Regierungen schreiben die Wettbewerbsregeln neu. Damit treiben sie eine neue Phase der Globalisierung voran, schreiben Simon J. Evenett vom IMD und Fernando Martín Espejou vom Global Trade Alert. Die Forscher präsentieren aktuelle Daten, wonach Industriepolitik zu einem prägenden Merkmal der Weltwirtschaft wird.
(CONNECT) Über Jahrzehnte folgte die Globalisierung einer einfachen Logik: Regierungen haben den Rahmen geschaffen und Unternehmen standen miteinander in Konkurrenz. Das ist nicht mehr der Fall. In den vergangenen Jahren sind Staaten von der Seitenlinie ins Zentrum des wirtschaftlichen Wettbewerbs gerückt. Von Washington bis Brüssel, von Peking bis Seoul investieren politische Entscheidungstragende massiv in Schlüsselbranchen, schützen heimische Unternehmen und gestalten die Regeln der globalen Wirtschaft neu.
Dieser Wandel ist kein Einzelfall; er ist tiefgreifend. Das zeigt eine von uns gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds durchgeführte Analyse von mehr als 34’000 politischen Interventionen in 75 Volkswirtschaften seit 2009 zeigt.
Seit 2020, inmitten pandemiebedingter Schocks, Lieferkettenstörungen und zunehmender geopolitischer Spannungen, hat sich die jährliche Zahl neuer industriepolitischer Interventionen nahezu verdoppelt. Angeführt wird dieser Trend von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, China, Japan und Korea. Dieser Zeitraum markiert einen klaren Wendepunkt in der Art und Weise, wie Regierungen in Märkte eingreifen. Industriepolitik, einst auf Wettbewerbsfähigkeit und grünes Wachstum ausgerichtet, wird heute zunehmend von Resilienz, Sicherheit und Geopolitik geprägt.
Somit zeichnet sich eine neue Phase ab: eine stärker sicherheitsgetriebene und bisweilen defensive Nutzung der Industriepolitik. Unternehmen, die grenzüberschreitend tätig sind, müssen verstehen, wie Regierungen die Spielregeln neu schreiben.
Die neue Logik der Industriepolitik: Von Wachstum zu Sicherheit
Vor 2020 folgten die meisten industriepolitischen Massnahmen einer vertrauten Logik. Regierungen setzten Steuererleichterungen, Subventionen oder Forschungszuschüsse ein, um ihre Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger zu machen. Die Ziele waren klar: Arbeitsplätze schaffen, Innovation fördern und den grünen Wandel beschleunigen.
Diese Logik hat sich verändert. Unsere Analyse zeigt, dass sich seit 2020 die Motive der Industriepolitik stark verschoben haben. Heute konzentrieren sich Regierungen weniger auf Produktivität und deutlich stärker auf Versorgungssicherheit und die Kontrolle bestimmter Unternehmensgeschäfte sowie Investitionen. Industriepolitik ist zum bevorzugten Instrument zur Steuerung geopolitischer Risiken geworden.
Besonders deutlich wird dies in Sektoren, die an der Schnittstelle von Technologie und nationaler Sicherheit liegen. Halbleiter, Batterien, kritische Mineralien und saubere Energie erhalten nun den Löwenanteil der staatlichen Unterstützung. Fiskalische Anreize, einschliesslich Subventionen, Zuschüsse und öffentliche Aufträge, machen inzwischen mehr als zwei Drittel der neuen Interventionen aus und verdrängen Zölle und Handelsmassnahmen als dominierende Instrumente der Industriepolitik.
Das markiert eine Verschiebung der interventionistischen Logik von Marktbereinigung hin zur Markterschaffung. Regierungen beheben nicht länger vermeintliche Fehler in privaten Märkten; sie streben danach, den Zugang zu kritischen Rohstoffen, Komponenten und Technologien zu sichern. Die marktgetriebene Logik der Globalisierung weicht einer defensiven, strategischen Logik. Ein wichtiges Ziel ist dabei, die eigene Verwundbarkeit zu reduzieren.
Eine globale Kettenreaktion setzt sich in Gang
Industriepolitik ist längst kein rein nationales Thema mehr. Was eine Regierung unternimmt, beeinflusst zunehmend, wie andere reagieren. Unsere Analyse zeigt deutliche Hinweise auf diesen Ansteckungseffekt.
Wenn grosse Volkswirtschaften die Unterstützung für ein bestimmtes Produkt ausweiten, reagieren andere mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls. Es mag als Versuch beginnen, „die Spielbedingungen auszugleichen“, doch schnell wird es zu einem Wettlauf, das Ausmass und die Reichweite ausländischer Initiativen zu erreichen. Zwischen 2020 und 2023 führten mehr als 50 Volkswirtschaften neue industriepolitische Pakete ein – ein klarer Beleg dafür, wie schnell sich dieser Ansteckungseffekt verbreitet hat.
Das Ergebnis ist eine politische Spirale, die die Grenze zwischen Industriepolitik und Industrieschutz verwischt. Diese Reaktionen sind im Gegenzug besonders deutlich im Bereich sauberer Technologien und Halbleiter sichtbar.
Diese Rückkopplungsschleife droht, sich selbst zu verstärken. Regierungen rechtfertigen neue Unterstützungsmassnahmen als „defensiv“: eine Reaktion auf das, was andere bereits unternommen haben. Wenn jedoch alle defensiv agieren, wird eine Eskalation unvermeidlich.
Für Unternehmen entstehen daraus sowohl Chancen als auch Unsicherheiten. Firmen, die staatliche Unterstützung erhalten, können schneller wachsen als je zuvor. Wer jedoch ausserhalb dieser neuen Industrie-Allianzen steht, sieht sich einem stärker fragmentierten und politisierten Markt gegenüber. In diesem hängt der Zugang ebenso sehr von politischer Ausrichtung wie von Wettbewerbsfähigkeit ab.
Das Konvergenz-Paradoxon: Unterschiedliche Motive, ähnliche Mittel
Eine der auffälligsten Erkenntnisse aus unseren Daten ist, wie stark die Konvergenz zwischen einkommensstarken und aufstrebenden Volkswirtschaften vorangeschritten ist. Die traditionelle Darstellung, wonach reiche Länder liberalisieren und Entwicklungsländer intervenieren, gilt nicht mehr.
Wohlhabende Volkswirtschaften setzen Subventionen ein, bestehen auf lokaler Verankerung von Unternehmen und zielgerichteteren Beschaffungen. Währenddessen haben aufstrebende Volkswirtschaften ihren Einsatz von Subventionen erhöht und ihren Politikkatalog angepasst.
Konvergenz bedeutet jedoch nicht Uniformität. Dasselbe Instrument – Subvention, Steueranreiz, Beschaffungsvorgang – kann sehr unterschiedlichen Zwecken dienen. Wohlhabende Länder nutzen sie tendenziell, um strategische Wertschöpfungsketten zurückzuholen, während aufstrebende Märkte damit genau diese Investitionen anziehen wollen. Die Symmetrie ist auffällig, auch wenn die Beweggründe stark divergieren.
Faktisch ist Industriepolitik zu einer gemeinsamen Sprache der globalen Wirtschaft geworden, jedoch nicht zu einer gemeinsamen Grammatik. Jedes Land definiert „strategisch“ anders, doch fast alle erweitern die Rolle des Staates bei der Marktgestaltung. Diese wachsende Konvergenz erschwert die Koordination: die Unterscheidung zwischen fairer und unfairer Unterstützung wird schwieriger, und das Risiko von Handelskonflikten steigt.
Produktionspolitik: Wer gewinnt wo?
Industriepolitik ist längst keine unauffällige technokratische Angelegenheit mehr – sie ist heute untrennbar mit Schlagzeilenpolitik verbunden. Regierungen treffen Entscheidungen darüber, wo die Produktion stattfinden, wer davon profitieren soll und wie diese Vorteile verteilt werden.
Dieser Wandel hat weitreichende Folgen. Staatliche Unterstützung ist häufig an lokale Inhalte, lokale Beschaffung und lokale Beschäftigungsbedingungen geknüpft. Für multinationale Unternehmen können diese Anforderungen Investitionsentscheidungen und die Gestaltung von Lieferketten beeinflussen. Kurz gesagt: Industriepolitik ist nicht länger das Hintergrundrauschen der Globalisierung; sie ist der Soundtrack.
Die neue Phase der Globalisierung wird von der Politik vorangetrieben – nicht von den Märkten
Was wir beobachten, ist nicht das Ende der Globalisierung, sondern ihre Transformation. Die Weltwirtschaft wird um strategische Prioritäten herum neu organisiert, nicht allein um Effizienz.
Handelsströme passen sich an neue Bruchlinien an; Investitionen konzentrieren sich dort, wo Regierungen Vorhersehbarkeit und Zielorientierung bieten. Grenzüberschreitendes Geschäft ist weiterhin möglich, erfordert nun jedoch politische Kompetenz.
In diesem Umfeld findet Wettbewerb nicht mehr nur zwischen Unternehmen statt, sondern zwischen politischen Regimen. Diese Realität erfordert ein Umdenken sowohl in der Unternehmensstrategie als auch in der Risikobereitschaft.
Die Quintessenz ...
Industriepolitik ist zu einem der prägendsten Merkmale der heutigen globalen Wirtschaft geworden. Die Daten lassen kaum Zweifel daran, dass das Jahr 2020 einen strukturellen Bruch markierte, einen Wendepunkt in der Art und Weise, wie Staaten in Märkte eingreifen. Die Wiederkehr staatlicher Aktivität ist keine vorübergehende Reaktion auf die COVID-19-Pandemie, sondern eine strukturelle Neuausrichtung, wie Volkswirtschaften Wachstum und Sicherheit gleichzeitig verfolgen.
Für politische Entscheidungstragende wird die Herausforderung darin bestehen, Resilienz und Effizienz auszubalancieren und zu verhindern, dass Sicherheitsmassnahmen in Handelskriege münden. Für Unternehmen besteht die Herausforderung darin, sich rasch an eine Welt anzupassen, in der Regierungen nicht nur Regulierer, sondern selbst Marktgestalter und Wettbewerber sind.
Globalisierung verschwindet nicht. Sie wird neu geschrieben – eine politische Intervention nach der anderen.
Simon J. Evenettist Professor für Geopolitik und Strategie amIMDund Experte für Handel, Investitionen und globale Wirtschaftsdynamiken. Mit fast 30 Jahren Erfahrung berät er Führungskräfte und begleitet Studierende. 2023 wurde er zum Co-Chair desGlobal Future Council on Trade and InvestmentdesWorld Economic Forumsernannt. Evenett hat die InitiativeSt. Gallen Endowment for Prosperity Through Tradegegründet, die Initiativen wie denGlobal Trade Alertund denDigital Policy Alertbetreut. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Handelspolitik, geopolitischer Rivalität und Industriepolitik. In der Vergangenheit hatte hatte akademische Positionen an derUniversität St. Gallen, derUniversity of Oxfordund derJohns Hopkins Universityinne.
Fernando Martín Espejoleitet die Analytics Unit bei der InitiativeGlobal Trade Alert, die ein Monitoring-Portal in Bezug auf die internationale Handelspolitik pflegt. Seine Arbeit konzentriert sich auf Handels- und Industriepolitik mit besonderem Fokus auf Geopolitik und Geoökonomie. Er hat in Wirtschaftswissenschaften an derKU Leuvenpromoviert und Europäische Politische Ökonomie an derLondon School of Economics and Political Sciencestudiert.
Dieser Text ist zuerst überIMD-Kanäle erschienen.
