde sich bei ihm bedanken.

Manuel Fluryist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Berufschulen – die neuen Elite-Schulen?

Karin Landolt
27.05.2020

In Corona-Zeiten zeigt sich der Flickenteppich in der Bildung nicht nur, wenn es um kantonale Unterschiede bei Maturitätsprüfungen geht. Auch beim Fernunterricht taten sich Welten auf, sagt Karin Landolt, Kommunikationsfachfrau und Mutter. Gerade Berufsschulen hätten Stärke bewiesen.


Während des Lockdowns hatten wir alle die Chance, überraschende Erkenntnisse zu gewinnen. Ich will Ihnen eine meiner Beobachtungen verraten, die mich erstaunte, und doch nicht so sehr überraschte.

Als Mutter zweier Töchter hatte ich die einmalige Gelegenheit, zwei schulische Institutionen im Krisenmodus zu vergleichen. Die Jüngere besucht die Kantonsschule, die Ältere absolviert eine Berufslehre mit Berufsmatur an einer Wirtschaftsschule. Beide Schulen mussten quasi über Nacht ihre digitalen Unterrichtsangebote hochfahren und bekamen gleichzeitig die Gelegenheit, Ehrgeiz und Kompetenz in Bezug auf ihren Bildungsauftrag an den Tag zu legen.

Die Wirtschaftsschule schaffte es, nahtlos an den Präsenzunterricht und pünktlich am Montagmorgen um 7.40 Uhr mit der ersten virtuellen Homeoffice-Lektion loszulegen, der Umfang des Schulstoffs stand den bisherigen Anforderungen in nichts nach. Hinzu kam das sofortige Einüben der Selbstorganisation, denn die zwei vollgepackten Schultage plus Hausaufgaben muss meine Tochter ja neben der regulären Arbeitszeit im Lehrbetrieb bewältigen.

Die gymnasiale Schulleitung liess sich Zeit und lieferte nach Tagen des schulischen Nichtstuns endlich erste Anweisungen. Meiner Gymi-Tochter wird seither in homöopathischen Dosen die Allgemeinbildung eingeträufelt, oft macht sie sich schon am Mittwoch Sorgen darüber, was sie bis Freitag noch tun könnte. Und sie ist notabene keine Wunder-Schülerin.

Nun möchte ich keiner Schule einen Vorwurf machen, ich stelle nur fest, dass die Berufsschule ihren Auftrag im unternehmerischen Sinne wahrnimmt. Antriebsfeder sind wohl auch die mitfinanzierenden Lehrbetriebe, denn Zeit ist Geld. Die Kantonsschule ist vom Staat und damit von Steuergeldern getragen, nennt sich Elite-Schmiede und leistet sich die Zeit, die sie braucht. Sie könnte allenfalls mit einer besseren Qualität argumentieren, dies wäre allerdings zu beweisen.

Das Beschriebene ist eine individuelle Beobachtung und soll nicht als Kritik an unserem Bildungssystem herhalten. Als Verfechterin der dualen Bildung liefert sie mir aber weitere Gründe, um mich für die bessere Anerkennung der Berufsbildung stark zu machen. Sie zeigt, was sie – selbst in der Krise – zu leisten fähig ist, und wie gut sie junge Menschen fürs Berufsleben vorbereitet.

Die Ansicht, nur Gymis seien Elite-Schmieden, ist veraltet.

Karin Landolt ist Co-Geschäftsleiterin bei Actares, Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften, und Inhaberin von Gesprächskultur. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Winterthur. Sie hat eine Berufslehre als Kauffrau, später die kantonale Maturitätsschule für Erwachsene (KME) in Zürich absolviert. Im Zeitraum von 2014 bis 2018 hat sie als Kommunikationsverantwortliche die drei Internationalen Berufsbildungskongresse des Staatssekretariates für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mitorganisiert.

Chancen für Lebens- und Krankenversicherer nach COVID-19

Peter Ohnemus
25.05.2020

Krisen sind Katalysatoren und Wertschöpfer, sagt der dacadoo-Gründer Peter Ohnemus. Gerade für Lebens- und Krankenversicherer sieht er Chancen, sofern diese Mut beweisen und die Richtung anzeigen mit innovativen, digitalen Produkten, welche Gesundheitsplattformen in ihr Angebot einbauen.


Die aktuelle COVID-19-Pandemie stellt unsere Gesellschaft und uns alle vor viele Herausforderungen. Während praktisch jeder Wirtschaftssektor von der Pandemie hart getroffen wurde, wächst parallel dazu die öffentliche Verschuldung, was ein gefährlicher Mix ist. Laut einer Studie von Willis Towers Watson könnten die Gesundheitskosten für Arbeitgeber in den USA aufgrund von Test- und Behandlungskosten im Zusammenhang mit COVID-19 um 7 Prozent steigen.

In den letzten 30 Jahren habe ich als Serienunternehmer viele Trends miterlebt und einige auch vorausgesehen. Trotz den evidenten Herausforderungen der COVID-19-Pandemie sehe ich klare Chancen für die Lebens- und Krankenversicherungsbranche.

Soziale Dynamiken verändern die Sichtweise von uns allen

Grosse Krisen waren schon immer gute Katalysatoren und Wertschöpfer. Ich sehe mehrere soziale Dynamiken, die sich auf die Lebens- und Krankenversicherungsbranche auswirken werden. Zum einen sehen wir eine verstärkte Bereitschaft zum Wissensaustausch, da mehr Menschen bereit sind, ihr Wissen in einem Open-Source-Stil zu teilen. Zum anderen beobachten wir die positiven Vorteile des wirtschaftlichen Stillstandes bezüglich unserer Umwelt. Die Financial Times hat veröffentlicht, dass in Europa derzeit 60 Prozent weniger Umweltverschmutzung zu verzeichnen sei. Diese Entwicklung wird die Konsumenten veranlassen, ihr Reise-, Konsum- und Umweltverhalten zu überdenken.

Die digitale Transformation beschleunigt sich

Die Pandemie-bedingten Anpassungen in unserer Arbeitswelt beschleunigen bereits existierende Trends für die Zukunft der Arbeit. Die Streaming-Wirtschaft, das heisst nicht nur Video-Streaming, sondern auch Dienstleistungen rund um Fernunterricht und Telemedizin, wird schneller wachsen als bisher. Accenture stellte in seinem jüngsten Papier fest, dass 76 Prozent der Führungskräfte zustimmen, dass Unternehmen neu darüber nachdenken müssten, wie sie Technologie und Menschen auf eine menschlichere Art und Weise zusammenbringen können. Ich beobachte regelmässig, dass Menschen, die positive Erfahrungen mit ärztlichen Videoberatungen gemacht haben, oder erfolgreich Nahrungs-Lieferdienste genutzt haben, ihr Verhalten automatisch anpassen.

Neue Plattform-Ökosysteme und Produkte des digitalen Lebensstils

Aus meiner Erfahrung ist Risikokapital ein sehr aussagekräftiger und guter Indikator für das, was sich in Zukunft im Markt durchsetzen wird. In den letzten Jahren wurden weltweit die grössten Investitionen in Ökosysteme für Gesundheitsplattformen getätigt. Im Jahr 2018 wurden über 86 Milliarden US-Dollar in KI und maschinelles Lernen und 53 Milliarden US-Dollar in die Telemedizin investiert. Dies eröffnet der gesamten Lebens- und Krankenversicherungsbranche einzigartige Chancen. Wie immer in solchen Situationen wird es Gewinner und Verlierer geben, und die Unternehmen, welche die Chance jetzt packen, werden diese Chancen wahrnehmen können. Wenn Sie sich jetzt nicht bewegen, kommen Sie zu spät zum Spiel.

Was sind dann logischerweise die grossen Trends bei digitalen Lifestyle-Produkten?

Es wird mehr Dienstleistungen für zu Hause geben, wie Fitness- oder Wellness-Videokurse. Wir sehen bereits jetzt eine Explosion von IoT- und Cloud-basierten Geräten, und das Konzept „Pay-as-you-live“ wird weltweit zu einem Standardbestandteil der privaten Lebensversicherung werden. Die Regierungen werden Programme zur Förderung der Gesundheit unterstützen müssen, da zum Beispiel die Fettleibigkeit in der Bevölkerung weltweit jedes Jahr stark zunimmt. KI-basierte digitale Gesundheitsplattformen werden für Versicherer zum Mainstream werden. Wir werden erleben, dass Telehealth und sprachbasierte KI-Lifestyle-Navigation zu einem natürlichen Bestandteil unseres Alltags werden. Die Verbraucher werden bereit sein, lebens- und gesundheitsbezogene Daten für einen echten Werteaustausch zu teilen, wie es zum Beispiel bei Plattformen geschieht, wo sie Punkte für einen gesunden Lebensstil erhalten. Nicht zuletzt müssen wir die Stückkosten durch Straight-Through-Processing, Echtzeit-Preisgestaltung und Mikroversicherungsdienste senken.

Digitaler Leadership, Aktionen und Belastbarkeit

Bekanntlich gehen Versicherungen nicht gern Risiken ein, welche sie nicht gut kalkulieren können. Die gegenwärtige Zeit erlaubt es aber nicht stillzustehen und es ist wichtig, Entscheidungen zu treffen und starkes Leadership zu zeigen, um voranzukommen. Diese Pandemie trifft die gesamte Gesellschaft, und die Schlüsselwörter für die Lebens- und Krankenversicherung werden lauten: digitales Leadership, klare Taten und Widerstandsfähigkeit, um das Vertrauen zu erhalten.

Peter Ohnemushat 2010 die dacadoo ag gegründet und ist seither deren CEO. Er ist zudem als Investor an mehreren Start-ups aus den Bereichen Hightech, Medizin und ICT beteiligt. Die dacadoo-Plattform motiviert mit spielerischem Ansatz zu einem gesunden Lebensstil und macht Gesundheit individuell messbar. Darauf basieren digitale Lösungen für Unternehmen im Gesundheitsbereich sowie für die betriebliche Gesundheitsförderung.

Die drei Wellen der 2020er-Krise

Christian Häuselmann
22.05.2020

Erkennen wir das historische Momentum dieser Corona-Zeit? Vielleicht noch nicht, sagt Entrepreneur Christian Häuselmann. Doch er rechnet mit einer mentalen dritten Welle, in der wir uns persönlich entscheiden müssen, für welche Werte und Visionen wir einstehen.


Diese Krise in den ersten Monaten des Jahres 2020 ist anders. Irgendetwas stimmt nicht. Als 68-er habe ich den Vorteil, bereits drei grosse Krisen bewusst miterlebt zu haben: die Börsenkrise 1987 mit dem Schwarzen Montag, der Dotcom- und Terrorkrise 2000/2001 und die Finanzkrise 2008/2009. Jede dieser hinter uns liegenden Krisen hatte ihre eigenen Auslöser, ihre eigene Logik in der dramatischen Entwicklung und in der anschliessenden Erholung.

Doch diese Krise ist anders. Alles Recherchieren hilft nichts – wir werden erst in den nächsten Monaten und Jahren diese Situation und die rasend schnellen Entwicklungen besser verstehen und einordnen können.

Nach heutigem Wissen gehe ich davon aus, dass diese Krise in drei Wellen ablaufen wird:

  • der gesundheitlichen Welle – da sind wir bereits voll drin,
  • der wirtschaftlichen Welle – diese startet gerade erst richtig,
  • der mentalen Welle – diese ist noch nicht genügend auf dem Radar.

Realistischerweise ist anzunehmen, dass sich die erste und zweite Welle wiederholen werden, vielleicht bereits im Herbst 2020. Das würde die dritte Welle umso stürmischer werden lassen.

Mit dieser dritten Welle – der mentalen Welle – meine ich nicht die Psychologie der Hamsterkäufe, des Aktienmarktes, der Hüttenkoller-Symptome durch das erzwungene Zuhausebleiben, oder der tragischen Suizide unter den hart geforderten Pflegepersonen. Und auch nicht die motivierenden und kreativen Beispiele der neuen Solidarität unter Menschen, die sich vorher fremd waren. Wir erleben hautnah das alte Erfolgsrezept der ländlichen Gegenden und Bergregionen mit ihren knorrigen Charakteren: Jetzt ist Zusammenhalten und Gemeinschaft gefragt.

Das alles beschäftigt mich zwar sehr. Aber nein. Ich frage mich, was in zwei bis drei oder gar in zehn Jahren sein wird. Wenn wir mehr Wissen und Transparenz haben werden in Bezug auf die wahren Fakten dieser Krise. Wenn wir erstmals richtig erkennen werden, wer die grossen Gewinner und Verlierer dieser Krise sind. Wenn wir wohl auf die harte Tour lernen werden, was Beat Kappeler in seiner NZZ-Kolumne vom 16. März 2020 zum Thema „Die perverse Welt der Negativzinsen“ präzis auf den Punkt bringt. Die weltweiten Notenbanken schwenken mit ihren Geld-Druck-Programmen und Negativzinsen die Abrissbirne. Sie sind dabei, drei Säulen der Zivilisation zu zertrümmern: Staatsbonität, Regelvertrauen und Geldwert. Diese Kappelersche Abrissbirnen-Formel können wir uns einprägen:

Negativzinsen + Gelddrucken = Zivilisation – (Staatsbonität + Regelvertrauen + Geldwert).

Die seit der Finanzkrise 2008/2009 gefestigte Form des heutigen Kapitalismus ist der perverse Höhepunkt des Maximierens der privaten Gewinne, und des Tragens der damit entstehenden Kosten durch die Allgemeinheit. Historisch interessierte Personen wissen, dass jede zu stark auseinanderdriftende Entwicklung mit meist kriegerischen Revolutionen von unten korrigiert und wieder neu ausbalanciert wird.

Mit der dritten Welle – der mentalen Welle – werden wir uns fragen: Was ist passiert, haben wir die Chancen erkannt, haben wir sie genutzt? Oder haben wir sie verpasst, an uns vorbeiziehen lassen? Haben wir die gelbe Karte an die Menschheit verstanden? Haben wir die bewährten, widerstandsfähigen, dezentralen Strukturen und regionalen Wertschöpfungsketten gestärkt? Haben wir lokale Kreisläufe wieder schliessen können? Haben wir langfristig orientierten Sinn in der täglichen Arbeit und unseren Leben entdeckt?

Es liegt an uns allen, sich solche Fragen zu stellen. Wir können diese wilden Monate nutzen, um uns für einen sehr persönlichen Weg zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Für welche Visionen und Werte stehen wir ein, welche Zukunft wollen wir, wo und für wen setzen wir täglich unsere Energie und Kreativität ein. Mit dieser Krise haben wir wohl eine historisch einmalige Chance. Packen wir sie!

Christian Häuselmanns Passion als Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur ist das langfristige Handeln von Menschen und Firmen. Unter anderem hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert.

Bauplan für eine resiliente Gesellschaft

Barbara Wülser
20.05.2020

Die Corona-Krise hat unser Leben in Einzelteile zerlegt: Beziehungen, Arbeitsmodelle Freizeit- und Konsumverhalten liegen als lose Bausteine vor uns, so die These von Barbara Wülser, Co-Geschäftsführerin der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA. Jetzt hätten wir die Chance für einen neuen, zukunftstauglichen Bauplan.


Messungen bestätigen unsere Vermutung: Der Energieverbrauch und der CO2-Ausstoss gehen dank der Massnahmen zur Eindämmung von Sars-CoV-2 zurück. Es gibt weniger Lärm und weniger seismische Vibrationen, dafür Vogelgezwitscher und bessere Luft. Doch machen wir uns nichts vor: Das ist nicht die ökologische Wende! Wir durchleben gerade einen der wärmsten Monate seit Messbeginn und es steht ein dritter trockener Sommer in Folge vor der Tür. Damit unser post-coronales Leben und Wirtschaften gelingt, müssen wir im Zukunfts-Bauplan ökologische Aspekte ebenso stark gewichten wie ökonomische. Der Baukasten darf erweitert, schädliche Elemente müssen entfernt werden.

Es droht die Gefahr, dass Regierungen im Namen des Wiederaufbaus Milliarden in den Erhalt eines Systems buttern, das viele zu Verlierern und wenige zu Gewinnern macht – Milliarden, die für die Bekämpfung des Klimawandels versprochen wurden und dort fehlen werden. Was wir brauchen, ist eine gerechte Lastenverteilung zum Abfedern der negativen Effekte der Globalisierung, durch die diese Krisen mitverursacht wurden; die Coronakrise wie auch die Klimakrise. Die Schaffung einer globalen Governance für globale Probleme, sowohl im Gesundheits- als auch im Umweltbereich, kann nicht aufgeschoben werden.

Entscheidend ist, wie die zu erwartenden Konjunkturpakete ausgerichtet werden und welche Branchen mit welchen Kriterien gefördert werden. Das Ziel aller Massnahmen muss sein, eine resiliente Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufzubauen, deren Produktion und Konsum sich an den tatsächlich verfügbaren Ressourcen orientiert.

In vielen Alpenregionen gibt es bereits taugliche Lösungsansätze dafür. Vergleichsweise kurze, regionale Wertschöpfungsketten stärken die lokale Kreislaufwirtschaft und damit die Unabhängigkeit von äusseren Einflüssen. Lokale Gemeinschaften fördern das Miteinander und die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Freiräume und Mangel an Konsummöglichkeiten befruchten Eigenverantwortung und soziale Innovationen, sei es, indem Geräte repariert statt neu gekauft werden, sei es bei der Kinderbetreuung oder Altenpflege, sei es bei der Bewirtschaftung des letzten verbliebenen Gasthauses im Tal oder beim gemeinsam organisierten Einkauf von Lebensmitteln.

Auch technisch stehen vielerlei Innovationen parat. Sie bräuchten oft nur einen Startimpuls, wie Anschubfinanzierung oder Bedarf durch geänderte Rahmenbedingungen – wie jetzt. Es geht darum, gemeinsam positive Visionen zu entwickeln und deren Umsetzung vehement zu fordern. Dafür braucht es Vernetzung, Zusammenarbeit und Austausch von Wissen und Erfahrungen von lokal bis international. In der Corona-Krise tun sich die Nationalstaaten als Krisenmanager hervor. Diese Krise lässt sich mittels Abschottung, Medikamenten, Impfungen etc. irgendwann bewältigen. Doch der Klimawandel lässt sich nicht rückgängig machen. Der Bauplan für die Post-Corona-Zeit muss die Abwendung der Klimakrise enthalten.

Die Krise hat auch gezeigt, wie schnell wir uns anpassen können. Nutzen wir diese Lernerfahrung! Der Bauplan für die Post-Coronazeit muss die Abwendung der Klimakrise enthalten. Denn der Klimawandel lässt sich nicht rückgängig machen. Arbeiten im Homeoffice zur Eindämmung des Pendlerverkehrs, Konsum regionaler Produkte zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft, Erkunden der Alpenregionen vor der Haustüre reduzieren nicht nur den Ausstoss von Treibhausgasen, sondern bereichern auch unseren persönlichen Erfahrungsschatz.

Barbara Wülserist Co-Geschäftsführerin und Leiterin Kommunikation von CIPRA Internationalin Schaan, Liechtenstein. Als Journalistin setzte sich die Bündnerin bereits davor intensiv mit Umwelt-und Gesellschaftsfragen auseinander. Die Begleitung von Veränderungs- und Entscheidungsprozessen sowohl auf Mitarbeiter- wie auch auf politischer Ebene gehören in ihrer jetzigen Funktion zu ihren Kernaufgaben.

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert im Newsletter alpMedia der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA.

Digitalität steckt im Kopf, nicht im Chip

Ueli Anken
19.05.2020

Die Tour de Suisse fiel 2020 Corona zum Opfer – stattdessen gab es mit dem ersten digitalen Profi-Radrennen „The Digital Swiss 5“ eine Weltpremiere. Ueli Anken, der Medienchef der Tour de Suisse, beschreibt, wie im zähen Ringen um die Saison Platz für digitale Innovation wurde.


Im April rollte das erste digitale Profi-Radrennen über die Bildschirme. Fünf Tage lang, jeden Tag 57 Fahrer aus 19 Teams, je rund eine Stunde Rennzeit. Im Hinterbau der Rennvelos statt des Rades die smarte Rolle mit ihrer IP-Adresse. Vor dem Fahrer ein Bildschirm, je nach persönlicher Organisation auf dem Balkontisch, einem Notenständer oder der Werkbank in der Garage. Das Schweizer Fernsehen SRF hat „The Digital Swiss 5“ übertragen, mit einem Fahrer live im Studio und 16 weiteren via Webcam zugeschaltet. Sportkanäle auf allen Kontinenten haben die Produktion verbreitet.

Ausgedacht und organisiert hatten das Ganze die Verantwortlichen der Tour de Suisse. Doch der Reihe nach. Am 3. April mussten sie der Welt mitteilen, dass die 84. Landesrundfahrt vom 6. bis 14. Juni nicht stattfinden wird. Der Entscheid fiel am Tag zuvor, nach wochenlangem Ringen und Rechnen. Reale Tränen, nichts mit digitalen Träumen. Deren Stoff war bereits im letzten Sommer zu einem Projekt geworden, bloss einem völlig anderen.

Zusammen mit einem Geek-Team um den Tschechen Petr Samek mit ihrer Plattform Rouvy haben Joko Vogel, Olivier Senn und Mario Klaus damals die kuriose Idee virtueller Tour-Teilstrecken für Hobby-Radler ausgeheckt. Um der Gümmeler-Community schon im Winter den Pässe-Kick in realem Ambiente zu ermöglichen, wurden einige der beliebtesten Schweiss- und Adrenalinquellen mittels Motorradkamera gefilmt: Oberalp, Nufenen, Schallenberg et cetera. Mitte Dezember dann die Medienmitteilung. Statt vor der kahlen Kellerwand fand Trainieren auf der Rolle ab sofort im Aufstieg zur Rheinquelle statt. Die Kuriosität schuf Weihnachten im Veloland.

Dass seit 10. Dezember Wei Guixian als mutmassliche „Patientin Null“ in der Corona-Quarantäne steckte, wusste damals ausserhalb der Stadt Wuhan kein Mensch. Die Sportwelt freute sich auf den Olympiasommer in Tokio und auf die Hockey-WM in der Schweiz. Am 27. Februar hat es den Radsport erwischt: Abbruch der UAE-Tour in Abu Dhabi. In einem Team fuhr das Corona-Virus mit. Am 15. März ging Paris-Nizza „à huis clos“ zu Ende. Seither folgte Absage auf Absage. Optimisten hoffen inzwischen auf eine Tour de France im September, Terminkonflikt mit der Strassen-WM in der Schweiz inklusive. Offen bleibt alles.

Zurück in die Köpfe der Tour-de-Suisse-Macher. Dort wühlten im Zug der erwachenden Krise die Fragen. Was, wenn es auch uns erwischt? Wie das finanzielle Desaster für die eben erst neu geschaffene Tour-Trägerschaft abwenden? Wo die langjährigen Tour-Partner sichtbar machen ohne Tour-Kolonne? In Nöten helfen Taten, und darauf konnte jetzt zurückgegriffen werden. Was die tschechischen Geeks von Rouvy für Hobbyfahrer bereitgestellt haben, wird sich wohl auch für die Profis nutzen lassen. Und mit Velon, der Plattform für Live-Daten und -Bilder aus den Radrennfeldern, pflegt man seit vielen Jahren einen intensiven Austausch.

Ein Team ums andere liess sich auf die Idee eines virtuellen Rennens mit echtem Schweiss und Schmerz auf verlinkten Rollen ein. Mit diesem Paket aus Bildern, Daten, Fahrern und einer innovativen Story für die Coronazeit waren auch die Medienpartner SRF und Blick bald an Bord. Am 26. März, zur Zeit der rundum abgesagten Flandern-Klassiker und mitten im Ringen um ein mögliches Aus für die Tour de Suisse, wurde die Weltpremiere angekündigt.

Der Rest ist nun Geschichte. Hier ein Rückblick. Und, aus der Flut von Komplimenten zu schliessen, wohl auch Teil einer neu zu gestaltenden Zukunft. Weit über Corona hinaus.

Was uns die Genesis von „The Digital Swiss 5“ lehrt? Wenn digitale Mittel im Raum der Möglichkeiten auftauchen, ist es zu spät, darüber nachzudenken. Digitalität beginnt dort, wo Menschen dem Vertrauten miss- und sich Kurioses zutrauen. Sie erfordert eine Kultur des Neu-, Quer- und Vorwärtsdenkens. Sie steckt im Kopf, nicht im Chip.

Ueli Anken, Jahrgang 1961, ist eidg. dipl. PR-Berater und arbeitete als Kommunikationsberater und -leiter in der Privatwirtschaft, in öffentlichen Institutionen, bei einem Hilfswerk und immer wieder im Sportwesen. Hauptberuflich ist er seit 2012 im Schweizer Bildungssystem tätig, heute als stellvertretender Direktor der Fachagentur educa.ch.Seit 2018 ist er zudem Medienchef der Tour de Suisse.

Nach Corona: eine neue Normalität?

Manuel Flury
18.05.2020

Angesichts der schrittweisen Öffnung macht sich Manuel Flury, ehemaliger Mitarbeiter der DEZA-Direktion, Gedanken zur Zeit nach Corona. Er hofft auf Systementwicklungen, die die Existenz von lokalen Betrieben sichern und fördern, indem diese stärker vernetzt werden.


Bereits im Vorfeld der ersten Lockerungen des Coronaregimes mehrten sich in der Öffentlichkeit die Überlegungen zu dem, wie das Leben nach der Pandemie aussehen wird. Viele sprechen von einer „neuen Normalität“; davon, dass sich das Leben nach den Krisenmonaten anders gestalten wird. Werden wir weiterhin mehr Zeit für Kinder, Familie und Nachbarn einsetzen, intensiver über die digitalen Medien kommunizieren, die nahen Wälder durchstreifen und bewusster konsumieren? Einige skizzieren eine weniger globalisierte Welt, eine Rückkehr zur lokalen Produktion mit weniger ökologisch fragwürdigem weltweitem Handel und ohne Flugreisen in ferne Länder. Andere wiederum sehen, im Gegenteil, einen gestärkten internationalen Austausch voraus, ein weiteres Zusammenwachsen der Länder und Gesellschaften, in der Überzeugung, dass nur dies die Lösung der gemeinsamen Probleme ermöglichen würde.

Etwas ist allen diesen Überlegungen gemeinsam: die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen darf nicht primär Gewinne für die börsengetriebene (Finanz-)Wirtschaft abwerfen, sondern muss für alle gesichert sein. Es geht nicht nur um lebenssichernde Medikamente und Hygienemasken. Was nützen globale Wertschöpfungsketten, wenn sie gleichzeitig regionale und lokale Kreisläufe zerstören? Amazon liefert uns fast jedes Buch in wenigen Tagen zu Tiefstpreisen von weit her frei Haus, oder via Kindle-App direkt aufs Handy. Derweil bleiben den lokalen Buchhandlungen kaum genügende Margen auf Büchern, die sie teuer zu beschaffen haben. Wir haben uns an Erdbeeren aus Marokko und Spargeln aus Peru oder Mexiko gewöhnt, die uns die Grossverteiler früh im Jahr servieren. Die Bauern und Bäuerinnen im Seeland haben das Nachsehen. Die lokalen Getreidemärkte in Westafrika werden von subventioniertem Reis und Weizen aus Ostasien, den USA und Europa gelähmt. In Dakar, der Hauptstadt von Senegal, werden alle Baguettes mit EU-Weizen gebacken. Die Tomaten auf dem Markt in Accra, der Hauptstadt von Ghana, stammen nicht mehr aus den umliegenden Gemüsegärten, sondern aus grossen südeuropäischen Betrieben, selbstverständlich ebenfalls subventioniert.

Wir wissen, dass eine globale Versorgung mit Grundnahrungsmitteln keine sichere ist. Es sind die über 500 Millionen Klein- und Familienbetriebe weltweit, welche fast drei Viertel der Ernährung sichern, lokal und regional produziert und vermarktet. Wir wissen aber auch, dass es, um diese Versorgung zu sichern, nationale oder gar globale Regeln und – subsidiär – Wertschöpfungsketten braucht, damit die Kleinbauern beispielsweise Zugang zu gutem Saatgut erhalten oder dass nachhaltig produzierte und qualitativ gute Nahrungsmittel im Handel bevorzugt werden können. Ebenso ist uns klar, dass weltumspannende Aufgaben wie die Verringerung des CO2-Ausstosses oder eben die Bewältigung einer Pandemie ein weltweit gemeinsames Vorgehen verlangen.

Subsidiarität ist das Zauberwort und Merkmal einer eingespielten politischen Organisation. Die Subsidiarität macht den Erfolg des Föderalismus in der Schweiz aus. Das was im Kleinen, in der Gemeinde nicht vorgekehrt werden kann, soll auf nächst höherer Ebene des Kantons, des Bundes oder allenfalls benachbarter Regionen der Nachbarstaaten geregelt werden. Subsidiarität bedeutet, dass sich beispielsweise Gemeinden zu Schul- oder Abfallbewirtschaftungsverbänden zusammenschliessen, dass Berufsbildungsinstitutionen interkantonal betrieben werden oder dass der öffentliche Verkehr überregional, über die Landesgrenzen hinaus, organisiert wird.

Es ist zu hoffen, dass in der „neuen Normalität“ die Politik den Staat so um-organisiert, dass die Versorgung aller Menschen mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen im Vordergrund stehen. Die Subsidiarität gibt das Organisationsprinzip vor. Die Schweiz verfügt über die nötige Erfahrung!

Manuel Fluryist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Naturinspirierte Resilienz – Chancen durch die Covid-Krise

Alain Schilli
14.05.2020

In der Corona-Zeit fordert der Unternehmer Alain Schilli zum Innehalten auf. Die Wirtschaft sowie unser Sozialleben stehen still, dabei scheint unser Wohlstand bedroht. Auf dem Weg zu einer resilienten Wirtschaft hilft laut Schilli die Wertschöpfung aus natürlichen Systemen.


Lieferkette, Wertschöpfungskette, Infektionskette, Kettenreaktion, Kettenriss – Stillstand. Dies ist die Entwicklung der globalen Wirtschaft der letzten Monate im Telegrammstil. Nutzen wir diesen Stillstand zum Innehalten.

Ein Virus, ein Ding zwischen Lebewesen und reiner Materie, wirkt wie ein Herkules. Aus den Kettenreaktionen der Regierungen ist zu schliessen, dass er machtgefüllt ist. Der Virus scheint unseren Fortschritt zu bedrohen und das komplexe, globale Verbindungsgeflecht mit all unseren wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften zu sprengen. Aber die Akteure sind wir, nicht der Virus. Viren sind Teil unseres Lebens, Teil der Lösung für evolutiven Fortschritt. Zugegeben, diese Virusform ist aggressiver als andere und für all die Menschen und Unternehmen, die mit den Notfallplänen wirtschaftlich und sozial taumeln, klingt das Innehalten vermessen.

Um das Chancenpotenzial im Innehalten zu sehen, müssen wir uns gedanklich von Einzelschicksalsschlägen loslösen. Wir müssen diese Krise so bewältigen, dass wir eine gestärkte Gesellschaft und Völkergemeinschaft erhalten und eine resiliente Wirtschaft als Grundlage für den Wohlstand für uns und jedes andere Individuum schaffen. Denn unser Wohlstand beruht auf der Wertschöpfung aus den natürlichen Systemen wie beispielsweise Biodiversität für medizinische Wirkstoffe und genetische Vielfalt, natürlicher Bodenproduktivität für unsere Nahrungsmittel, Wasserqualität oder einem stabilen Klima. Diese natürlichen Systeme sind über Millionen von Jahren entstanden und haben eine Vielfalt von Geschäftsmodellen hervorgebracht. Treiber waren und sind universelle, physikalische Gesetzmässigkeiten (Energie, Thermodynamik), Stoffkreisläufe (Wiederverwendbarkeit, Knappheit) oder Biodiversität (Mutationen, genetische Reserven). Resilienz bildete sich als erprobtes Merkmal aus diesem Realitätscheck heraus. Resilienz kommt vom Lateinischen resilire (zurückspringen, abprallen). Unternehmer und Politiker können sich vom diesen Merkmalen der Resilienz, abgeleitet aus den naturbasierten Geschäftsmodellen, inspirieren lassen.

Die disruptiven Massnahmen der Regierungen wegen Covid-19 sind Ursache fehlender Widerstandskraft unseres Wirtschafts- und konkret des Gesundheitssystems. Eine Business Continuity wird es nicht geben angesichts der global vernetzten Risikolandschaft (siehe WEF und Stockholm Resisilience Center). Kettenrisse gab es bereits vor Covid-19. Darauf haben Wissenschaftler seit Jahren hingewiesen, insbesondere auch im Kontext der Demographie und des Bevölkerungswachstums.

Innehalten heisst: Chance und Raum geben für die gesellschaftliche Auseinandersetzung und das kritische Hinterfragen als Unternehmer, Bürger und Politiker. Global Business Recovery wird viele Länder hoch einstellige BSP-Prozentpunkte kosten. Investitionen in die Zukunft – risikobasiert.

Es erfordert dabei, sich persönlich wie als Regierung unter anderem folgende Fragen zu stellen:

  • Waren die Massnahmen und die damit verbundenen Kosten gegenüber dem Nutzen gerechtfertigt?
  • Wie viel Sicherheit im Leben gibt es und wieviel wollen wir uns das kosten lassen?
  • Wie nutzen wir die gigantischen Finanzstützungsprogramme, um nicht nur Schuldenberge zu häufen, sondern auch Investitionen für eine zukunftsorientierte Transformation herbeizuführen – wie zum Beispiel Investitionen in die Dekarbonisierung, um bereits auflaufenden Kostenfolgen für Wassermangel, Verwüstung und weitere Krankheiten als Folge des Klimawandels zu verhindern und zu mildern?

Eine Welt ohne und immun gegen das Covid-Virus schafft alleine keine Resilienz.

Alain Schilli, MSc MB, wirkt als Unternehmer, Mentor von Start Ups und Unternehmensentwickler im Bereich erneuerbare Energie und Kreislaufwirtschaft. Er hat 2010 die Initiative SHIFT Zurich– Naturbasierte Innovation und Finanzierung –mitgegründet. Er ist Inhaber von Magnefico GmbHund Senior Berater bei Swisspower AG.

Wie viel kostet Ihr Vertrauen?

Gregory Arzumanian
13.05.2020

Vertrauen gehört zu uns seit unserer Geburt. Wir verlieren es jedoch, wenn Vertrauen zur Ware wird, sagt Unternehmer Gregory Arzumanian. Dabei sei es mithilfe der Blockchain-Technologie möglich, Daten selbst zu prüfen und unabhängige Entscheidungen zu treffen.


Vielleicht halten Sie dies für eine rhetorische Frage oder Sie sind so naiv und glauben, dass Ihr Vertrauen nicht käuflich ist. Ich würde gerne daran glauben, aber: Wir leben in einer Welt, in der unser Vertrauen eine Ware ist. Was ist der Preis, wer setzt ihn fest und wie?

Der Preis hängt von der Nachfrage ab. Mit anderen Worten, wie sehr die Käufer Ihres Vertrauens an Ihnen interessiert sind? Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen modischen Duft, Bio-Produkte oder eine Stimme für einen Politiker handelt.

Die Vertrauenskäufer wenden sich an zahlreiche Beratungsagenturen, die auf der Grundlage von Forschungen in Neuromarketing, Verhaltenspsychologie, Sozialanalyse und vielen anderen Faktoren die Kosten ermitteln; und dann zeigen sie mit Hilfe von SEO-Optimierung, sogenannten Influencern und Werbung Websites, Bilder und manchmal auch endgültige Ideen auf – damit Sie glauben, dass dies genau das ist, was Sie gesucht haben.

Aber ich bin sicher, dass dies im Allgemeinen nicht das ist, wonach wir alle gesucht haben. Indem wir Vertrauen zu einer Ware gemacht haben, haben wir das Wichtigste verloren – Vertrauen. Die aktuelle Krise zeigt das deutlich. Und es ist bereits offensichtlich, dass nicht nur Vertrauen, sondern auch all die schönen Appelle und Slogans über Gleichheit, Brüderlichkeit und Mitgefühl, die es in allen möglichen Medien gibt, eine Ware sind, die uns jemand verkaufen will. Warum denke ich das? Weil ich kein Vertrauen in sie habe!

Fragen Sie, was zu tun ist? Die Antwort ist einfach: Es ist höchste Zeit, zu den wahren Werten zurückzukehren.

Ich möchte nicht, dass mein Vertrauen gekauft, sondern vielmehr verdient wird. Genauso wenig möchte ich Freunde, Kunden oder Partner kaufen.

Etwas, das einen Preis hat, kann immer zu einem höheren Preis gekauft werden. Was durch ehrliche Arbeit verdient wird, gehört von Rechts wegen Ihnen. Und das kann nicht weggenommen werden.

Stimmt, das klingt ein bisschen idealistisch. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die modernen digitalen Technologien es uns ermöglichen, ein System mit einem echten Vertrauenswert zu schaffen. Wir haben dazu beigetragen und die FCE-Plattform ins Leben gerufen. Dies ist ein globales Ökosystem, das auf den Prinzipien der digitalen Transparenz auf der Grundlage von Blockchain und IoT aufgebaut ist. Teilnehmer sind alle Firmen, Unternehmen und soziale Einrichtungen, die die Prinzipien der Transparenz, des Vertrauens und der Zusammenarbeit teilen.

Sie sind herzlich eingeladen, sich uns anzuschliessen: https://iot.fcegroup.ch/

Gregory Arzumanianist Gründer und CEO der auf Blockchain-Anwendungen spezialisierten FCE Group AG mit Sitz in Root LU. Er ist Vater von drei Kindern. Seine Themen sind innovative Technologien, nachhaltige Entwicklung und der Blick über konventionelles Wissen hinweg.

Dieser Beitrag wurde auf Englisch verfasst und auf Deutsch übersetzt.

Medizin gegen das grosse Geraune

Michael Lünstroth
12.05.2020

Verschwörungstheorien und Falschmeldungen haben in der Krise Hochkonjuktur. Um dem Geraune beizukommen, rät Michael Lünstroth zu Faktenchecks. Als Redaktionsleiter von thurgaukultur.ch ist er der Meinung, die Gesellschaft könne einiges vom Journalismus lernen.


Neulich erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht von einem guten Freund. Darin verlinkte er ein YouTube-Video und schrieb dazu: „Hier mal ein interessanter Ansatz zu Corona“. Das Video entpuppte sich als gefährliche Mischung aus Halbwissen, scheinbar richtigen Fragen und kruden Theorien einer Weltverschwörung, die am Ende darauf hinauslief, dass Bill Gates hinter der Verbreitung des Virus stecken könnte. Ich war entsetzt. Bislang war niemand in meinem Freundeskreis für derlei toxischen Verschwörungsmist anfällig. Die Corona-Krise scheint auch das zu ändern.

Dabei gibt es relativ einfache Methoden, um berechtigte Fragen zur Corona-Politik von fiesen Verschwörungstheorien zu unterscheiden.

1. Checken Sie die Website!

Grundsätzlich gilt: Je reisserischer eine Quelle ist, desto vorsichtiger sollte man sein. Es gibt ein paar technische Hilfsmittel, mit denen man die Seriosität einer Internetseite besser einschätzen kann. Zu prüfen, ob die Seite ein Impressum hat, ist ein erster Schritt. Das ist Pflicht in fast allen Ländern. Fehlt dies, ist erste Vorsicht geboten. Es gibt auch Seiten wie www.nic.ch/ (Schweiz) oder www.denic.de/ (Deutschland), mit denen man unkompliziert die Betreiber einer Seite herausfinden kann. Damit lässt sich dann weiter über die Hintergründe des Betreibers recherchieren.

2. Benutzen andere diese Quellen?

Um sich vor Fakes zu schützen, sollte man das 2-Quellen-Prinzip verwenden. Das heisst, einer Information erst dann zu vertrauen, wenn sie von mindestens zwei unterschiedlichen Quellen verwendet wird. Das heisst dann noch immer nicht, dass es zwingend wahr sein muss, aber die Wahrscheinlichkeit dafür steigt. Zur Einschätzung der Quelle kann es auch helfen sie mit einer Suchmaschine zu durchleuchten. So bekommt man relativ schnell heraus, in welchen Kontexten diese Quelle bislang benutzt wird.

3. Wahres und Falsches in den Sozialen Medien

Vor allem in den Sozialen Medien spriessen die wildesten Verschwörungstheorien wie Pilze im September. Hier die Übersicht zu behalten, ist fast unmöglich. Es gibt allerdings ein paar Werkzeuge, die helfen können, den Interessen einer Quelle auf die Spur zu kommen.

So hat zum Beispiel die Indiana University einen so genannten Botometer entwickelt: Mit Hilfe dieses Tools kann man analysieren, wie aktiv ein Account ist und wie wahrscheinlich es ist, dass es ein Social Bot ist, der Falschinformationen verbreitet.

Twitter-Accounts kann man auch mit zwei weiteren Werkzeugen prüfen: followerwonk.com und accountanalysis.app. Hier erkennt man relativ schnell, welche Accounts miteinander interagieren. Die Filterbubbles und Ausrichtungen von Accounts lassen sich so besser einschätzen.

Immerhin nehmen die Plattformbetreiber das Thema sehr ernst. „Sie scheinen auch deutlich bereiter zu sein, aktiv einzugreifen, als sie es im Fall politischer Des- oder Falschinformation in Wahlkämpfen typischerweise sind“, sagt der Konstanzer Medienforscher Andreas Jungherr. Trotzdem sollte man sich nicht nur auf Quellen aus den Sozialen Medien verlassen. Das sollte man übrigens auch in normalen Zeiten nie, in Krisenzeiten aber erst recht nicht. Jungherr von Universität Konstanz sagt: „Man ist inzwischen besser bedient, sich auf die Berichterstattung etablierter Medien zu verlassen.“

4. Skepsis first: Zum Umgang mit Fotos und Videos

Bilder und Videos spielen im Umgang mit Fakes rund um die Corona-Pandemie auch eine Rolle. Da ist es hilfreich, ein paar grundlegende Techniken zum Seriositäts-Check von Quellen zu beherrschen. Wesentliche Fragen, die man sich hier immer stellen sollte, sind: Skepsis first: Kann das sein? Sehe ich das Originalfoto? Wer hat das Foto aufgenommen? Wo wurde das Foto aufgenommen? Wann wurde das Foto aufgenommen? Warum wurde das Foto aufgenommen?

Davon ausgehend, kann man weiter recherchieren und die Glaubwürdigkeit von Quellen prüfen. Hilfreich sind dabei vor allem zwei Tools:

Erstens: Die umgekehrte Bildersuche in Suchmaschinen wie Google oder Yandex. Sie beantwortet die Frage, ob das Bild schon früher und in anderen Kontexten verwendet wurde. Zweitens: Für die Browser Chrome und Firefox gibt es ein Zusatzprogramm, ein so genanntes PlugIn, mit dem man seinen Browser aufrüsten kann. Er heisst „RevEye Reverse Image Search“ und schickt ein zu überprüfendes Bild mit einem Klick an mehrere Suchmaschinen. Bei Videos empfiehlt sich das EU-Projekt „We verify“ oder der YouTube Data Viewer von Amnesty International.

5. Nutzen Sie seriöse Quellen!

Eine detaillierte Prüfung von Nachrichten kann aufwändig werden. Je professioneller die Fakes sind, umso schwieriger gelingt die Entlarvung. Wem das zu viel Arbeit ist, bleibt nur ein Rat: Vertraut nur seriösen Quellen. Viele Experten wie Christian Drosten, Virologe der Charité Berlin, haben inzwischen eigene Podcasts und Twitter-Accounts, über die sie informieren. Daneben haben aber auch zahlreiche Medien eigene gute Angebote. Die Republik zum Beispiel erstellt von Montag bis Freitag einen täglichen und sehr informativen Covid19-Newsletter. Auch die Wochenzeitung und andere Schweizer Medien betreiben engagierte Berichterstattung rund um das Coronavirus.

Regelmässige Faktenchecks zur aktuellen Nachrichtenlage liefern auch diese Seiten: Snopes (für Meldungen aus den USA und international), Mimikama aus Österreich für europäische Nachrichten (gerade aktuell zu Fakes rund um das Coronavirus) und das gemeinnützige Journalistenbüro Correctiv.

Übrigens: Das Video, das mir mein Freund weiter geleitet hatte, entstammte aus identitären bis rechtsextremen Kreisen. Aus dieser Richtung gibt es gerade zahlreiche Versuche, unsere Gesellschaft zu destabilisieren und Misstrauen zu säen. Die Rechten versuchen, die sich oft täglich ändernde Nachrichtenlage als Wankelmütigkeit und Unfähigkeit der Politik zu framen und zu verkaufen. Dabei sind diese Meinungsumschwünge oft nur neuen Erkenntnissen der Wissenschaft geschuldet. Das ist Fortschritt, nicht Inkompetenz.

Nochmal: Es ist richtig, Dinge in Frage zu stellen. Auch jetzt. Vielleicht gerade jetzt. Aber wie genau gefährliche Verschwörungstheorien jetzt weiterhelfen, hat noch keiner so richtig beantwortet.

Bitte: Keine Reichweite für Volldeppen!

Überlegen Sie gut, was Sie in den Sozialen Medien teilen und weiterverbreiten. Checken Sie die Quellen! Und wenn Sie das nicht können oder wollen: Teilen Sie nur Inhalte von seriösen Quellen. Wir sind alle verantwortlich für die Gesellschaft, in der wir leben. Und dafür, welche Nachrichten Aufmerksamkeit bekommen und welche nicht.

Deshalb lassen Sie uns doch auf folgende Formel einigen: Keine Reichweite für verschwörungstheoretischen Unfug, keine Reichweite für Volldeppen! Damit sollten wir zumindest nachrichtentechnisch gut durch diese Krise kommen.

Michael Lünstroth (42) ist Redaktionsleiter beim Kulturportal thurgaukultur.ch, freier Autor für verschiedene Medien und Lehrbeauftragter an der Universität Konstanz. Sein letztes Seminar trug den passenden Titel: „Fakten statt Fake News: Wie Journalisten wirklich arbeiten (sollten)“.

Der Text ist zuerst im Kulturportal thurgaukultur.ch erschienen.

Kultur ist nicht zweckfrei

Gabriela Chicherio
11.05.2020

Kulturförderung ist aktive Standortförderung, so die These von Gabriela Chicherio. Dabei fordert die Co-Kuratorin der Design Biennale Zürich, Design in die Kulturförderung miteinzubeziehen – einzig am Inhalt liesse sich Kunst von Kommerz unterscheiden.


Gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig Kultur ist. Gemäss Definition ist Kunst, was in kreativer, zweckfreier Gestaltungskraft entsteht. Damit bin ich nicht einverstanden: Nur schlechte, unbedeutende Kunst ist zweckfrei. Gute Kunst ist verbindend, berührend und inspirierend – und das gilt für alle Sparten.

Die Lücke ist gross, wenn die gewohnten Angebote fehlen, aber es beeindruckt auch der Improvisationsgeist: das Wohnzimmerkonzert über Youtube, der Zusammenschluss in einer digitalen Plattform von lokalen Modelabels oder die aktuellen Kinofilme per Stream.

Wir brauchen Kultur. „Künste bringen neue Sicht- und Denkweisen ins Spiel und eröffnen uns ungewohnte Perspektiven auf unseren Alltag“, heisst es im Leitbild der Kulturförderung des Kanton Zürich.

Kultur ist nicht nur als Nahrung für Geist und Seele wichtig, sondern auch wichtiger Faktor für die Standortattraktivität. Ergo ist Kulturförderung zwangsläufig auch Standortförderung. Nun ist es in Stadt und Kanton Zürich so, dass Design von der Kulturförderung kategorisch ausgeschlossen wird.

Design ist also nicht Kultur. Wieso? Weil diese Sparten „finanziell etabliert“ seien. Und weil es schon immer so war.

Aber gerade jetzt zeigt sich, wie fragil diese „finanzielle Etablierung“ von Designschaffenden ist. Bei den Corona-Hilfspaketen wurde glücklicherweise die harte Realität aller Kreativschaffenden erkannt. Nicht nur KünstlerInnen kommen in normalen Zeiten kaum über die Runden, sondern auch DesignerInnen. Die Ausnahme bestätigt wie immer die Regel: Auch in herkömmlichen, geförderten Kultursparten lässt sich Geld verdienen.

Ich plädiere nicht dafür, die Produktentwicklung einer Bohrmaschine zu fördern, genau so wie niemand auf die Idee käme, dies bei einen Werbefilm oder Fachartikel zu tun. Mein Anliegen ist, dass Design endlich als Kultursparte anerkannt wird!

Nicht das Medium macht den Unterschied zwischen Kunst und Kommerz, sondern der Inhalt – egal welches Spartenetikett am Projekt klebt.

Gabriela Chicherio ist Produktdesignerin mit den Schwerpunkten Konzepte, Ausstellungen, Möbel und Accessoires. Sie entwickelt Produkte für nationale und internationale Hersteller, arbeitet als Freelancerin und ist Mitgründerin sowie Co-Kuratorin der Design Biennale Zürich. Sie handelt nach der Überzeugung: „Design funktioniert immer als Vermittler: zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Kultur und Wirtschaft, zwischen Mensch und Produkt, zwischen Form und Funktion.“

Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten – „too important to fail“

Manuel Flury
08.05.2020

Die Bereitstellung gewisser Medikamente sollte laut Manuel Flury Teil der Versorgungssicherheit werden – als Lehre aus der Corona-Krise. Der ehemalige Mitarbeiter der DEZA-Direktion will somit den Staat stärker in die Verantwortung nehmen.


Wir sind uns bewusst, ein grosser Teil der Grundstoffe, welche die Pharmaindustrie benötigt, werden nicht (mehr) in der Schweiz, sondern in China hergestellt. Dies betrifft beispielsweise die Antibiotikaproduktion. Auch Indien, der weltweit grösste Produzent von Generikamedikamenten und wichtiger Lieferant für die Schweiz, ist auf derartige Grundstoffe angewiesen. Die Pharmaindustrie der Schweiz ist offenbar aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage oder nicht interessiert, weiterhin in die Antibiotikaforschung zu investieren. Die Versorgungssicherheit der Schweiz mit Medikamenten ist im Zuge der Corona-Krise Thema im Parlament geworden. Hat der Staat geschlafen?

Gesicherte öffentliche Dienstleistungen sind für den Wohlstand der Schweiz „matchentscheidend“. Der öffentliche Verkehr wird bis in die hintersten Bergtäler mit öffentlichen Mitteln garantiert. Um die Grundversorgung mit Internet zu gewährleisten, verlangt der Bund von den Providern, die vom Bund eine Konzession erhalten wollen, eine minimale Datenübertragungsrate. Neun Pflichtschuljahre werden von der öffentlichen Hand finanziert, Privatschulen haben sich an die öffentlichen Lehrpläne zu halten.

Warum leistet es sich unser Land, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten „aus der Hand“ zu geben? Müsste der Bund nicht Konzessionen für die Herstellung „systemrelevanter“ Produkte wie Antibiotika oder Schmerzmittel vergeben? Warum ist es den Pharmaunternehmungen erlaubt, Medikamente zur Therapie von Krebserkrankungen beispielsweise ausschliesslich gewinnorientiert auf den Markt – und in die Kassen – zu bringen? Warum ist die öffentliche Hand nicht in der Lage, ordnend und gestaltend in diese Märkte einzugreifen, wenn die Unternehmungen offenbar nicht in der Lage sind, die öffentliche Gesundheit mehr zu gewichten, als Dividenden auszuschütten?

Mit „too big to fail“ rettet der Bund grosse Firmen und Banken. „Too important to fail“ müsste man auch bei der Herstellung von lebenssichernden Medikamenten sagen. Konzessionierte kleine und mittlere Pharmaunternehmen sichern die Versorgung von lebenswichtigen Medikamenten respektive Grundstoffen als Eckpfeiler einer schweizerischen Kreislaufwirtschaft – so die Vision.

Es ist Zeit, vielleicht angeregt von der aktuellen Corona-Krise, die Frage zu klären, was die Märkte und die Privatwirtschaft zur Versorgungssicherheit der Bevölkerung in der Lage sind zu tun oder eben nicht. Die Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und dem Staat zur Versorgung von Basisversorgung in verschiedensten Bereichen muss neu geregelt werden. Der Staat – und das sind wir alle – ist gefordert.

Manuel Flury ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz

Slow Fashion, aber schnell!

Sandra Elmer
07.05.2020

Die Modeindustrie braucht laut der Ökonomin Sandra Elmer mehr Nachhaltigkeit. Die Masse sei immer noch Instantmode, hergestellt unter katastrophalen Bedingungen. Sie fordert Infrastrukturen, die einen Trend hin zu regionaler Kleiderproduktion ermöglichen.


Manchmal begleite ich meine 14-jährige Tochter und wir gehen gemeinsamen auf einen Streifzug durch die Billigketten der Modeindustrie. Sie sind nicht nur bei Teenagern beliebt, weil sich hier trendige Kleider zu unglaublich tiefen Preisen erstehen lassen. Frauen wie ich – bereits über der Lebensmitte – und nicht wenige Männer zieht es ebenfalls ruhelos von Kleiderstange zu Kleiderstange. Es liegt eine Art Erregung in der Luft. Für weniger als zweihundert Franken kann man sich völlig neu eindecken, sich einen neuen Anstrich verleihen. Die Kollektionen wechseln laufend, der Ladenbesuch lohnt sich immer wieder, auch nach kurzer Zeit. Jedes Mal aufs Neue erlebt man den kurzen Augenblick der Befriedung, wenn man an der Kasse steht. Ein Gefühl, das meist nicht lange anhält, auf Wiederholung drängt. Kein Wunder lehnt sich der Begriff Fast Fashion an jenen von Fast Food an.

Dabei wissen wir es längst. Das Geschäftsmodell der Modeindustrie lebt von der Verschwendung und Ausbeutung. Es ist darauf ausgerichtet, das Bedürfnis nach immer neuen Kleidern anzuheizen. Etwa die Hälfte der gekauften Kleider wird nicht oder kaum getragen. Unsere Instantmode wird unter katastrophalen Bedingungen zumeist in Schwellenländern hergestellt.

In der Ernährung gibt es seit längerem einen Trend in Richtung gesund, nachhaltig, regional. Die Bewegung hat sich von der „Öko-Nische“ emanzipiert und gehört zu einem modernen, urbanen Lebensstil. Bei der Mode ist dieser Schritt noch nicht vollzogen. Dabei wäre es an der Zeit. Es gibt kaum trendige Kleidung oder Marken, die im Büro getragen werden können, jedoch regional oder unter fairen Bedingungen produziert wurden.

Angesichts der Ernährungstrends muss es eine grössere Kundschaft geben, die einen Gegentrend setzt, bewusster Mode einkaufen möchte, auch zu höheren Preisen. Weg von der Instantbefriedung beim Kauf, hin zu einem anhaltend guten Gefühl, ein langlebiges, die Persönlichkeit unterstreichendes Kleidungsstück gewählt zu haben. Was wir jetzt brauchen, ist eine Rückbesinnung auf eine regionale Kleiderproduktion, die verschiedene modische Richtungen abdeckt und grösstmögliche Transparenz bei den Herstellungsbedingungen zulässt. Es braucht Vorbilder, vom Instagram-Influencer bis zum Hollywood-Star und eine zentrale Plattform, auf der diese Marken beworben und verkauft werden können, dazu griffige Labels und Transparenzvorschriften, die den Konsumentinnen nachhaltige Kaufentscheide ermöglichen.

Sandra Elmerist Geografin und Ökonomin, Kadermitarbeiterin bei einem Grosskonzern und Mutter zweier Teenager. Sie beschäftigt sich mit Fragen zu Gleichstellung und nachhaltiger Wertschöpfung. Der Erhalt einer offenen Gesellschaft ist ihr ein besonderes Anliegen.

Noch mehr geht nicht mehr

Gabriel Rosenthal
06.05.2020

Die Wirtschaft sollte an die Gesetze der Natur angepasst werden – andersherum führe es in eine Katastrophe, so der freischaffende Produzent Gabriel Rosenthal. Als Vertreter der Generation Z kritisiert er, dass wider besseres Wissen am Prinzip des Wirtschaftswachstums festgehalten wird.


Ich erinnere mich immer noch, wie ich als kleines Kind im Zoo Zürich wie angewurzelt vor einer roten LED-Anzeige stehen blieb. „Anzahl verbliebene Löwen auf dem Planeten“, stand daneben geschrieben. Die stets herunterzählende Zahl hat mich schockiert und bis heute geprägt, doch die Erwachsenen um mich herum schien sie nicht zu beeindrucken. Seither sind viele Jahre vergangen und die LED-Anzeige hat die ganze Zeit rückwärts gezählt. Währenddessen bin ich erwachsen geworden und musste viele weitere Warnsignale aus der Natur wahrnehmen.

Es ist uns schon lange bewusst, dass wir in eine Sackgasse rennen. Es ist uns bewusst, dass die Ressourcen unseres Planeten beschränkt sind und wir damit aufhören sollten, wilde Lebensräume zu zerstören. Doch wieso spricht man in der Wirtschaft noch immer vom Wirtschaftswachstum als Heiliger Gral, den alle anstreben sollten?

Ein konstantes Wirtschaftswachstum verlangt eine exponenzielle Steigerung des Wirtschaftsvolumens, welches eine grössere Ausbeutung von Ressourcen erfordert und wilde Lebensräume verdrängt. Das Wirtschaftswachstum ist die Sackgasse! Noch mehr geht nicht mehr.

Stattdessen sollten wir unsere Wirtschaft überholen und sie an die Gesetze der Natur anpassen. Statt in exponenziellem Wachstum sollten wir in Kreisläufen und Zyklen denken. Mir ist bewusst, dass dies grosse Anstrengungen, Umstrukturierungen und Verzicht bedeuten wird. Doch langfristig gedacht stehen uns sowieso nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder wir lernen zu verzichten, oder wir fahren die Menschheit mit exponenziell wachsendem Tempo an die Wand.

Gabriel Rosenthal, 23 Jahre alt, ist in Winterthur freischaffender Produzent von audiovisuellen Inhalten. Seine Ausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) hat er im Sommer 2019 abgeschlossen. Unter anderem hat er sich zur Aufgabe gemacht, im Austausch mit unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Kulturen die Welt aus anderen Perspektiven kennenzulernen.

Jetzt wandelt sich auch die Baubranche

Emmanuel Gilgen
05.05.2020

Endlich sei auch digitales Umdenken in der Baubranche angesagt, so die Meinung von Emmanuel Gilgen. Der Gründer der Initiative building360 beleuchtet, welche Transformation durch die Corona-Krise in der Branche angestossen wird.


Die Baubranche blieb verschont, während die Musik-Branche, der Detailhandel oder die Taxi-Industrie in den vergangenen Jahren einen starken Wandel erlebten. Die Globalisierung, die Digitalisierung und nicht zuletzt auch Krisen wie das Platzen der „Dotcom-Blase“ 2000 oder die Finanzkrise ab 2007 haben Geschäftsmodelle infrage gestellt, oder sie wurden durch neue abgelöst.

Zwar wurden in der Bau- und Planungsbranche digitale Methoden eingeführt und auch BIM – Building Information Modeling – ist immer präsenter. Objektiv betrachtet, hat sich am bekannten Geschäftsmodell allerdings kaum etwas verändert. Die stark hierarchischen und fragmentierten, tayloristischen Strukturen blieben bestehen.

Diese Strukturen gehen auf Frederick Taylor (1856-1915) zurück. Seine Idee war die konsequente Trennung des Denkens, was den Managern vorbehalten war, vom Handeln der Arbeiterschaft. Die Bau- und Planungsbranche hat ähnliche Strukturen und die Trennung zwischen Planern und Unternehmern ist weiterhin Realität.

Die Covid-19-Krise hat Millionen von ArbeitnehmerInnen ins Homeoffice verbannt. Diesmal war und ist auch die Bau- und Planungsbranche direkt betroffen. Die Branche war gezwungen, digital umzudenken. Hierarchische Kontrollen über physische Präsenz waren nur teilweise möglich. Durch Videokonferenzen veränderte sich auch die Zusammenarbeit: Das gegenseitige Vertrauen steigt und wir begegnen uns vermehrt auf Augenhöhe.

Ist Corona der Auslöser für einen Branchenwandel? Wie verändern sich Lebens- und Arbeitsformen und welchen Einfluss hat das auf die Bau- und Planungsbranche? Welche Erfahrungen machen andere oder welche Lehren ziehen sie für ihre Zukunft?

Solche Fragen werden im neu lancierten Bau-Branchen-Netzwerk building360.net aufgegriffen und diskutiert. Das Netzwerk mit seinen Mitgliedern nutzt zum Austausch ein digitales Whiteboard und einen WhatsApp-Kanal. Kurze Videos von Opinion Leadern greifen Themen auf und Ideen werden zukunftsgerichtet weiterentwickelt.

Werden Sie Teil dieser Bau-Branchen-Community, die gestärkt und zuversichtlich aus der Krise hervorgehen will.

Emmanuel Gilgen, Jahrgang 1988, ist Co-Gründer der digitalen Community-Plattform building360.net, die sich mit Entwicklungschancen der Bau- und Planungsbranche beschäftigt. Der ursprüngliche Hochbauzeichner besitzt Abschlüsse als Techniker HF und einen Master of Advanced Studies in Baumanagement. Viele Jahre arbeitete er als Projektleiter im Bereich Architektur und Baumanagement und beschäftigte sich als Prozess-, Qualitäts- und Wissensmanager zuletzt stark mit Aspekten der Organisationsentwicklung und Kulturtransformation.

Meine Daten zu meinen Bedingungen

Christian Häuselmann
05.05.2020

Die Digitalisierung nimmt in der Corona-Krise eine Entwicklung, die die Grundpfeiler der Demokratie untergräbt – so die These von Entrepreneur Christian Häuselmann. Dabei fordert er dringlich eine neue Debatte und innovative Lösungen zum Datenschutz.


Die selbstkritische Analyse ist: Wir sind naiv im Umgang mit Daten. Sehr naiv. Einfach bemerkenswert naiv.

Die aktuelle Viren-Krise startete nach plausiblen Erkenntnissen von Fachleuten im Dezember 2019 auf dem Tiermarkt in Wuhan, China. Die weltweite Sars-Krise von 2002/03 ist zwar bereits in Vergessenheit geraten. Aber sie hatte ihren Anfang auf dem Tiermarkt in Guangdong, China, und forderte nach WHO-Angaben innert sechs Monaten 774 Todesopfer.

Abgesehen von der gesundheitlichen Tragödie lohnt sich die Analyse aus einem ganz anderen Blickwinkel: China ist in Sachen Digitalisierung ein innovativer Diktatur-Pionier. Der Staat nutzt die Digitalisierung nach heutigem Wissensstand zur praktisch totalen, im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlosen Kontrolle jedes einzelnen Individuums. Dieses politische Konzept steht in harter Konkurrenz zu den bisher bestehenden Gesellschaftsmodellen, die sich in den westlichen Kulturen in Europa und Amerika in den letzten Jahrhunderten entwickelt haben.

Jetzt treibt diese zweite weltweite Viren-Krise die Digitalisierung in atemberaubendem Tempo voran – in jedem Land dieser Welt. Digitale Klassenzimmer? Funktioniert. Online-Konferenzen mit wenigen bis Dutzenden von Mitarbeitenden statt teuren und emissionsreichen Reisen? Funktioniert. Totale Überwachung jedes einzelnen Menschen bis unter die Unterhose? Funktioniert. Digitales Geld ohne jeglichen Bezug zu physischen Werten? Funktioniert besser als erwartet. Bargeldlose Geldtransfers mit eindrücklicher Wirkung in Entwicklungsländern? Funktioniert!

Wer hätte noch im Jahr 2010 – das ist nur 10 Jahre her – auf eine solche Entwicklung gewettet?

Hier ist der Hammer Nummer eins zu dieser Erfolgsgeschichte. Die digitale Durchtränkung des privaten und beruflichen Alltags produziert gewaltige, unvorstellbare Daten-Massen. Je persönlicher die Daten, desto wertvoller sind sie für die Verarbeiter im Hintergrund. Finanziell profitieren diejenigen, welche diese Daten am besten analysieren und an interessierte Dritte weiterverkaufen können. Diese Asymmetrie wurde von einer Handvoll Monopol-Firmen aus den USA und China innert wenigen Jahren erfolgreich konstruiert und weltweit zementiert. Sie hat sich in unseren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen tief eingenistet.

Der zweite Hammer folgt sogleich: Digitalisierung, wie sie heute verstanden und gelebt wird, untergräbt die Grundpfeiler der Demokratie. Es ist ein perfider Angriff, mit tausenden meist unsichtbaren Pfeilen. Kleine gesetzliche und ethik-orientierte Schritte in Richtung weniger Intransparenz und mehr Gerechtigkeit werden zwar unternommen. Aber die Schritte sind zu klein. Quartalsweise nehmen wir staunend zur Kenntnis, welche absurden Summen die weltweiten Digitalisierungsplayer als Reingewinn ausweisen. Diese Zahlen sind der einfachste Beweis und Barometer dieser Asymmetrie. Kern der Digitalisierung ist das Jagen und Sammeln, die Analyse und die Nutzung von Daten. Die fairen, menschengerechten Spielregeln dazu hinken der industrie-getriebenen digitalen Entwicklung milliardenschwer hinterher.

Die heutige Architektur der weltweiten Digitalisierung ist vereinfacht nach der folgenden Regel aufgebaut. Du bist Besitzer eines schönen Hauses – das sind Deine Daten. Aber Dritte – das sind Alphabet/Google, Amazon, Facebook, Tencent, etc. – schreiben Dir vor, was sie mit Deinem Haus machen dürfen und machen werden. Plötzlich wäre also der Balkon abgerissen, das Haus schwarz bepinselt, der Wasserhahn abmontiert, oder die Fenster zugemauert. Wer würde eine solche Regel in einer normalen Welt akzeptieren?

Die Viren-Krise 2020 bringt uns jetzt mit einem Riesensprung innert wenigen Wochen an den Punkt, wo diese Regeln mit Hochdruck, glaubwürdig und ernsthaft diskutiert und neu definiert werden müssen. Das ist zutiefst im Interesse der Digitalisierungsindustrie selbst. Und es wird das entscheidende Thema zur Erhaltung und Stärkung einer gesunden, lebhaften Demokratie und freien Gesellschaft.

Seit den 1950er-Jahren haben sich viele Firmen und Organisationen bereichert über die kostenlose Ausbeutung der Natur. Diese wehrt sich, klar sichtbar und mit exponentieller Wirkung in allen Ländern dieser Welt. Die heutigen Digitalisierungsgewinner bereichern sich seit gut 20 Jahren über die kostenlose Ausbeutung der Daten von einzelnen Individuen. Wann und wie werden sich die Menschen wehren?

Eine Antwort liefert die Firma Prifina in San Francisco, gegründet von einem erfolgreichen finnischen Serial-Entrepreneur-Team. Ihr Motto ist: „My data, my terms“. Kurz und klar, so wie die Finnen sind. Diese Gesellschaftspioniere sind weltweit ganz vorne dabei bei der Wiederherstellung einer gerechten Beziehung zwischen Datenbesitz und -nutzung. Die Schweiz und Finnland haben ähnliche Visionen und Werte. Es lohnt sich gerade auch in diesem Thema, voneinander zu lernen.

Wer dies auch so sieht und wem dieses Thema wichtig ist, soll sich bitte melden. Danke!

Christian Häuselmanns Passion als Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur ist das langfristige Handeln von Menschen und Firmen. Unter anderem hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert.

Nutzen wir das Momentum der Corona-Krise

Martin Klöti
04.05.2020

Im Corona-Lockdown finde sich die Weltgemeinschaft einmalig synchronisiert, schreibt der Unternehmer und Ökonom Martin Klöti. Jetzt sei Gelegenheit für eine gerechtere Zukunft etwa durch einen globalen Schuldenerlass. Den gedanklichen Weg dorthin geht er mit einer Erzählung.


Die Tagesschau von SRF zeigt es schier täglich: Nicht nur Italien und nicht nur die Gärtnereien schlittern mit Covid-19 in ein wirtschaftliches Desaster. Die Dimensionen der weltweiten Hilfsprogramme im Zuge von Corona sind historisch, ihre Folgen wiederum komplex, beängstigend, unabsehbar.

Zugleich stellen sie eine grosse Hoffnung und die einmalige Chance auf einen Systemwechsel in Wirtschaft und Gesellschaft darf. Fähndrich hat in den vergangenen Jahrzehnten der Globalisierung keinen Deal ausgelassen und findet sich nun auf der zweitvordersten Bank im Münster. Der Corona-Schock sitzt auch bei ihm tief und im eindringlichen Selbstgespräch lässt er sein Tun und Lassen Revue passieren, dem er sich und alle anderen ein Leben lang unterworfen hat.

„Fähndrich – Und vergib uns“ schildert, wie wir es nicht verpassen sollten, das gegenwärtige Momentum der Corona-Krise für den Übergang in eine grundsätzlich neu aufgestellte, gerechte und nachhaltige Menschheit zu nutzen – im Lockdown einmalig synchronisiert als Weltgemeinschaft. Es ist der Aufruf an die hohe Politik, mit einem globalen Schuldenerlass die Welt aus den selbst gemachten, gewaltigen und verheerenden Verstrickungen zu befreien. Und damit endlich Platz zu machen für die alternativen Lebensentwürfe, die in den Köpfen der Menschen und in zahlreichen, geerdeten Unternehmenskonzepten längst bereit liegen. Wie schnell sich die Natur ihren Platz zurück holt, wenn sich die Menschheit erst mal im Zaun hält, und wie solidarisch die Gesellschaft wird, wenn sie die Wirtschaft nur nicht davon, haben die vergangenen Wochen weltweit eindrücklich gezeigt.

Mit gedanklichen Ausflügen über die systemischen Verfehlungen im Zuge von Geld und Zeit, übers kollektive Bewussstsein, über konsequent wahrgenommene Verantwortung und über die Kraft der zivilen Courage schafft die Geschichte eine stabile Legitimation für bahnbrechende Regierungserklärungen.

Fähndrich gibt es zum Hören und zum Lesen auch auf www.en-gage.ch.

Martin Klöti, geb. 1959, ist heute Unternehmer für Kreislaufwirtschaft und solidarisches Wirtschaften. Er gründete dafür die Genossenschaft Glärnisch Textil, die aus Hanf nachwachsende Rohstoffe für regional erzeugte Textilien, Baustoffe und weiteres Alttägliches bereitstellt. Der Ermutigung zu solchen und weiteren resilienten Modellen dient seine zweite Initiative ENGAGE Community Empowerment.

Zurück zur Normalität? Bitte nicht!

Karin Landolt
04.05.2020

In Krisensituationen wünschen wir uns zurück in die Komfortzone. Karin Landolt von Actares kritisiert, dass wir jedoch den Preis dafür nicht zahlen wollen. Sie fordert gerade von Grossunternehmen, jetzt nachhaltig umzudenken. Wohlstand sei auch mit Mass möglich.


„In was für einem System leben wir, wenn der Schutz der Gesundheit zur Krise führt, aber die Ausbeutung von endlichen Ressourcen, die Umweltverschmutzung und die Sklavenarbeit in Billiglohnländern zu einem funktionierenden System gehören?“ Diesen Satz habe ich kürzlich gelesen, und er hat mich sehr bewegt.

Wir wünschen uns die Normalität zurück, dass unser System wieder funktioniert. Doch haben wir alle auch gemerkt, dass die angebliche Normalität alles andere als normal ist. Sie ist bequeme Gewohnheit. Für unseren Wohlstand beuten wir aus. Und doch fällt es schwer, diesen Wohlstand aufzugeben. Wir wollen zurück in die Komfortzone, den Preis dafür zahlen wollen wir nicht.

Wir merken gleichzeitig, dass gerade die aussergewöhnliche Lage Unmögliches möglich macht. Der allgemeine Wohlstand lässt sich auch mit Mass fortsetzen. Biologisch angebautes Gemüse und weniger Fleisch konsumieren, den Verkehr mit Homeoffice drosseln, mehr auf die Gesundheit achten, weniger Flugreisen, denn die Natur in der Umgebung bietet uns mehr Genuss und Erholung, als wir dachten. Die Tourismusbranche leidet, ja. Dafür kann das lokale Gewerbe profitieren. Die Wirtschaft bricht mittelfristig nicht zusammen, sie verändert sich nur, und gibt neuen Geschäftsideen eine Chance. Althergebrachte Branchen müssen sich neu erfinden, warum denn nicht? Der Lockdown gibt uns – den einschränkenden Massnahmen zum Trotz – die Möglichkeit, die Welt und die Wirtschaft anders zu betrachten.

Wenn ein solcher Ruck auch durch die Grossen der Wirtschaft geht, wird die Idee einer vielversprechenden Welt greifbar nah: Ressourcen werden sparsamer eingesetzt, erneuerbare Energie löst die dreckig-fossile ab, die Bevölkerung in Drittweltländern wird einbezogen statt ausgebeutet, systemrelevante Jobs werden honoriert statt schamlose Boni-Summen ausbezahlt. UBS, Nestlé, LafargeHolcim & Co.: Nichts gegen Geld verdienen. Aber nutzt die Gunst der Stunde und tragt bei zu einer blühenden Zukunft und zum sozialen Frieden. Tragt dazu bei, dass wir in eine Wirtschaftsnormalität finden, die auch den Namen „Normalität“ verdient. Der grösste Hebel liegt in Eurer Hand.

Karin Landoltist Co-Geschäftsleiterin bei Actares, Aktionärinnen und Aktionäre für nachhaltiges Wirtschaften, und Inhaberin von Gesprächskultur. Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Winterthur.

Prototyp Schweiz - ein Plädoyer für mehr Experimente

Oliver Müller
30.04.2020

Erfindergeist erwacht in der Krise, so die These von Oliver Müller, Co-Gründer des Pionierkollektivs Common Ground. Deshalb ruft er dazu auf, jetzt im Kollektiv und individuell noch mehr Experimente zu wagen. Er will einen #PrototypSchweiz für neue Lösungen.


Kommt jetzt Bewegung in die Diskussion um den Umgang mit und nach Corona? Nach Schock, Verneinung, Einsicht und Akzeptanz kommt in der Veränderungskurve das Ausprobieren. Sind wir bereit zum Ausprobieren, wenn wir an einen echten Wandel denken? Es gibt wahrscheinlich mehrere Kurven gleichzeitig. Und dazu noch meine individuelle, die hin und her hüpft und sich der Linearität verweigert. Die Frage, die sich mir brennend stellt: Will ich sofort und so schnell als möglich zurück zur alten Normalität? Sollten wir das als Gesellschaft überhaupt wollen?

Wir erfinden gerade so viel neu, wie in Jahrzehnten nicht. In Hinblick auf die monumentalen Herausforderungen wie Ernährung, Klima, Energie und gerechte Verteilung, die wir auch vor der Pandemie als Gesellschaft und als Menschheit zu lösen hatten, wäre es eventuell klug, die jetzige Krise als Chance für noch mehr Experimente zu nutzen. Wenn wir es jetzt nicht hinkriegen, einen #PrototypSchweiz für neue Lösungen zu entwickeln und zu testen, wann dann?

Der Corona-Stillstand stellt für mich eine Chance dar, mich selber und meine Meinungen aus dieser veränderten Perspektive zu betrachten. Ich arbeite an meinem „Bewusst-sein“, dass jeder Mensch immer mit einem Mindset und Glaubenssätzen unterwegs ist. Ich spüre in mich hinein und reflektiere – und ertappe mich regelmässig, wie oft ich in ähnlichen Mustern denke. Für mich ist heute eine Zeit, wo ich meine Urteile über die Welt pausieren lasse und dem Neuen eine Chance gebe.

Deshalb hier mein Plädoyer: Ich fordere eine schweizweite Strategie des kollektiven und individuellen Ausprobierens. Eines meiner aktuellen persönlichen Experimente: Wie fühlt sich für mich vegane Ernährung an? Bei Common Ground öffnen wir zudem Räume, um über die eigenen Muster nachzudenken. Als nächstes: „Self and Family“ am 2. Mai von 9 bis 11.15 Uhr mit der ganzen Familie.

Über weitere Meinungen, Perspektiven und Austausch freue ich mich auf LinkedIn.

Oliver Müllerist Co-Gründer von Common Ground, einem „Pionierkollektiv mit Tiefgang“.

Vereinbarkeit leben – in Zeiten von Corona und darüber hinaus

Sarah Steiner
29.04.2020

Jetzt wird die Mammutleistung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch denjenigen klar, die sie bis dato ignoriert haben. Das sagt Sarah Steiner, Mitgründerin des Coworking-Space mit Kinderbetreuung Tadah. Sie fordert eine Flucht nach vorn und gesellschaftliche Innovation


Was vielen von uns in der Corona-Krise bewusst wird, ist mir schon lange klar. Homeoffice mit Kleinkindern ist unmöglich zu bewerkstelligen. Denn wir werden, wenn wir arbeiten und gleichzeitig unsere Kinder betreuen sollen, niemandem gerecht: der Arbeit nicht, dem Nachwuchs nicht und unseren Ansprüchen an uns selbst sowieso nicht.

Und wisst Ihr was? Das ist ok. Ja, wirklich. Wir sind Menschen, keine Roboter. Und unsere Kinder sind kleine Menschen, keine kleinen Roboter. Was passieren muss? Es müssen Lösungen geschaffen werden. Damit Familie und Beruf kombinierbar sind, damit wir uns nicht entscheiden müssen zwischen Kind oder Karriere.

Uns von Tadah, ist das klar – war es schon vor der Krise. Deswegen haben wir im Oktober 2019 einen Coworking Space mit Kinderbetreuung gegründet. Ein Ort also, an dem Eltern konzentriert arbeiten können und ihre Kinder professionell betreut wissen. Dies an flexiblen Tagen und zu flexiblen Zeiten – damit Vereinbarkeit endlich lebbar wird. Ein Powerhaus für Eltern.

Wieso unser Start-up in Zeiten von Corona den wirklichen Unterschied ausmachen kann? Weil neben dem Fakt, dass Vereinbarkeit in der Schweiz sonst schon schwer zu bewerkstelligen ist, der Fakt dazu kommt, dass diejenigen Menschen ausfallen, die einen elementaren Anteil der Kinderbetreuung ausmachen: die Grosseltern.

Über 40 Prozent von ihnen betreuen ihre Enkelkinder mindestens einmal pro Woche. Viele übernehmen zusätzliche Hütedienste während den Schulferien. Im Jahr 2016 wurde diese in der Schweiz erbrachte Betreuungsleistung hochgerechnet: 160 Millionen Stunden pro Jahr.

160 Millionen Stunden, die können auch wir nicht abfedern. Aber wir können unseren Teil beitragen. Wie sagt man doch so schön: Die Innovation ist der Motor der Wirtschaft. Sie muss nicht zwingend immer nur von bio-, med- und fin-tech aus kommen, sondern kann durchaus mal eine gesellschaftliche Komponente beinhalten. Wir geben Gas! Weil in Zeiten der Krise oft nur die Flucht nach vorne hilft – uns allen.

Sarah Steiner ist Co-Gründerin und CEO von Tadah. Die gelernte Journalistin hat gemeinsam mit drei anderen Müttern im Oktober 2019 in Zürich Albisrieden den ersten Coworking-Space mit Kinderbetreuung der Schweiz eröffnet.

Krise als Chance zur Verbesserung der Lieferketten nutzen

Sibyl Anwander
28.04.2020

Die Corona-Krise zeigt, welche Risiken bei Lieferketten bislang unterschätzt wurden. Jetzt sei die Zeit für eine Optimierung, sagt Sibyl Anwander, ehemalige Chefökonomin des Bundesamts für Umwelt BAFU. Dabei müssten gerade Umweltrisiken stärker berücksichtigt werden.


Im Rahmen der aktuellen Krise ausgelöst durch Covid-19 werden viele Unternehmen ihre Lieferketten neu analysieren, auf Schwachstellen prüfen und überlegen, wie mehr Resilienz eingebaut werden kann.

Die aktuelle Krise zeigt, dass wir alle global vernetzt und auf Beschaffungs- wie auch auf Absatzseite voneinander abhängig sind. Eine kurzfristige Stornierung von Bestellungen, mit denen grosse Textilketten negative Schlagzeilen machten, setzt da sicher ganz falsche Zeichen. Viel lobenswerter sind die aktuellen Empfehlungen der weltweit grössten Business-Initiative im Bereich der verantwortlichen Lieferketten, amfori, welcher auch viele Schweizer Unternehmen angehören.

Jetzt ist aber auch der richtige Zeitpunkt, um weitere wichtige Aspekte im Sinne der Nachhaltigkeit in eine umfassende Lieferkettenanalyse aufzunehmen, orientiert an den OECD Richtlinien zur Due Diligence.

Denn die Themen Klimawandel, Verlust an Biodiversität, Wasserknappheit oder Menschenrechte sind ja nicht einfach vom Tisch. Zumindest im Risikobarometer des WEF war zwar die Gefahr einer weltweiten Epidemie auch aufgeführt, aber die Wahrscheinlichkeit und die potentiellen Auswirkungen der umweltbedingten Risiken wurden als sehr viel grösser eingeschätzt.

Umso wichtiger ist es, die bestehenden Lieferketten und Business-Modelle unter diesen Aspekten ganzheitlich auf die unterschiedlichen Risiken zu überprüfen. Dabei soll der Ansatz der doppelten Materialität zum Zuge kommen – wo ist unser Unternehmen besonders von den externen Risiken betroffen, aber auch wo trägt unser Unternehmen mit seinen Aktivitäten selber dazu bei, diese Risiken zu verstärken?

So sollte auch die sicher berechtigte finanzielle Unterstützung des Bundes an die Wirtschaft zur Überbrückung der krisenbedingten Engpässe mit einer gesetzlich verankerten Verpflichtung zu einer umfassenden Sorgfaltspflicht verbunden werden. Fach- und Branchenverbänden könnten jetzt Schulungs- und Beratungsangebote schaffen, wie eine solche strategische Lieferkettenanalyse risikobasiert vorgenommen und in überzeugende Massnahmenpläne übergeführt werden können. Viele dieser Massnahmen werden sich in der längerfristigen Betrachtung als Chance erweisen und den Wirtschaftsstandort Schweiz noch wettbewerbsfähiger machen.

Dr. Sibyl Anwanderberät Firmen und Organisationen mit Schwerpunkt Lieferketten und Beschaffung, Ökologie und nachhaltige Finanzen. Sie war als Chefökonomin beim Bundesamt für Umwelt BAFU und davor als Leiterin Wirtschaftspolitik und Nachhaltigkeit bei Coop tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit nahm sie auch Mandate in diversen Business-Initiativen mit Schwerpunkt Lieferketten wahr.

Ich werde sie vermissen...

Lars Willi
27.04.2020

Der Unternehmer Lars Willi drückt aus, was gerade viele denken: Sie wollen gar nicht mehr ohne Veränderungen zurück in die Lebensumstände vor Corona. Lars Willi nimmt sich eine bewusstere Lebensweise vor und mahnt, globale Probleme weiter in Solidarität anzugehen.


Ich persönlich bin mir sicher, dass der Zeitpunkt kommen wird, wo ich mir ein bisschen Corona-Zeit wünschen werde. Ich meine das nicht zynisch; ich bin mir sehr bewusst, wie viele Leute, kleine und kleinste Unternehmen im Moment unter der Situation leiden.

Nein, diesen Teil der Krise wünsche ich mir sicher nicht zurück. Aber den Teil der erzwungenen Pause werde ich irgendwann vermissen. Viele Leute geniessen es, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Vielleicht wieder einmal mit den Kindern ein mehrstündiges Monopoly zu machen, lange verstaubte Lego-Stationen neu aufzubauen oder aber im Garten endlich die Projekte umzusetzen, die man dem Partner oder der Partnerin schon lange versprochen hat. Ganz viele Menschen bewegen sich auf einmal täglich in der Region und geniessen das Wetter und die schöne Natur. Die regionalen Läden erfreuen sich starker Beliebtheit und viele Menschen merken, dass man auch mit weniger gefüllten Agenden doch einiges erledigen kann. Man vermisst die Liebsten und merkt gleichzeitig, wie sehr man sich an kleine Dinge wie eine Umarmung oder einen Kaffee mit Freunden gewöhnt hat.

Nun, ich bin kein Corona-Romantiker und glaube nicht an das „New Normal“, welches das Virus in unserer Gesellschaft eingeläutet haben soll. Genau so wie nach einer Katastrophe werden sich die Menschen wohl schnell wieder im alten Muster finden – ausser, wir versuchen ganz bewusst, uns kleine Corona-Inseln zu schaffen. Ich persönlich werde versuchen, ein paar positive Erfahrungen in die Zeit nach Corona zu retten:

  • Bewegung in der freien Natur beibehalten
  • Einkauf von lokalen und nachhaltigen Produkten
  • Die Agenda, wenn möglich, nicht schon auf Monate hinaus zu füllen
  • Möglichkeit des Homeoffice und/oder Coworkings vermehrt nutzen
  • Mehr Spielzeit mit den Kindern verbringen
  • Dem Sohn regelmässiger, das „Schönschreiben“ kontrollieren ;-)
  • Kleine Treffen und grössere Events mit Freunden und Familie mehr wertschätzen

Vor allem aber sollten wir versuchen, aus den Erfahrungen der Corona-Situation zu lernen. Es ist auffällig, dass viele entwickelte Länder und Nationen scheinbar in grössere Schwierigkeiten geraten als ärmere Regionen dieser Welt. Nebst unterschiedlichen Testverfahren, hat dies höchstwahrscheinlich damit zu tun, dass die Menschen in diesen Ländern tagtäglich mit viel grösseren Herausforderungen zu kämpfen haben. Unsere Erfahrungen in der Corona-Zeit geben vielleicht einen Vorgeschmack darauf, wie die Situation bei den über 4 Milliarden Menschen sein muss, die täglich um die Existenz kämpfen. Vielleicht sollten wir daran denken, wenn das nächste Mal über die Flüchtlinge debattiert wird oder Budgets für Entwicklungshilfe verhandelt werden.

Für mich eine ganz wichtige Lektion ist die Solidarität, welche ich schon vergessen glaubte. Fast die ganze Welt einigte sich darauf, gegen den unsichtbaren Feind zu kämpfen. Keine Kosten wurden gescheut, um die richtigen Massnahmen zum Schutz der Gesundheit durchzusetzen. Diese Einigkeit, diese Gemeinsamkeit und diese Fokussiertheit müssen wir bewahren, um auch andere grossen Herausforderungen anzugehen. Die sozialen Ungleichheiten, das Abfallproblem, die Biodiversität, das Bevölkerungswachstum und die klimatischen Veränderungen sind globale Probleme die unsere Zukunft ebenso bedrohen, die wir ebenfalls nur gemeinsam bewältigen können.

Die vielzitierte bewusstere Lebensweise kann einen ersten Schritt in diese Richtung bedeuten – allerdings nur, wenn auch jeder Einzelne sich tatsächlich darum bemüht. Veränderung ist anstrengend!

In diesem Sinne: Packen wir’s an und machen das Beste daraus!

Lars Willi ist Gründer der St.Galler Firma WECONNEX. Die Firma entwickelt nachhaltige Geschäftsmodelle für Kleinbauern/Fischer in strukturschwachen Regionen. Die Erfahrung aus eigenen Projekten gibt WECONNEX als Dienstleistung an Kunden weiter, welche ihre Wertschöpfungsketten nachhaltiger und effizienter gestalten wollen.

Wei Ji im Corona-Frühling: Eine Chance für die Schule

Ueli Anken
24.04.2020

Die gegenwärtige Krise bedeutet Abbruch von Altem und gleichzeitig Aufbruch in Neues. Zunächst bringt das Verunsicherung, aber langfristig könnte ein positiver Schub die Folge sein. Das erwartet der Vize-Direktor der Fachagentur educa, Ueli Anken, der auf Lernprozesse in der Bildung setzt.


Frühling 1993, Romanel-sur-Morges. Logitech hat den zehnten Geburtstag knapp hinter, die gesamte PC-Branche von Apple bis Zenith um und Weltpremieren in sich. Die erste Digitalkamera, das erste Audio-Peripheriegerät, die erste 3-D-Maus, die Vision von „Senseware“: Es rauscht. Zeitsprung, ein Quartal später. Manche der Innovationen waren ihrer Zeit um Jahre voraus, fanden viel Echo und keinen Markt. Hinzu kommt ein Preiskrieg der Giganten. Logitech stürzt in die Krise, gibt Standorte auf, entlässt innert Monaten rund tausend Mitarbeitende. Mitgründer und CEO Daniel Borel pendelt zwischen Silicon Valley, China und Romanel-sur-Morges. Im Gepäck zwei Botschaften: „Wei Ji“, das chinesische Schriftbild für Krise, und für: „Das einzig Beständige ist der Wandel“.

Wei Ji: Die Erkenntnis, dass Abbruch und Aufbruch sich in einer Krise mit kolossaler Verunsicherung gegenseitig bedingen, hat damals die Kräfte im Unternehmen gebündelt. Wir in den Teams haben gelernt, wie hilfreich es ist, voneinander zu lernen. Und im Umgang mit der Öffentlichkeit reifte die Erfahrung, dass Vertrauen der Stakeholder direkt mit Transparenz und authentisch gelebtem Engagement korreliert.

Ein Vierteljahrhundert später. Peripheriegeräte für alle Sinne halten Logitech nach mehreren Wei-Ji-Phasen auf sattem Wachstumskurs. Auf der Homepage die erwartete Zeile: „Unsere Lieferzeiten werden sich voraussichtlich verlängern. Dafür bitten wir um Entschuldigung.“

Hinter der Zeile steckt die Corona-Krise. Wei-Ji in voller Wucht für Familien, Firmen, ganze Nationen. Und für Schulen. Seit dem 16. März prägt Fernunterricht den Alltag sämtlicher Menschen im organisierten Lern- und Lehrmodus. Die Krise schont niemanden von Kindergärten über Hochschulrektorate bis zu den Bildungsdirektionen. Vertrautes bricht weg, Neues an, Gewissheit weicht Zweifeln. Digitalisierungs-Enthusiasten merken, dass die coolste Lern-App nicht soziale Nähe, Empathie und haptische Erlebnisse draussen in der Natur ersetzt. Techno-Skeptiker entdecken den Nutzen digitaler Methoden fürs intrinsisch motivierte Lernen. In diesen Lernprozessen, hüben wie drüben, steckt die Chance, dass der Corona-Frühling mehr bringt als kolossale Verunsicherung: Aufbruch zu Lern- und Lehrmethoden, die ihrer Zeit bisher voraus waren.

Weiterführende Links:

Blick zurück in die Krise (1): Preisschlacht einer ganzen Industrie

Blick zurück in die Krise (2): Jahrzehnte zu früh am Markt

Blick nach vorn aus der Krise: Zwei Schulleiter im Gespräch

Ueli Anken, Jahrgang 1961, ist eidg. dipl. PR-Berater und arbeitete als Kommunikationsberater und -leiter in der Privatwirtschaft, in öffentlichen Institutionen, bei einem Hilfswerk und immer wieder im Sportwesen. Hauptberuflich ist er seit 2012 im Schweizer Bildungssystem tätig, heute als stellvertretender Direktor der Fachagentur educa.ch.

Handeln ohne Kontext

Rudolf Hilti
23.04.2020

Covid19 wird längst überfällige strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft nach sich ziehen. Wie kann das gelingen? Mit Offenheit für den Wandel, sagt der Gründer der Denkfabrik THE HUS, Rudolf Hilti. Auch Erfahrungen müssten teils ausgeblendet werden.


Wir sind gewohnt, uns auf ein Thema zu fokussieren und Unwichtiges auszublenden, damit wir uns nicht verzetteln. Im Gegensatz zu früher sind mit künstlicher Intelligenz ausgewertete Datenpools um ein Vielfaches genauer, als diese der Mensch in Eigenregie selbst modulieren könnte. Viele stützen sich auf zeitraubend erarbeitete Kennzahlen und nützen ihre Expertise, diese Zahlen zu verstehen und zu deuten. Vorangehen in eingeengten Korridoren ist oft das Resultat. Zahlengebilde werden uns heute vorgegeben und deren Auswertung mitgeliefert. Entscheidend ist es, deren Kontext zu verstehen – zu wissen, wie diese entstehen.

Was wäre, wenn wir uns erlauben, ohne bekannten Kontext zu handeln, zumindest zwischendurch?

Die fokusorientierte und lineare Wirtschaft, wie wir sie kennen, verändert sich mehr und mehr in ein datengetriebenes zusammenhängendes Ökosystem. Durch intelligentes Auslesen und systemisches Analysieren von Daten bekommen wir Klarheit über zugrundeliegende Zusammenhänge. Die gesellschaftliche und naturbezogene Veränderung, wie wir sie erleben, braucht ein neues Verständnis. Dies setzt ein kategorisches Neudenken voraus. Neudenken braucht Mut: den Mut, vieles zu vergessen, was wir zu wissen scheinen. Zu viel Erfahrung kann uns dabei hemmen, da wir Erfahrung mit einem anderen Kontext gemacht haben und genau diese Erfahrung mündet in der heutigen Zeit vielfach in Trägheit gegen Wandel. Wer möchte sich schon von weniger erfahrenen Menschen aufklären lassen?

Aber: Es tut not, weg vom Gewohnten zu kommen.

Gleiches gilt für das Abzahlen von Krediten, wenn Kredite wenig kosten. Günstige Zinsen lassen uns Geschäfte weiterziehen, da Kredite kaum ausfallen, wenn ihre Zinsen wenig kosten. Man vertraut auf die Zukunft und stützt sich auf einfache Finanzkennzahlen, vergisst aber erneut vielfach den Kontext. Erst Krisen bewegen uns dazu, aus der Trägheit – dem Gewohnten – zu entfliehen. Covid19 wird neben dem Krankheitsverlauf der Menschen längst überfällige strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft mit sich bringen. Wir haben rasch ansteigende Zahlen bei dieser Epidemie. Ähnliches haben wir bei der Keeling-Kurve, die die Zunahme der Treibhausgase misst. Da wie dort ist es ein steiniger Weg, der überzeugend gegangen werden muss.

Es gilt, sich zu öffnen, ohne sich zu verlieren. Panik hilft wenig bei strukturellen Änderungen. Wer sich zu positionieren weiss, weiss, was er tut.

Rudolf „Rudi“ Hiltiist ein Visionär aus Liechtenstein, der sich als verantwortungsbewusster Optimist bezeichnet. Er hat die Denkfabrik THE HUS und The System Change Foundation in Vaduz ins Leben gerufen. Selbst gestecktes Ziel ist, Brücken zu bauen, um die Bewältigung von globalen Herausforderungen auf eine ganzheitliche Ebene zu bringen, ohne an höhere nationale Interessen gebunden zu sein.

Koste es, was es wolle – ein Appell an die Generation X

Andy Keel
23.04.2020

Die Corona-Krise verursacht einen beispiellosen Schuldenberg. Laut Unternehmer Andy Keel sind es die momentan 40- bis 50-Jährigen, die ihn stemmen müssen. Er fordert dafür, dass diese Generation das wirtschaftspolitische System radikal verändert und Fehler korrigiert.


„Koste es, was es wolle“ – mit dieser Redewendung verkündete der österreichische Jungkanzler im März ein milliardenschweres Hilfspaket für die Wirtschaft. Und ähnliche Pläne wurden in vielen Ländern wie in der Schweiz oder auch Deutschland umgesetzt. „Koste es, was es wolle“ – das wird uns noch lange begleiten. Denn schauen wir uns doch die Millionen, Milliarden, Billionen an Hilfspaketen an: Hat sich jemand schon mal gefragt, wer das bezahlen muss?

Und da haben wir den Schlamassel.

Es ist die Generation X, deren Vertreter zwischen 1965 und 1979 geboren sind – eingeklemmt zwischen den überzähligen Baby Boomern und den coolen Ypsilon-Hipstern. Wir Xer sind zwischen 40 und 50 Jahre alt, hatten kaum Real-Lohn-Erhöhungen, haben mit null Rendite und einer kollabierenden Vorsorge zu kämpfen und ... mit einem Corona-Schuldenberg.

So weit – so schlecht.

Nun haben wir es aber in der Hand.

Lasst uns Verantwortung übernehmen. Lasst uns der letzten Generation das Zepter aus der Hand nehmen. Lasst uns die Familienbetriebe frühzeitig übernehmen. Lasst uns unsere ganze Lebenskraft und unsere 20 Jahre Berufserfahrung ausspielen. Wir können korrigieren, was die Baby Boomer verursacht und auch wir mitverschuldet haben. Damit meine ich:

  • Just in Time Produktion, bei der das VW-Produktionsband kaum zwei Wochen steht und schon sind die Zulieferer Pleite;
  • unbeschränkte Mobilität, die unser Klima vor den Kollaps getrieben hat;
  • globale Produktionsketten, die minimale Produktpreise wie bei 1-Euro-Shirts bei Primark erlauben;
  • Fleischproduktion, die heute niemand mehr will;
  • Minimale Kapitaldecken, die börsenkotierte Zombi-Unternehmen ohne Gewissen ermöglichen;
  • Abstimmungen, an denen zu zwei Dritteln nur Rentner teilnehmen und die somit von Rentnern bestimmt werden.

Das System ist so instabil, da muss nur ein Virus kommen und es ist futsch.

Wir haben uns in der Politik die letzten zehn Jahre viel nicht getraut, weil es der Wirtschaft schaden könnte. Frauenquote, Braunkohle-Ausstieg, CO2-Gebühr auf Flugtickets, die Liste ist laaaaang. …und jetzt? Jetzt wird mit Schulden, die wir einmal bezahlen müssen, eben solches auch noch gestützt und erhalten? Das haben wir zusammen mit den nachfolgenden Generationen Y und Z in der in der Hand. Gestalten wir unsere Zukunft und trauen wir uns Folgendes:

  • Lassen wir Airlines sterben.
  • Lassen wir Kreuzfahrtschiffe in den Häfen, solange sie keine Katalysatoren haben.
  • Holen wir die Wertschöpfung heim, wer will schon nach China?
  • Fördern wir konsequent Innovation und schreiben wir alte Zöpfe und Industrien ab.
  • Sichern wir unsere Altersvorsorge durch ein höheres Rentenalter und eine Rentendeckelung.
  • Digitalisieren wir die Schule und unsere Arbeitsplätze und verwirklichen wir für Mütter und Väter eine neue Freiheit.
  • Fordern wir einen Solidaritätsbeitrag von der älteren Bevölkerung ein, zumindest auf deren Vermögensgewinne der letzten Jahrzehnte.
  • Besteuern wir Erbschaften massiv, insbesondere wenn die Empfänger selbst der Baby-Boomer-Generation angehören.
  • Sorgen wir endlich für gleiche Bedingungen für Mann und Frau, also Gender Equality.
  • Wählen wir junge Politiker/Innen.

Wir merken in diesen Tagen, wie schnell unsere Rechte als Bürger verschwunden sind. Wie schnell wir wieder ganz tief in uralten Rollenmodellen stecken. Wie sehr der Markt eben nicht funktioniert und wie wackelig Europa ist. Wie unfair die Ressourcen unserer Welt verteilt sind und werden.

Es liegt an uns, die Politik zu bestimmen. Wir müssen die Suppe auslöffeln und dafür vielleicht wieder sechs Tage die Woche arbeiten.

Gen X und Y – übernehmt Verantwortung! Gemeinsam.

Seid mutig. Seid positiv. Kauft an den richtigen Orten ein. Stellt kritische Fragen. Übernehmt Verantwortung. Wir erschaffen etwas Neues aus diesem Corona-Trümmerhaufen.

Andy Keelist studierter Betriebswirt und arbeitete 15 Jahre als Banker bei der Credit Suisse und UBS, bevor er Unternehmer wurde. In Altstätten SG ist er CEO von dade-design.com concrete works, das Beton-Unikate wie Badewannen produziert. Im österreichischen Dornbirn sitzt sein Schreinereibetrieb Timberline und der comaking-space.com, in Zürich gründete er die Gender-Diversity-Beratungsagentur DOIT-Smart.org sowie die Stellenbörse Teilzeitkarriere.com.

Verzicht als Heilmittel gegen Krisen

Christian Hirsig
22.04.2020

Plötzlich geht es, bemerkt Unternehmer Christian Hirsig: Die Krise lehrt uns alle Solidarität, Flexibilität und Kreativität. Das sollten wir beibehalten, meint er und schlägt konkrete Schritte vor, die eine Klimakatastrophe abfedern könnten. Verzicht sei dabei unumgänglich.


Im Februar bin ich mit meinen beiden Jungs (3 und 5 Jahre alt) bei Coop einkaufen gegangen. Wir näherten uns der Frischzone und wurden empfangen von vollen Körben mit Erdbeeren. Da meinte der Ältere: „Wow so cool, dass bereits im Winter Erdbeeren wachsen. Können wir Erdbeertörtchen zum Zvieri machen?“ Jetzt mal ehrlich, es kann doch nicht sein, dass Fünfjährige das Gefühl haben, Erdbeeren wachsen im Winter. Irgendwo sind wir als Gesellschaft hier ziemlich auf den Holzweg gelangt.

Dank der Corona-Krise sind wir in den letzten Wochen als Gesellschaft gewachsen. Wir haben neue gemeinsame Werte entdeckt. Erstens die Solidarität. Hilfsplattformen und -gruppen spriessen wie Pilze aus dem Boden. Zweitens die Flexibilität in allen Altersschichten. Ein befreundeter Yoga-Lehrer erzählte mir, dass er seine Gruppe „älterer“ Damen, alle über sechzig Jahre, nun über Zoom unterrichtet. Das ginge problemlos. Und drittens die Kreativität. Da gibt es ein Hotel, welches seine Zimmer neu als Co-Working Einzelbüros vermietet. Die Franzosen haben nach ihrer Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Grundlage ihrer Nation definiert. Könnte Solidarität, Flexibilität und Kreativität nicht die gemeinsame Basis für uns alle in der Zeit nach Corona werden?

Blenden wir doch kurz die Aktualität der Gesundheitskrise aus, denn wir befinden uns schon wesentlich länger in einer anderen Krise – in der Klimakrise. Die bisher spürbarsten Auswirkungen waren Waldbrände, Überschwemmungen und das rasante Aussterben von Pflanzen- und Tierarten. Der Human Impact Report von 2009 geht davon aus, dass pro Jahr 315’000 Menschen an den Folgen der Klimakrise sterben und 325 Millionen schwerwiegend darunter leiden. Da frage ich mich: Wie kann eine Gesellschaft, die sich zu Corona-Zeiten so massiv einschränkt, bei der Klimakrise einfach sorglos weiterkonsumieren?

Wir können das Schlimmste verhindern, wenn wir bereit sind, auch in Zukunft zu verzichten:

  1. Möglichst nicht mehr fliegen: Gemäss dem Tages Anzeiger verursacht ein Flug von Zürich nach New York und retour ungefähr so viel CO2 wie ein ganzes Jahr Autofahren oder fast 300 mal mit dem Zug nach Paris und retour. „Nicht fliegen“ ist für mich die effektivste einzelne Massnahme. Natürlich gibt es Berufe, bei denen dies nicht möglich ist. Aber auch hier haben wir in den letzten Wochen bewiesen, dass Online-Meetings oft eine gute Alternative sind.
  2. Fleischkonsum massiv reduzieren: Schaut man, für wie viel Treibhausgas das Fleisch gemäss WWF verantwortlich ist, merkt man rasch, dass dies ein Hebel sein könnte. Ein Fleischgericht belastet die Umwelt im Schnitt dreimal mehr als ein vegetarisches Gericht.
  3. Für die Natur wählen: Die wirksamsten Massnahmen sind politisch. Wir brauchen Politiker, die sich öffentlich für die Natur einsetzen. Dies würde heissen, keine Ölheizungen mehr, Abstossen von Beteiligungen an Kohlekraftwerken, konsequente Förderung von erneuerbaren Energien, schnelles Vorantreiben von energetischen Gebäudesanierungen sowie massive Verteuerung von CO2 emittierenden Transportmitteln wie Flugzeugen, Autos und Lastwagen.

In den letzten 30 Jahren wurde die Hälfte aller jemals aus fossilen Brennstoffen entstandenen Emissionen ausgestossen. Ich werde dieses Jahr 40 und fühle mich mitverantwortlich. Eigentlich wäre es einfach, etwas zu ändern und ich wünsche mir, dass sich diese drei Punkte möglichst viele in meiner Generation zu Herzen nehmen. Nicht für mich, sondern für unsere Enkel. Damit auch sie irgendwann einmal auf diesem Planeten mit gutem Gewissen Grosseltern werden können. Lasst uns auch über die Corona-Krise hinaus solidarisch, flexibel und kreativ sein.

Christian Hirsigist Unternehmer. Seine Projekte erstrecken sich von der Open Innovation Plattform Atizo, über das Kochbuch „Geile Eier“, zu seinem eigenen Bier Blacknose bis hin zur Programmierschule für Flüchtlinge Powercoders.

Dies ist eine gekürzte Version – hier finden Sie den Artikel in voller Länge: http://durchdenken.ch/

Bern als Trendsetter

Christian Häuselmann
22.04.2020

Wird alles nach der Corona-Zeit wieder seinen gewohnt schnellen Gang nehmen? Oder lernen wir aus der Erfahrung, dass Entschleunigung gut tut? Der Entrepreneur Christian Häuselmann ist überzeugt davon, dass wir zwar schnell vergessen, aber nicht alles.


Berner sind langsam. Das ist so. Als ich als Teenager zum ersten Mal in Zürich zusammen mit meinem Handballkollegen in einer Migros einkaufte, tippte die Kassiererin so flink, dass sie zwischendurch warten musste, bis wir beide unsere Waren aus dem Einkaufskorb gekramt hatten. Wie immer steckt in jedem Kli­scheeauch ein Stückchen Wahrheit.

In diesen ersten Monaten 2020 erleben wir historisch unruhige Zeiten. In aller Turbulenz sind wir durch das notwendige Zuhausebleiben zu einer neuen Art Ruhe gezwungen. Wir müssen in allen unseren Arbeiten sonst Selbstverständliches hinterfragen, uns neu organisieren und neu ausrichten. Wir setzen uns bewusster mit unseren Familien, Bekannten, Unbekannten und uns selbst auseinander. Wir bewegen uns draussen nur mit Einschränkungen, können in kein Restaurant, auf keine Party – wir sind fast den ganzen Tag zu Hause am Arbeiten und Leben. Alles ist etwas langsamer, wir können etwas verschnaufen, aufschnaufen. Das freut auch die Natur. In Venedig ist das Wasser in den Kanälen wieder klarer, Satellitenbilder zeigen eindrücklich wenig Industrie-Emissionen oder Flugbewegungen. In Indien ist der Himalaya erstmals seit 30 Jahren wieder aus über 150 Kilometern Distanz erkennbar.

Plötzlich haben wir Zeit zum Sein und Denken. Langsamkeit bekommt ungefragt einen besonderen Wert. Das ist ein Geschenk – und gleichzeitig ein schwierig auszuhaltender Widerspruch zur aktuellen Situation mit so vielen privaten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dramen und Tragödien.

Menschen haben einen biologisch eingebauten Überlebensmechanismus: Wir vergessen vieles schnell. Sobald sich das Leben wieder normalisieren und die übliche Fahrt aufnehmen wird, ist also anzunehmen, dass wir diesen wiederentdeckten Wert der Langsamkeit auch wieder vergessen werden.

Diese Krise wird auf unterschiedlichen Ebenen vieles verändern, unsere Welt wird in Zukunft eine andere sein. Meine Hoffnung ist, dass sich einzelne Bereiche langfristig entschleunigen, zum Nutzen von Mensch und Natur. Wer hätte das gedacht – Bern als Trendsetter!

Christian Häuselmanns Passion als Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur ist das langfristige Handeln von Menschen und Firmen. Unter anderem hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert.

COVIDigitalisierung: Wie kann man die aktuelle globale Krise nutzen?

Gregory Arzumanian
21.04.2020

Das Vertrauen in die kaputte Weltwirtschaft ist dahin. Was nun? Technokratischer Totalitarismus oder digitale, soziale Harmonie? Laut Blockchain-Unternehmer Gregory Arzumanian kann zweiteres nur durch Nachhaltigkeit und Transparenz erreicht werden.


Heute hören wir überall das Wort „Krise“. Aber was bedeutet es?

Das altgriechische κρίσις bezeichnete ursprünglich „den Wendepunkt zum Besseren oder Schlechteren bei einer Krankheit“. Diese einfache Definition zeigt, dass eine Krise eine logische Folge einer Krankheit ist. Wer ist also der Patient und wie wird er geheilt? Wie überstehen wir diese Krankheit? Und wie leben wir nach der ersten Therapie?

Der Patient ist unsere globale Wirtschaft. Die Ursache der Krankheit sind falsche Prioritäten im Kern der wirtschaftlichen, geschäftlichen und sozialen Beziehungen. Die Hauptpriorität ist die Effizienz. Aber Effizienz ohne Nachhaltigkeit führt dazu, dass schwache Akteure an die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen gedrängt und zu Randfiguren gemacht werden. Globale Konzerne haben im Rennen um Effizienz vergessen, dass unser Planet die Heimat von 7,5 Milliarden Menschen ist, nicht nur von Verbrauchern. Wir sind Eltern und Kinder, nicht Lieferanten und Kunden. Wir sind Brüder und Schwestern, keine Konkurrenten oder Kunden. Nicht mehr. Wir sitzen alle im selben Boot.

Die derzeitige Krise, die durch den Ausbruch von COVID-19 verursacht wurde, hat gezeigt, wie zerbrechlich und verletzlich unsere Welt angesichts der globalen Umweltprobleme ist.

Das Vertrauen muss wiederhergestellt werden, um eine kaputte Weltwirtschaft wieder aufzubauen. Unternehmen können ohne Transparenz kein Vertrauen mehr erwarten.

Dieses Verständnis wird die Einführung digitaler Technologien stark fördern. IoT-Sensoren (Internet der Dinge) werden das Sammeln grosser Datenmengen ermöglichen. Die künstliche Intelligenz wird sie analysieren, Berichte erstellen und Planungsvorschläge machen. Blockchain wird vertrauenswürdige Daten notariell beglaubigen und sie vom Rest trennen.

Wir treten in ein neues digitales Zeitalter ein. Nachhaltigkeit sollte im Mittelpunkt stehen. Und vor allem eine nachhaltige und verantwortungsvolle Denkweise.

Wir stehen vor der Wahl zwischen dem zukünftigen technokratischen Totalitarismus und der digitalen sozialen Harmonie. Die Wahl liegt bei uns.

Wechseln wir auf den digitalen Weg. Bewahren wir unsere Freiheit und unser Glück.

Gregory Arzumanianist Gründer und CEO der auf Blockchain-Anwendungen spezialisierten FCE Group AG mit Sitz in Root LU. Er ist Vater von drei Kindern. Seine Themen sind innovative Technologien, nachhaltige Entwicklung und der Blick über konventionelles Wissen hinweg.

Dieser Beitrag wurde auf Englisch verfasst und auf Deutsch übersetzt.

Die Illusion von Stabilität

Daniela Bomatter
20.04.2020

In Indien gilt in der Corona-Krise eine Ausgangssperre. Davon ist auch die Schweizer Ex-Managerin Daniela Bomatter betroffen. Für sie zeigt die Situation: Die Vorstellung von Stabilität ist nur eine Illusion – wer sich von ihr freimacht, kann neue Freiheit gewinnen.


Ich lebe seit einem halben Jahr in Bangalore. Im Moment in Ausgangssperre. Da ist plötzlich viel Zeit, über die Welt und die Menschen nachzudenken. Ich fühle mich stark verbunden mit einem Gefühl von Unbeständigkeit. Die Welt, unser Leben ist unbeständig, immer. Aber selten sind wir uns dessen so bewusst wie in dieser Zeit von globaler Quarantäne. Ich glaube, dass der Mensch grundsätzlich die Tendenz hat, Stabilität zu suchen. Wir leben in der Illusion, dass es so etwas wie Stabilität gibt, als Endziel, das uns, wenn wir es erreichen, glücklich und erfüllt sein lässt.

Aber ich glaube das ist eine falsche Annahme, Leben ist in Wirklichkeit ständige Veränderung, immer. Leben kann auch immer in der nächsten Sekunde enden oder sich dramatisch wenden. Wenn wir einen Moment inne halten und diese Tatsache tief sinken lassen, dann öffnet sich interessanterweise ein Raum, der sich nicht an einer Stabilität in der Zukunft orientiert, sondern der uns mitten ins Hier und Jetzt stellt und voller noch nicht manifestierter Potentiale ist.

Dies ist der Raum, in dem wir kreativ sein können, aus dem alles Neue fliesst, nicht um etwas zu vollenden, sondern als Ausdruck des ständigen Fliessens und Veränderns der Welt. Aus diesem Raum steigt auch eine Neugier auf, eine Neugierde auf das Neue, Andere, das entstehen will. Es ist ein Ort, in dem alles bereits Gewusste verblasst und Raum macht für neue Erfahrung, neue Erkenntnis und neue Verhalten. Gleichzeitig erlaubt es dieser Raum aber auch, die Realität, in der wir uns befinden, mit viel mehr Bewusstheit wahrzunehmen in all ihrer Komplexität, und er befreit uns von dem Zwang, immer alles in fixe Strukturen zu packen, weil wir damit dann glauben, besser fertig zu werden.

Wenn wir diesen Raum in uns kultivieren, werden wir zu aktiven Agenten der Evolution, wir werden zu bewussten Schöpfern unserer Zukunft, nicht nur unsere persönlichen Zukunft, sondern der Zukunft unserer Welt.

Daniela Bomatterlebt als Aussteigerin in Indien, nachdem sie 40 Jahre eine erfolgreiche Wirtschaftskarriere verfolgte, zuletzt als Geschäftsführerin von EnergieSchweiz. Sie organisiert spirituelle/philosophische Online- und Offline-Events und lanciert gerade „Manifest Nirvana, das erste virtuelle Ashram/Kloster“.

Digitale Defizite verschärfen die Krise

Renato Gunc
20.04.2020

Der Schweiz fehlt eine funktionierende digitale Grundinfrastruktur – das legt die Corona-Krise offen. Laut dem Unternehmer und Präsidenten von eGov Schweiz, Renato Gunc, muss dieses Thema ganz oben auf die Prioritätenliste, wenn die Wogen sich geglättet haben.


Der Corona-Notstand zeigt mit brutaler Deutlichkeit gewisse Engpässe auf, bei der Versorgung mit Schutzbekleidung und Desinfektionsmitteln, aber auch in der Kommunikation und der Erfassung von Daten. Tatsächlich hat es die Schweiz bisher versäumt, eine funktionierende digitale Grundinfrastruktur inklusive Kommunikationsnetzwerk aufzubauen. Das rächt sich jetzt in mehrfacher Hinsicht:

1.

Weder Parlament noch Behörden noch viele Firmen sind in der Lage, flächendeckend digital zu operieren. Wenn Arztpraxen ihre Corona-Fälle per Fax an das Bundesamt für Gesundheit BAG liefern müssen, hinken wir wirklich schwer nach. Ebenso, wenn die Zahlen der Erkrankten und Verstorbenen der Kantone nicht mit denen des Bundes übereinstimmen, weil es keinen standardisierten, automatischen Informationsfluss zwischen Kantonen und dem Bund gibt. Noch ein anderes Beispiel: In der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich müssen Gesuche um Kurzarbeit manuell abgetippt werden, was zu massiven Verzögerungen führt. (Anm. d. Red. Inzwischen steht ein elektronisches Formular zur Verfügung.)

2.

Es ist nicht möglich, dass Behörden Kontakte mit Bürgern über eine gesicherte Maildresse aufnehmen. Jeder hat eine Wohnadresse, aber bei den E-Mails herrscht Wildwuchs. Eine standardisierte, gesicherte Mailadresse würde einen neuen, effizienten Kommunikationskanal eröffnen. Sie könnte auf der AHV-Nummer basieren (z.B. AHV-Nummer@ahv.ch), was einfach und billig einzurichten wäre. Eine Behörde, zum Beispiel die Zentrale Ausgleichsstelle ZAS, würde die Mail-Adressen ausstellen und verwalten. Bliebe noch die Verifizierung von Person und Adresse. Aber das wäre kein unüberwindbares Hindernis; schliesslich gibt es Methoden zur Verifizierung, wie sie etwa Banken oder Online-Händler anwenden.

3.

Da noch immer keine standardisierte, allgemein akzeptierte elektronische Identitätskarte (E-ID) existiert, bleibt es schwierig bis ausgeschlossen, gewisse Verträge digital abzuschliessen.

Wenn einmal die Normalität zurückkehrt, müssen wir uns intensiv und dringlich um Digitalisierung kümmern, gerade auch als Vorbereitung auf eine nächste mögliche Krise. Eine flächendeckende digitale Infrastruktur würde Informationsflüsse bündeln und beschleunigen. Dank KI-Technologie könnten Informationsauswertungen präzisiert und plausibilisiert werden und Behörden und Firmen als wertvolle Entscheidungshilfen dienen. Eine digitale Infrastruktur würde auch Vertragsabschlüsse erleichtern. Digitale Sitzungen würden effizienter und kürzer ausfallen als physische Zusammenkünfte und trügen erst noch zum Umweltschutz bei, weil man nicht für jedes Treffen nach Bern fahren oder nach New York jetten müsste.

Renato Guncist diplomierter Telematiker und besitzt einen Abschluss in Europa- und Wirtschaftsrecht der Universität Bern. Gunc präsidiert eGov Schweiz- Verein für Innovationen im E-Government. Er verantwortet bei der PEAX AG den Geschäftsbereich Vertrieb und Business-Development. Zuvor war er CEO bei SIX Paynet AG und im Post-Konzern engagiert. Er befasste sich mit E-Health, E-Government und dem Aufbau einer schweizweiten digitalen Identität (SwissID).

Die Rücknahme – eine Kamingeschichte aus dem Tessin

Adrian Naef
20.04.2020

Der Autor Adrian Naef beobachtet im Tessin zu Corona-Zeiten ein Verschiebung der Macht. Ihm scheint, als sei der Kaiser da, auf der Durchreise von Italien: Dieser zeige den Königen, wer das Recht zum Richten habe – mit ungewisser Aufenthaltsdauer.


Camanoglio, März 2020. Ein Thema war es länger schon, aber seit einer Woche greift es in unseren Alltag ein: Das Virus ist angekommen, im hintersten Tal, ausnahmslos bei jedem, bei jedem bei uns im Haus auf dem Berg, im kleinen Lebensmittelladen, im Nachbardorf, der Tankstelle, der Post. Auch die Kinder – sogar die jüngsten zwei – wundern sich, wie eigenartig wir uns jetzt bewegen und über etwas sprechen, das neuerdings offenbar alles bestimmt.

Sogar bei den Wildtieren in den Wäldern rundum ist es angekommen. Sie kommen ins Dorf, von allen Seiten her, als forderten sie zurück, was wir ihnen genommen haben. Seitdem die Flugzeuge ausbleiben, die Autos nicht mehr blenden, die Motoren schweigen, kommen sie heran, traben über den Dorfplatz, trinken am Brunnen. Die Marder platzieren Häufchen vor den Türschwellen, als wollten sie schon mal ankündigen, dass sie demnächst einzuziehen gedenken. Der Fuchs trabt über die Treppe herab hinter dem Haus, bleibt stehen, schaut kurz in unsere Küche herein und trabt weiter.

Gestern hat ein Wolf – oder war es ein Bär? –, der über die nahe Grenze kam, ungehindert wie das Virus aus Italien eine verirrte Ziege gerissen. Früher wäre er DIE Schlagzeile gewesen, jetzt heisst sie CORONA. Unsere Kinder fanden den kopflosen Torso, vielmehr nur noch ein Gerippe unter Fell im Wald unterhalb unseres Hauses. Die Füchse hatten es noch ganz ausgeweidet und die Knochen rundum verstreut, wie sie neuerdings nachts unseren Kompost zerteilen und verstreuen. Täglich sind sie näher gekommen, zu Lande zu Wasser und durch die Luft: Die Frösche sind schon da im Gras, durch den verfrühten Frühling aufgeweckt, die Raubvögel kurven nahe übers Dach und spähen nach unseren Tauben im Schlag, Hirsche, Gämsen und Rehe stehen auf dem Parkplatz vor dem Skilift, als wollten sie ein Billett kaufen.

Der Mythos könnte lauten: Am Anfang war das Virus, kam aus dem All, züchtete Pflanze und Tier ihm zur Nahrung, züchtete Menschen und liess sie glauben, Götter zu sein, damit sie herrschten, sich vermehrten und den Planeten mit ihren Projekten überzogen. Aber die Menschen vergassen in ihrer Hybris, dass sie bloss Wirte waren, Pächter, die dem Besitzer zu gehorchen haben, sollte er dereinst anklopfen, um zu prüfen, was inzwischen geworden war. Und es ist viel geworden inzwischen. Zu viel?

Nun ist er da. Nun ist ES da. Geschlechtslos, ein Code bloss, in etwas Eiweiss gehüllt, ein Wille aus dem All, hergeflogen in einem Stein, damit alles beginne und wohl auch mal ende, wer weiss es, es ist im Code eingeschrieben, den kein Whistleblower entschlüsseln kann und jemals wird, ist auch er doch Teil des Codes und nicht der grosse Wille dahinter, den einige Gott nennen und andere sogar duzen, als wäre er bloss der Nachbar nebenan mit seinem Hipster-Bart.

Oder es ist, als sei der Kaiser da, auf der Durchreise von Italien, und zeige den Königen wieder einmal, wer das Recht zum Richten hat. Genau hier kam er durch, aus Sizilien, im 12. Jahrhundert, über unseren Pass, der grosse Friedrich, mit Kamelen – Tiere, die unsere Tessiner und Urner noch nie gesehen hatten –, nahm da, schenkte dort, sprach das Wort, dass es gelte.

Auch das furchtlose Kamel, das Lama, das hier jetzt die Schafe hütet rundum und jenem Wolf mit Sicherheit einen Fusstritt versetzt hätte, kommt neuerdings zum Dorfbrunnen und schaut sich um, als wolle es demnächst einziehen in eines der Ferienhäuser, die jetzt leer stehen.

Wie auch immer – ES ist angekommen, und niemand weiss, wie lange es ihm beliebt zu bleiben.

Und wie immer, wenn ein Besitzer anklopft – es wäre uns lieber, er würde bald wieder gehen.

Adrian Naef, Jahrgang 1948, ist Autor und lebt in Zürich sowie in den Tessiner Bergen. Nach dem Studium der Ökonomie/Phil.I arbeitete er in der Jugend- und Erwachsenenbildung, als Spital-Pädagoge und Redaktor.

Danke, Corona!

Rebecca Panian
17.04.2020

Die Regisseurin Rebecca Panian sieht die Corona-Krise als Chance – für die Natur, aber auch für die Menschen. Die Umstände geben laut Panian Anstoss zu Veränderungen und die perfekte Gelegenheit, um neu über das Grundeinkommen zu diskutieren. 


Bitte nehmen Sie mir den Titel nicht übel – Sie, die Sie vielleicht gerade zuhause krank im Bett liegen oder jemanden pflegen oder um jemanden bangen. Auch möchte ich niemandem auf die Füsse treten, der gerade um das Überleben seines Geschäfts oder Restaurants zittern muss. Ich kann aber schlicht nicht anders, als dem Virus aus tiefstem Herzen zu danken für die Entschleunigung, die es mit sich brachte, denn sie war so bitter nötig. Nicht nur für die Menschheit, sondern vor allem auch für die Natur. Ich höre die Erde fast schon jubeln: „Endlich sind die Menschen weg.“

Mir ist bewusst, dass ich mich in einer komfortablen Situation befinde: Ich habe keine Kinder, die ich „homeschoolen“ muss. Und an Homeoffice habe ich mich längst gewöhnt, seit ich mein Leben umgekrempelt habe: weg von viel verdienen, Vollzeit arbeiten und fürs Alter sparen, hin zu von wenig Geld leben, dafür viel Zeit haben für Menschen und Projekte, die mir wichtig sind und – im Hier und Jetzt leben und auf meine Gesundheit achten, anstatt alles aufs Alter zu schieben.

Momentan lebe ich von Fördergeldern für die Entwicklung eines Dokumentarfilms (über das bedingungslose Grundeinkommen und wie wir in Zukunft leben wollen). Und das ist der zweite Grund, warum ich Corona dankbar bin: dass die Diskussion rund um das Grundeinkommen wieder Fahrt aufnimmt, denn jetzt spüren die Menschen, warum es sinnvoll wäre. Sie hätten eine finanzielle Absicherung und müssten sich, neben der Angst vor einer Ansteckung, nicht auch noch mit Existenzängsten rumschlagen. Natürlich reicht mein Geld nicht ewig, aber die nächsten sechs Monate kann ich sicher meine Miete zahlen und essen.

Diese Existenzsicherung lässt mich ruhig schlafen und arbeiten und gibt mir Raum, mich sachlich zum Virus zu informieren und dementsprechend nicht in Panik zu verfallen. Und das finde ich zentral, denn „Menschen in Panik“, das kommt selten gut. Dann gilt nur noch Flucht, Angriff oder sich tot zu stellen.

Ausserdem möchte ich Dir, Corona, dafür danken, dass Du so viele Menschen zu unglaublicher Kreativität und Solidarität inspirierst und damit beweist, dass die meisten Menschen es schwerlich aushalten, nichts zu tun! Welche Innovation und Energien würden erst freigelassen, wenn die Menschen ein Grundeinkommen hätten? Auch zeigst Du ganz klar, welches die wirklich wichtigen Berufe sind, die unsere Gesellschaft am Laufen halten. Danke dafür.

De facto sollten wir alle dankbar sein, dass wir mit diesem Virus die Chance erhalten, umzudenken. Es hätte auch eine Umweltkatastrophe von unvorstellbarem Ausmass sein können, denn die Klimakrise ist beileibe nicht vom Tisch. Nur so am Rande.

Wir sollten diese Chance zur Veränderung nutzen, denn wir sind zu so viel mehr fähig. Das Grundeinkommen könnte ein Schritt in eine neue Zukunft sein. Und es ist finanzierbar, wenn wir akzeptieren, dass die technologischen Errungenschaften, Erfindungen und Bodenschätze unser aller Erbe sind und wir dementsprechend eine Dividende zugute haben – ein Grundeinkommen. Wir können die Realität verändern, wenn wir wollen. Das spüren und sehen wir in Zeiten von Corona besser denn je.

Rebecca Panian ist Schweizer Regisseurin und Autorin, die zuvor unter anderem als TV-Redaktorin arbeitete. Ihr erster Kinodokumentarfilm „ZU ENDE LEBEN“ kam im April 2015 in die Schweizer Kinos. 2018 startete sie das Projekt „Dorf testet Zukunft“. Weitere Informationen: http://rebeccapanian.ch

Plastik erlebt eine Corona-Renaissance

Patrick Semadeni
17.04.2020

Die Angst vor Ansteckung mit dem Virus beschert Plastik eine unerwartete Renaissance – im Gesundheitswesen und sogar im Supermarkt. Die Krise werde die Einstellung zu Kunststoff ändern, schreibt Patrick Semadeni, CEO der Semadeni Plastics Group, in einem Meinungsbeitrag.  


Und plötzlich ist sie bei uns gewesen, die Pandemie. Das öffentliche Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Viele Menschen sind besorgt um ihre Gesundheit. Gewerbe und Industrie leiden, Jobs sind in Gefahr. Staaten verschulden sich mit enormen Beträgen, um Hilfspakete für Arbeitnehmende und Wirtschaft bereit zu stellen.

Wir müssen den Kampf gegen das Virus effektiv führen, um Leben zu retten und wieder zu einer Normalität zu finden. Hier kommt den Mitarbeitenden im Gesundheitswesen eine Schlüsselrolle zu. Sie leisten Enormes, und sie müssen geschützt werden.

Sie schützen sich mit Gesichtsmasken, Mundschutz, Overalls, Schutzbrillen, Hauben und Handschuhen. Alles Artikel aus Kunststoff. Aus anderen Werkstoffen lassen sich diese Artikel nicht annähernd in der erforderlichen Menge und Qualität herstellen.

Namhafte Virologen rufen dazu auf, intensiv zu testen. Eine sehr effektive Methode zur Eindämmung des Virus, die in Südkorea sehr gut funktioniert hat. Aus welchem Material lassen sich derart rasch sichere, bruchfeste und günstige Testkits herstellen? Nur aus Kunststoff. Das Gleiche gilt übrigens auch für Flaschen und Behälter für Desinfektionsmittel sowie für ganz viele weitere Produkte, die zur Prävention und zur Pflege der Corona-Patienten nötig sind, wie Spritzen, Urinflaschen oder Trinkflaschen.

Plastik schützt aber nicht nur im Gesundheitswesen. Es hilft auch uns, im Alltag beim Einkaufen das Ansteckungsrisiko zu vermindern. Wir haben gelernt, dass das Virus bis zu einigen Tagen auf Oberflächen überlebt. Mit einer Verpackung verhindern wir, dass sich das Coronavirus auf dem Lebensmittel festsetzt. Die Schutzfunktion der Verpackung erlebt eine Renaissance. Lieber ein paar Gramm Abfall als das Risiko einer Ansteckung mit allen verheerenden Folgen.

So zeigt der verschmähte Werkstoff Plastik in dieser Pandemie seine Qualitäten und seine Wichtigkeit. Es geht nicht ohne. Wir werden wohl nach der Corona-Krise vieles anders anschauen. Dazu wird auch die Einstellung zu Kunststoff gehören.

Was bleiben wird, ist die unbedingte Notwendigkeit, den Eintrag von Abfällen in die Umwelt zu verhindern. Die Kreislaufwirtschaft wird auch nach der Krise der einzig richtige Weg bleiben.

Patrick Semadeni ist seit 2002 Geschäftsführer der Semadeni Plastics Group in Ostermundigen BE.

Solidarität – nicht nur heute

Manuel Flury
16.04.2020

Ein Schweizer Solidaritätsfonds sollte laut Manuel Flury helfen, die Corona-Folgen in ärmeren Ländern abzumildern. Als ehemaliger Mitarbeiter der DEZA-Direktion ist er überzeugt, dies wäre nur gerecht bei der Solidarität, die die Schweiz gerade erfahre.


In unserer von raschem Gewinn, Geiz und Rückzug auf das Eigene, Private und Nationale geprägten Zeit erleben wir, wie viele Menschen bereit sind, selbstlos anderen zu helfen. Das Coronavirus gefährdet unser Leben unmittelbar. Wir sind bereit, uns zum Schutz unseres Lebens stark einzuschränken und Geldmittel zu mobilisieren. Wir erahnen die Konsequenzen, wenn wir dies nicht tun.

Die Schweiz ist solidarisch. Sie kann es sich leisten. Die öffentliche Hand gibt Gelder in Milliardenhöhe frei, um Kleinstgewerbetreibende vor dem Konkurs zu bewahren. Die Schweiz erlebt aber auch Solidarität, indirekt. Tausende von Grenzgängerinnen aus Italien und Frankreich pflegen „unsere“ Kranken und wir wissen, wie viele Gesundheitsfachleute aus anderen EU-Ländern unsere Gesundheitsversorgung sichern.

Viele Menschen und Regierungen verfügen jedoch nicht über dieselben Möglichkeiten, sich zu schützen. Wie wäre es, wenn die Schweiz im Umfang der Solidarität, die sie empfängt, Länder und Menschen unterstützt, die sich diesen Schutz nicht leisten können?

Dies würde Folgendes bedeuten. Die Schweiz äufnet einen Solidaritätsfond aus öffentlichen und privaten Mittel in der Höhe des Wertes, der den Leistungen der ausländischen Gesundheitsfachleute entspricht, die uns in der Schweiz pflegen und unter Umständen dort, wo sie ausgebildet wurden, fehlen.

Mit diesem Fonds kann die Schweiz Menschen unterstützen, die vom Coronavirus oder auch anderen gesundheitlichen Risiken betroffen sind: Die Schweiz könnte Afghanistan darin unterstützen, die aus dem Iran zurückkehrenden Menschen zu betreuen und das Land vor zusätzlichen Virusinfektionen zu schützen. Mit dem Geld könnte die Schweiz mehrere Tausend auf Lesbos dem Virus schutzlos ausgelieferte Flüchtlinge aufnehmen, sie ausbilden und Rückkehrhilfe bieten. Und in der Schweiz kann der Fonds oft schlecht verdienenden alleinerziehenden Frauen mit hausexterner Kinderpflege helfen.

Bleiben wir solidarisch, über die momentane Krisenzeit hinaus!

Manuel Flury ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert, ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz.

Zeit für neue Ideen!

Corinne Grässle
15.04.2020

Die Wirtschaft muss nach der Corona-Krise resilienter und flexibler werden, schreibt Corinne Grässle von Engagement Migros. Für eine zukunftsfähige Art zu wirtschaften gibt es bereits gute Ansätze, darunter die Kreislaufwirtschaft. Dabei ist Schweizer Pioniergeist gefordert.


Die letzten Wochen haben unsere Welt durchgeschüttelt, wie schon lange nichts mehr. Heute ist klar, wie wir die Prioritäten setzen müssen: Die Gesundheit der Bevölkerung wahren und gleichzeitig Existenzen in dieser für Wirtschaft und Gesellschaft beispiellos herausfordernden Situation sichern. Auch wenn Ihr Fokus momentan verständlicherweise auf diesen Themen liegt, erlauben Sie mir trotzdem, schon jetzt einen Blick auf morgen zu werfen.

Morgen werden wir uns mit der Frage des Wiederaufbaus unserer Wirtschaft beschäftigen, wobei „Wiederaufbau“ eigentlich keine gute Wortwahl ist. Denn die alte Normalität liegt in der Vergangenheit. Eine Rückkehr ist kaum möglich, zu viel hat sich verändert. So unangenehm diese Erkenntnis auch ist, bietet sie doch die Chance, Dinge neu zu denken. Lassen Sie uns also nicht vergeblich versuchen, zur alten Normalität zurückzukehren, sondern uns stattdessen auf den Weg hin zu einer neuen Normalität zu machen – einer zukunftsfähigen Art zu wirtschaften, die uns resilienter macht gegenüber Krisen, unabhängiger von knapp werdenden Rohstoffen und flexibler im Umgang mit sich rasch verändernden Ausgangslagen.

Die gute Nachricht? Wir verfügen über beste Voraussetzungen dafür. Erfolgsversprechende Ansätze und Elemente sind eigentlich bereits bekannt – so etwa neue Arten der Zusammenarbeit, effiziente Produktionsweisen, erneuerbare Energiequellen oder auch die Kreislaufwirtschaft. Gerade letztere bietet viele Ansatzpunkte für zukunftsfähige Geschäftsmodelle. Zirkuläre Wertschöpfungsketten machen uns unabhängiger von knapper werdenden Rohstoffen und Importen und fördern dafür lokale Zusammenarbeit – ein unschätzbarer Vorteil, gerade in einer Krisensituation. Auf solche Konzepte müssen wir setzen, sie ausbauen und weiterentwickeln.

Die richtigen Konzepte zu kennen, reicht allerdings noch nicht - man braucht dazu gut ausgebildete Leute und den Mut, den Wandel anzugehen. Auch hier sind wir gut aufgestellt. Ein massgeblicher Erfolgsfaktor dieses Landes ist schliesslich seit jeher unser Pioniergeist. Wenn wir all diese Vorraussetzungen nutzen, bin ich zuversichtlich, dass die Schweizer Wirtschaft mit neuer Innovationskraft aus dieser Krise findet. Packen wir also die Zukunft an!

Corinne Grässle ist Projektleiterin Kreislaufwirtschaft bei Engagement Migros. Der Förderfonds der Migros-Gruppe ist Mitgründer von Circular Economy Switzerland, der Bewegung für eine Kreislaufwirtschaft in der Schweiz.

Corona: Das können Städte, Gemeinden und Pensionskassen tun

Daniel Wiener
15.04.2020

Aus der Corona-Krise kann laut Daniel Wiener mit Weitsicht eine zukunftsorientierte Wirtschaft hervorgehen. Der Mitgründer der Denkfabrik ecos sieht dabei eine Chance für Städte und Gemeinden, die Weichen im Sinne der Kreislaufwirtschaft zu stellen.


Die Corona-Krise führt uns die Abhängigkeit der Schweiz von globalen Waren- und Finanzmärkten vor Augen. Die internationale Arbeitsteilung führt zu Lieferengpässen bei lebens- und gar bei überlebenswichtigen Gütern. Um den ökonomischen Schaden des erzwungenen Stillstands im öffentlichen Leben zu mildern, stehen jetzt wirtschaftliche Notmassnahmen, insbesondere des Bundes, im Vordergrund. Doch die Wirtschaft wird nach Corona – sobald sie sich wieder erholt – nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Weil sich die Gesellschaft zurzeit unentrinnbar auf den Wert lokaler Produktion und Nachfrage zurückbesinnt, wird auch die entsprechende Zahlungsbereitschaft wachsen. In der Folge werden sich auch das Gewerbe und der Handel noch stärker und nachhaltiger auf die lokalen Beschaffungs- und Absatzmärkte ausrichten.

Um bei diesem Wandel unser Wohlstandsniveau zu halten, spielt die Kreislaufwirtschaft eine Schlüsselrolle. Sie erlaubt es uns, mit Rohstoffen, auch solchen, die wir importieren müssen, sorgsam umzugehen. Zum Beispiel können seltene Erden, die wir mit alten elektronischen Geräten heute noch entsorgen, wiedergewonnen und in neuen Produkten weiterverwendet werden. Aber auch ganz einfache Kreisläufe wie jene der organischen Haushalts- und Gewerbeabfälle, die wir heute teilweise noch achtlos zur Wärmegewinnung verbrennen, werden in Zukunft über die Herstellung von Kompost geschlossen.

Neue Geschäftsmodelle sind gefragt, die gleich hinter der Corona-Nothilfe dem Aufbau einer neuen, resilienteren Volkswirtschaft dienen. Das ist der Punkt, an dem sich Städte und Gemeinden heute engagieren sollten. Sie wissen um die Hebel, die ihrem lokalen Gewerbe helfen können, Kreisläufe zu schliessen. Die Städte und Gemeinden sind in der Lage, aufgrund von Analysen ihrer Stoffflüsse die wirkungsvollsten Mittel und Wege zu identifizieren, um auf den Pfad der Kreislaufwirtschaft einzuschwenken, beispielsweise mit einem Masterplan Kreislaufwirtschaft. Dieser sollte aber nicht nur Strukturen analysieren und Strategien definieren, sondern von Anfang an auch konkrete, bestehende und neue Geschäftsmodelle des Gewerbes und der Logistik für die Kreislaufwirtschaft identifizieren und fördern.

Zugleich sind Pensionskassen gefordert, ihre Investitionen nicht nur stärker auf Unternehmen und Projekte der Kreislaufwirtschaft auszurichten, sondern Start-ups, die in diesem Bereich tätig sind, mit Risikokapital eine Chance zu geben, in der Schweiz zu bleiben. Es wird ein globaler Wettbewerb um diese Arbeitsplätze der Zukunft entbrennen, und nur ein starker Finanzierungsschub kann die Schweiz als Cleantech-Hub positionieren.

Diese öffentlichen Fördermassnahmen und institutionellen Investitionen tragen gemeinsam dazu bei, direkt anschliessend an die Nothilfe, eine zukunftsorientierte Wirtschaft aus der Corona-Asche auferstehen zu lassen. Aufgrund eines Masterplans Kreislaufwirtschaft können in allen anderen übergeordneten Planungen Schlüsse gezogen werden, um öffentliche Mittel – seien es Gelder oder gesetzliche Fördermassnahmen – noch effizienter für eine Neupositionierung des Gewerbes einzusetzen. Mit der gezielten Förderung von Jungunternehmen im Bereich Kreislaufwirtschaft können daraus produktive Arbeitsplätze entstehen.

Das Ziel muss sein, die Lehren aus der Corona-Krise konkret umzusetzen, indem die lokale Wirtschaft dank geschlossenen Kreisläufen zur Resilienz gegen zukünftige Engpässe einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Zugleich wird damit der Umwelt- und Ressourcenschutz gestärkt. So können Städte und Gemeinden die Abhängigkeit ihrer Wirtschaft von internationalen Waren- und Finanzmärkten lockern, die Umwelt wirksam entlasten und die Folgen zukünftiger Krisen für ihre Bevölkerung und das Gewerbe mindern helfen.

Daniel Wiener ist Präsident des Beratungsunternehmens ecos in Basel und der Global Infrastructure Basel Foundation. Letztere setzt sich für die Schaffung nachhaltiger Infrastrukturen in Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern ein.

Die Schweiz braucht mehr Debatte

Steffen Klatt
14.04.2020

Die Massnahmen gegen die Corona-Pandemie haben nicht nur die Wirtschaft ausgebremst. Sie stellen auch das politische System auf den Prüfstand, schreibt Steffen Klatt. Es braucht dazu mehr Debatte, und zwar über den kleinen Kreis der bisherigen politischen Elite hinaus.


Die Schweiz erlebt eine Premiere: Noch nie seit der Gründung der modernen Eidgenossenschaft wurden Grundrechte in Friedenszeiten so sehr eingeschränkt wie jetzt. Ob Versammlungsfreiheit und die mit ihr verbundene Religionsfreiheit oder die Freizügigkeit – sie wurden innerhalb weniger Tage aufgehoben. Auch die direkte Demokratie, auf welche die Schweiz zu recht so stolz ist, wurde suspendiert. Selbst das Parlament wurde ausgebremst: Die Bundesversammlung kann zwar über das gewaltige Hilfspaket von 60 Milliarden Franken debattieren, nicht aber über die faktische Aussetzung der Grundrechte.

Selbst wenn der Bundesrat völlig richtig gehandelt hat und unter den gegebenen Umständen gar nicht anders entscheiden konnte: Es braucht nach dem Ende dieser Corona-Krise eine Manöverkritik. Dabei muss über Fragen gesprochen werden wie:

War es richtig, dass die demokratische Schweiz mit dem „Lockdown“ ein Rezept des autoritären Chinas praktisch unbesehen übernommen hat? Ist es richtig, dass der Bundesrat auf dem Verordnungsweg Grundrechte der Verfassung aufheben kann? Wie kann der Missbrauch dieser Notstandsrechte durch allfällige Möchtegern-Autokraten verhindert werden?

Dabei geht es auch um Art und Weise, wie debattiert wird. Die tatsächliche Debatte in der Schweiz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten verengt, auch aufgrund der zunehmenden Konzentration der Medien. Ob Arena-Debatten im SRF oder Interviews und Meinungsbeiträge in den Zeitungen: Immer sind es nur wenige Köpfe, die reden dürfen oder zitiert werden.

Doch wenn die Corona-Krise eines gezeigt hat: Die Schweiz steht diese Krise nur dank des Engagements der Vielen durch. Ob in Unternehmen, Hochschulen, Vereinen, Netzwerken oder in lokalen Hilfsangeboten – hunderttausende Menschen haben in diesen Wochen einen Frühling der Ideen, neuer Lösungen und der Solidarität möglich gemacht.

Wer in diesen Wochen mit seinen Ideen, seinen Lösungen, seiner Solidarität dazu beigetragen hat, dass die Schweiz diese Krise durchstehen kann, der soll sich auch an der Debatte darüber beteiligen können, wie das Land nach dieser Krise aussehen soll. Dafür braucht es vermutlich auch neue Gefässe jenseits der SRG und der wenigen verbliebenen Zeitungen.

Steffen Klatt ist Geschäftsführer der Nachrichtenagentur Café Europe, die auch die Plattform punkt4.info betreibt. 2018 ist im Verlag Zytglogge sein Buch „Blind im Wandel. Ein Nationalstaat in der Sackgasse“ erschienen.